Antisemitisch? Wir doch nicht!

von Lothar Galow-Bergemann

erschienen in DIG-Magazin, Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Nr.1/2013

Kennen Sie einen Antisemiten? Ich nicht. Ich kenne nur Leute, die alles mögliche sind, aber eines auf gar keinen Fall: antisemitisch. Das ist in Deutschland seit dem 9. Mai 1945 Standard. Komisch nur, dass sehr viele Deutsche ausgerechnet vom jüdischen Staat wie besessen sind. Sobald sich Israel gegen Terror wehrt, ist es oft nicht weit her mit vernünftigen Reaktionen. Schweigen wir von Nazis, Islamisten und Stalinisten, reden wir lieber von der politisch korrekten Studienrätin und dem friedensbewegten Architekten, die beide an jedem 27. Januar und an jedem 9. November „Nie wieder!“ schwören. Anständige, intelligente Leute aus der Mitte der Gesellschaft. Da es in Deutschland bekanntlich vor lauter Freunden Israels nur so wimmelt – man denke nur an Günter Grass – gehören auch diese beiden selbstverständlich dazu. Doch ebenso wie ihren Lieblingsdichter und -denker quälen sie furchtbare Sorgen. Denn was auch immer im Nahen Osten passiert und wie auch immer sie die Dinge drehen und wenden: Am Ende kommen sie unweigerlich zu dem Schluss, dass Israel dummerweise mal wieder alles falsch gemacht hat. Und deswegen können sie diesem Land leider, leider den Vorwurf nicht ersparen, irgendwie doch selber an seiner Lage schuld zu sein.

Nun mangelt es nicht an Tatsachen, die die Studienrätin und den Architekten eigentlich zum Nachdenken bringen könnten. So ist es z.B. kein Geheimnis, dass es noch nie in der Geschichte einen palästinensischen Staat gab und dass die Araber mit Jordanien bereits seit einem knappen Jahrhundert über 80 Prozent des ehemaligen britischen Mandatsgebiets Palästina verfügen. Auch dass es auf den verbliebenen 20 Prozent zusätzlich bereits seit 1948 einen palästinensischen Staat geben könnte und es ist nicht die Schuld Israels ist, dass es ihn nicht gibt, könnten die Studienrätin und der Architekt wissen. Ebenso, dass sich Hamas, Islamischer Djihad und Co der Taktik der menschlichen Schutzschilde bedienen. Auch könnten sie sich die Frage stellen, warum eigentlich bis heute über 12.000 Raketen aus Gaza auf Israel abgefeuert wurden, obwohl sich Israel doch seit nunmehr sieben Jahren von dort zurückgezogen hat und einen Herzenswunsch islamistischer Terroristen und deutscher Friedensbewegter erfüllte – es hat nämlich sämtliche jüdischen Siedlungen aufgelöst. Oder sie könnten in der Charta der Hamas nachlesen, dass die Juden an allem Unglück in der Welt schuld sind: am ersten Weltkrieg, am zweiten Weltkrieg, am Kapitalismus, am Kommunismus und, was das allerschlimmste zu sein scheint, auch an der Emanzipation der Frau. Und dass die Juden getötet werden müssen. Die Studienrätin und der Architekt könnten auch zur Kenntnis nehmen, dass die Führer des Iran ein komplett antisemitisches Weltbild haben – inklusive eingebildeter Weltherrschaftsverschwörung der Juden. Und dass die Machthaber in Teheran deswegen den jüdischen Staat ausradieren wollen.

Zwar haben die politisch korrekte Studienrätin und der friedensbewegte Architekt von alledem schon einmal gehört, schließlich sind sie ja gebildete Leute. Aber so richtig darüber aufregen können sie sich nicht. So ernst sei das doch alles nicht zu nehmen, meinen sie, das sei „doch alles nur Rhetorik“. Will man die beiden aber so richtig aufgewühlt erleben, so muss man nur abwarten, bis sich Israel wieder einmal gegen den antisemitisch motivierten Terror wehrt. Dann beginnt das Herz der Studienrätin so richtig zu klopfen, das Blut des Architekten gerät in Wallung und sie müssen jetzt aber unbedingt und sofort einen Leserbrief schreiben und ihren Kollegen und Nachbarn mitteilen, wie schlimm es Israel mal wieder treibt.

Wie kann das sein? Die beiden sind doch nicht dumm. Und, wie gesagt, das „Nie wieder!“- Sagen haben sie auch gelernt. Sie sind – anders als ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern – auch keine Nazis. Nun gut – sie wären es heute vielleicht, wenn die Alliierten nicht damals, als die Studienrätin und der Architekt noch nicht geboren waren, mit Holocaust und Nationalsozialismus Schluss gemacht hätten. Ganz gegen den Willen ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern übrigens. Damals, als Plakate an den Litfaßsäulen hingen, auf denen ein ausgestreckter Finger anklagend auf einen Juden mit dem Davidsstern zeigte. Darunter war zu lesen: „Der ist schuld am Kriege“. Denn die Vorfahren der Studienrätin und des Architekten haben Auschwitz tatsächlich damit begründet, dass die Juden ja „uns“ vernichten wollten. Es ist ein Merkmal des Antisemiten, dass er in irrer Umkehrung der Realität den Juden das unterstellt, was ihnen droht. Nichts anderes aber tat der Lieblingsdichter und -denker der Studienrätin und des Architekten, als er behauptete, Israel gefährde den Weltfrieden und wolle „allesvernichtende Sprengköpfe“ in den Iran lenken. Täuschen wir uns nicht: Ein sehr großer Teil der Bevölkerung teilt das verzerrte Weltbild von Günter Grass und Jakob Augstein. Natürlich hat heute niemand mehr was gegen „die Juden“. Zumindest die gebildeten Leute nicht. Aber es fällt auf: Die anti-semitischen Großeltern wollten die Bedrohung der Juden nicht wahrhaben, bedrohten sie stattdessen selber und unterstellten „dem Juden“, er sei gierig und bösartig und beherrsche und bedrohe, obwohl zahlenmäßig so klein, die ganze Welt. Die anti-zionistischen Enkel verhalten sich gegenüber dem jüdischen Staat ganz genauso. Der moderne Antisemitismus tritt vorwiegend in Form des Antizionismus auf.

Warum glauben zwei Drittel aller Deutschen, dass der jüdische Staat den Weltfrieden gefährde? Dass Israel dasselbe mit den Palästinensern mache, was „die Nazis“ mit den Juden gemacht haben? Wer auch immer diese ominösen Nazis eigentlich waren, die Deutschen waren es scheinbar nicht. Warum glaubt man in Deutschland so gerne und allen Ernstes, dass sich der antisemitische Terror schon in Luft auflösen würde, wenn in jüdischen Siedlungen keine Häuser mehr errichtet und keine Dachgauben mehr ausgebaut werden? Ja, warum glauben so viele Deutsche eigentlich, dass ausgerechnet eine judenfreie Westbank der Schlüssel zum Frieden sei? Weil die Vorstellung, dass Israel irgendwie selber schuld sei an seinen Problemen, verbunden mit der – meistens nicht offen ausgesprochenen – Ansicht, es sei doch irgendwie besser für die Welt, wenn es diesen jüdischen Staat nicht mehr gäbe, einen Kunstgriff des eigenen Unbewussten ermöglicht: Man bewahrt zwar antisemitische Denkmuster, ist sich dessen aber nicht bewusst und kann durchaus ehrlichen Gewissens erklären, man habe nichts mit Antisemitismus am Hut. Deswegen gibt es in Deutschland so viele Leute, die vor Ressentiment gegenüber dem jüdischen Staat fast platzen und ihm die haarsträubendsten Dinge unterstellen, während sie gleichzeitig immer wieder geradezu zwanghaft erklären müssen, sie seien aber keine Antisemiten.

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