Emanzipation und Mehrheitsentscheid – eine Kritik demokratischer Herrschaft

Von Jonas Bayer

Der moderne Staat rechtfertigt sich primär durch seinen demokratischen Charakter. Die Entscheidungen des Souveräns, heißt es, seien legitimiert, weil sie im Namen der Mehrheit getroffen würden. In dieser Arbeit wird zunächst herausgearbeitet, welche grundsätzlichen Voraussetzungen eine Zusammenkunft von Individuen erfüllen muss, damit von ihr gefällte Mehrheitsentscheidungen überhaupt Bestand haben. Dann wird der moderne Staat hinsichtlich dieser Voraussetzungen betrachtet, wobei sich zeigt, dass er sie – als Nationalstaat – überhaupt nicht zu erfüllen vermag. Dieses Ergebnis ist wenig überraschend, denn sonst benötigte er kein Gewaltmonopol, um der sich durch ihn artikulierenden demokratischen Herrschaft Geltung zu verschaffen. Demokratische Entscheidungen, die im Rahmen eines Nationalstaats gefällt werden, sind also null und nichtig, bloße Gewalt, durchgesetzt durch die Androhung weiterer Gewalt. Dennoch ist, das zeigt insbesondere der Krieg der Alliierten gegen die Achsenmächte, nationalstaatliches Handeln keineswegs gleichermaßen zu verurteilen. Zu dessen Bewertung wird folglich ein von der Meinung der Mehrheit unter den eigenen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern unabhängiges Kriterium benötigt. Als solches kann die Emanzipation dienen, also inwiefern ein Nationalstaat mit einer bestimmten Politik die Freiheit des Individuums, seine Fähigkeit zu kritischem Denken und seine Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben fördert oder beschädigt.

Emanzipation und Mehrheitsentscheid – eine Kritik demokratischer Herrschaft

Die Affirmation der Demokratie gehört heute nicht nur zu den Grundüberzeugungen über alle Fraktionen des staatstragenden politischen Lagers hinweg, sondern konstituiert es als Ganzes. Ob ein Standpunkt noch diskutabel erscheint oder aber ins Visier der wehrhaften Demokratie gerät, entscheidet sich weit weniger an seinen „Tendenzen zur realen Humanität“ (Adorno/Horkheimer 2013: S. IX), als an seiner Haltung zu eben jener, und nur die Liberalsten der Liberalen hat die Furcht vor dem Zugriff der Mehrheit auf das eigene Portemonnaie dazu bewogen, den demokratischen Konsens aufzukündigen (vgl. Huemer 2013: S. 59-60). In einer politischen Landschaft, die üblicher Weise entlang der Pole demokratisch vs. extremistisch beschrieben wird, gilt notwendig als verdächtig, wer sich dem Schwur auf die Demokratie verweigert. Verdächtig ist daher auch diese Arbeit, denn sie, der Verteidigung der letzten „Residuen von Freiheit“ (Adorno/Horkheimer ebd.: S. IX) im schlechten Bestehenden nicht weniger verpflichtet als der Hoffnung auf dessen Aufhebung, spricht der demokratisch legitimierten Herrschaft des modernen Nationalstaats eben diese Legitimität ab, bestreitet also radikal das Recht der Mehrheit unter dem Staatsvolk, ihren Willen in Wahlen kundzutun und von einer Regierung exekutieren zu lassen, wie es heute allerorts in demokratischen politischen Systemen geschieht. Die im Folgenden formulierte Kritik zielt grundsätzlich auf Demokratie, die im nationalstaatlichen Rahmen stattfindet, hängt also nicht von den jeweils angewendeten demokratischen Verfahrensweisen oder den jeweils gewährten liberalen Abwehrrechten ab und kann daher auch nicht durch eine Veränderung in diesen Bereichen entkräftet werden.

Huermers Demokratiekritik und die Irrelevanz formaler demokratischer Prozesse

Der libertäre Demokratiekritiker Michael Huemer (ebd.) beginnt seine Kritik des “[n]aive majoritarianism” (S. 59) mit einem Gedankenexperiment, in dem eine Trinkgesellschaft ein einzelnes Mitglied aus ihrer Mitte demokratisch, d.h. per Mehrheitsentscheid dazu zu nötigen trachtet, die Rechnungen aller zu bezahlen (vgl. S. 59). Seine Schlussfolgerung:

“Majority will alone does not generate an entitlement to coerce the minority, nor does it generate an obligation of compliance on the part of the minority.” (S. 59-60)

Danach zeigt Huemer, dass die nur demokratisch – also gar nicht – legitimierte Entscheidung auch durch einen ihr vorausgehenden deliberativen Prozess nicht legitimer würde (S. 60-65). Ich möchte einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass überhaupt kein formaler demokratischer Prozess, wie immer er auch ausgestaltet sei, die Mehrheitsentscheidung in diesem Fall legitimieren könnte. In der Natur der Sache liegend ist es unmöglich, dieses für alle denkbaren Prozesse zu zeigen, denn derer gibt es endlos viele – es scheint aber auch gar nicht notwendig. Dem Individuum nämlich, dem das Kollektiv mit einer unberechtigten Forderung gegenübertritt, kann prinzipiell gleichgültig sein, ob dieses zuvor deliberiert, diskutiert, eine Verfassung geschrieben oder ein Parlament gewählt hat. Nicht die Methode der Entscheidungsfindung, die die Mehrheit anwendet, ist entscheidend, sondern ihr Verhältnis zum Individuum, das mit den Konsequenzen leben muss. Was genau aber kennzeichnet die dieser Arbeit illegitim geltende demokratische Herrschaft, für die Huemers Gedankenexperiment nur ein plakatives Beispiel liefert? Ebenso wenig wie der formale demokratische Prozess kann für ihre qualitative Bestimmung relevant sein, welche Rechte das jener unterliegende Individuum genießt, weil dessen rechtlicher Schutz gegenüber der Herrschaft stets nur graduell ihre Folgen abzumildern, nicht aber an ihrem Wesen zu rütteln vermag. Zugleich festigt das bürgerliche Recht, indem es sie verschleiert, die Herrschaft selbst (vgl. Marcuse 1965). Im Folgenden werde ich drei Bedingungen für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen anbieten, an Hand derer sich demokratische Herrschaft – grundsätzlich – negativ bestimmen lässt. Um solche nämlich handelt es sich, sobald eine der Bedingungen verletzt wird.

Legitime Mehrheitsentscheidung und illegitime demokratische Herrschaft

Im schlechten Bestehenden sind die Menschen freier als je zuvor. Eingeschränkt noch durch die Zwänge zu Staatsloyalität und ökonomischer Reproduktion, darf das bürgerliche Subjekt alles, außer gegen das durch den Souverän garantierte Recht zu verstoßen, während zugleich die Stellung in der Waren produzierenden Gesellschaft die Grenzen weist und die Lebensbedingungen diktiert (vgl. »…ums Ganze!« 2009: S. 27). In solchem Stande falscher Freiheit zeigt sich, wann der Mehrheitsentscheid zwecks Entscheidungsfindung nur sachdienlich ist und wann er sich als Element demokratischer Herrschaft (1) ins allgemeine Unrecht einfügt. Gehen wir nur einige Stunden in der Zeit zurück: Unsere Trinkgesellschaft schickt sich eben an, aufzubrechen, kann sich aber nicht unmittelbar auf ein Lokal einigen. Mehrere Optionen werden debattiert, die jeweiligen Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, dann kommt es zur Abstimmung, und das in ihr obsiegende Lokal wird zum Ziel der Trinkgesellschaft für diesen Abend. Aus irgend einem Grund scheint der Fall fundamental anders zu sein. Weder hätte Huemer ihn als provokantes Beispiel nutzen können, noch würde – auch nicht ganz irrelevant – in diesem Fall, anders als im zuvor genannten, der bürgerliche Rechtsstaat dem oder der Überstimmten zu Hilfe eilen. Der Unterschied liegt darin, dass im eben geschilderte Fall anders als in Huemers Gedankenexperiment die drei Bedingungen legitimer Mehrheitsentscheidung erfüllt sind:

1. Es muss sich bei der entscheidenden Grundgesamtheit um einen „Verein freier Menschen“ (Marx 2013: S. 92) handeln, um eine freiwillige Zusammenkunft freier Individuen also, denen diese zu verlassen jeder Zeit offensteht.
2. Alle von der Mehrheitsentscheidung unmittelbar Betroffenen müssen Teil der entscheidenden Grundgesamtheit sein.
3. Die Mitglieder des Vereins müssen ein Commitment zum Zweck ihres Zusammenkommens teilen, womit dem Verein selbst zugleich die Grenzen gewiesen sind.

Diese drei Bedingungen legitimer Mehrheitsentscheidung ergeben sich aus der bürgerlichen Ordnung selbst. Wie oben ausgeführt, sind die Menschen in liberalen politischen System insofern auf eine falsche Art frei, als sie im Rahmen ihrer Staatsloyalität und ökonomischen Verwertbarkeit tun und lassen können, was sie wollen. Wird von diesem Rahmen abstrahiert, so zeigt sich bereits heute an dem, was die moderne, demokratisch legitimierte Staatsgewalt in ihrem Inneren jenseits staatlicher Autorität in der gesellschaftlichen Sphäre als legitime Mehrheitsentscheidung anerkennt, was allgemein legitime Mehrheitsentscheidung ist, d.h. was sie in der freien Gesellschaft wäre. Es ist ist der Maßstab des bürgerlich-demokratischen Nationalstaats selbst: Ein Segelverein mag, sofern alle seine Mitglieder solche freiwillig geworden sind, in Segelfragen allein und nur für seine Mitglieder demokratisch und verbindlich entscheiden. Eine Trinkgesellschaft mag, sofern niemand gezwungen wurde, ihr beizutreten, in Fragen, die das gemeinsame Trinken betreffen, für ihre Mitglieder demokratisch und verbindlich entscheiden. Jetzt wird auch klar, wo der kritische Punkt in Huemers Gedankenexperiment liegt: Die Trinkgesellschaft als solche hat schlicht keinerlei Befugnis, in Finanzfragen über ihre Mitglieder zu entscheiden, weil diese lediglich ein Commitment zum gemeinsamen Trinken teilen, nicht aber eines zum Bezahlen der Rechnungen Anderer. Sobald, wie in diesem Fall, eine der drei Bedingungen nicht erfüllt ist, schreitet der bürgerliche Staat ein. Ironischer Weise ist es eben dieser selbst, dessen Entscheidungsgewalt als die einer parlamentarischen Demokratie und als die eines Nationalstaats keine einzige der drei Bedingungen für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen zu erfüllen vermag. Der bürgerliche Staat duldet keine Gewalt gegen die Angehörigen der Nation neben seiner eigenen (vgl. »…ums Ganze!« Ebd.: S. 21) – und um nichts anderes als Gewalt, in der Herrschaft schlummernd und jeder Zeit bereit, hervorzutreten, handelt es sich bei Demokratie, wenn der Rahmen, in dem sie stattfindet, eine der Bedingungen verletzt.
Zur Nation und weshalb sie kein Verein freier Menschen ist

Das erste Kriterium, an dem sich eine legitime Mehrheitsentscheidung von illegitimer demokratischer Herrschaft scheiden lässt, fordert, dass die entscheidende Grundgesamtheit ein Verein freier Menschen sei. Im demokratischen Nationalstaat hingegen stellt diese dessen Staatsvolk. Weil das Wahlrecht Bürgerrecht ist, wird die Staatsbürgerschaft und damit die Zugehörigkeit zur Nation das entscheidende Kriterium, ihre Angehörigen – beziehungsweise jene unter ihnen, die zur Mehrheit gehören – entscheiden. Damit wird zur notwendigen Bedingung für die Legitimität von demokratischer Entscheidungsfindung im Rahmen der Nation, dass es sich bei dieser um einen Verein freier Menschen handle – tatsächlich aber könnten beide gegensätzlicher kaum sein, aus mindestens zwei Gründen. Erstens handelt es sich bei der Nation keineswegs um eine auf Freiwilligkeit basierende Zusammenkunft von Individuen, sondern um ein Zwangskollektiv:

„Die Rekrutierung der Staatsbürger erfolgt, ohne diese nach ihrem Einverständnis zu fragen – ein Skandal, der heutzutage aber als Selbstverständlichkeit durchgeht. Kaum ist man auf der Welt, noch bevor man seinen ersten Laut von sich gibt, ist man schon für das nationale und staatliche Kollektiv zwangsverpflichtet.“ (Grigat 2007: S. 254)

Darüber hinaus ist es nicht vorgesehen, diesem Zwangskollektiv zu entkommen. Richtig ist zwar, dass Migration in einem gewissen Rahmen, der proportional zum Nutzen der Arbeitskraft des jeweiligen bürgerlichen Subjekts in der „verwalteten Welt“ (Adorno/Horkheimer ebd.: S. IX) wächst, möglich ist. Weil aber die ganze Welt nationalstaatlich organisiert ist, bedeutet Migration stets nur Flucht von einem Zwangskollektiv ins nächste, vom Regen in die Taufe. Aus der nationalstaatlich organisierten Welt insgesamt auszuscheren bedeutete nur, die rohe Natur der Zivilisation vorzuziehen, unmittelbare Zwänge gegen gesellschaftlich vermittelte zu tauschen, keine Freiheit zu gewinnen, sondern die falsche Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft zu verlieren. Das Individuum mag einer bestimmten Nation den Rücken kehren und damit durchaus relativ an Freiheit gewinnen, wie es stets die Hoffnung politischer Flüchtlinge war, von der Nation allgemein emanzipieren kann es sich nicht.

Gerechtfertigt (vgl. Held 1991: S. 163) wird die demokratische Herrschaft über das Individuum mit der starken Stellung der Judikativen, die in vielen demokratischen Nationalstaaten heute schon zu konstatieren ist (vgl. Waldron 2006: S. 1354-1355), mit den Rechten, die das bürgerliche Subjekt einzuklagen berechtigt ist. Durch sie ist die Schlechtigkeit des Bestehenden allerdings nicht aufgehoben, sondern lediglich dokumentiert:

„Kommunistische Kritik kreidet der bürgerlichen Gesellschaft nicht an, daß sie bestimmte Freiheits- und Individualrechte hervorgebracht hat, sondern weist darauf hin, daß eine Gesellschaft, die solche Rechte notwendig hat, weiterhin eine gewalttätige Gesellschaft ist.“ (Grigat ebd.: S. 363)

Es gibt noch einen dritten Punkt, der, obgleich etwas anders gelagert als die ersten beiden, die Nation von einem Verein freier Menschen unterscheidet, nämlich ihr ausgesprochen limitierter Zugang. Würde es sich bei der Nation, anders als hier dargestellt, tatsächlich um einen Verein freier Menschen handeln, dann um einen ziemlich elitären: Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Diktatur fliehen, können oftmals nur beitreten, sofern sie zuvor auf der Reise ihr Leben riskieren, alle anderen nur, falls sie der Nation nützlich sind. Dieser Aspekt der Nation ist zwar – anders als die beiden zuvor genannten – kein Argument gegen die Legitimität von Herrschaft und Gewalt, die jene, denen die Gnade der Zugehörigkeit, die Staatsbürgerschaft, zuteil wurde, über- und gegeneinander ausüben. Er ist allerdings durchaus bedeutsam für das Unvermögen demokratischer Nationalstaaten, die zweite Bedingung für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen zu erfüllen.

Wir und die Anderen: Über Nation und Ausland

Diese zweite Bedingung fordert, dass alle unmittelbar von der durch Mehrheitsentscheid ermittelten Entscheidung Betroffenen zugleich auch Teil der entscheidenden Grundgesamtheit seien. Die Verletzung jener durch sämtliche demokratische Nationalstaaten ist offensichtlich. Nach ihr dürfte der Verein freier Menschen, der die Nation ohnehin nicht ist, Herrschaft, die dann keine wäre, ausschließlich über die eigenen Mitglieder ausüben. Jegliche Migrations-, Flüchtlings- oder Außenpolitik eines Nationalstaats ist daher schon allein deswegen dezidiert a priori illegitim, sie kann Legitimität nicht aus der in diesen Belangen irrelevanten Meinung der Angehörigen der Nation schöpfen, sondern einzig aus ihrem Beitrag für die politische und menschliche Emanzipation. Diese allerdings ist selten Ergebnis und noch seltener Antrieb nationalstaatlichen Handelns, wie die realistische Schule der internationalen Beziehungen unumwunden zugibt (vgl. Freyber-Inan/Harrison/James 2009: S. 106-107). Auf der anderen Seite zeigt sich nationalstaatliches Handeln, das auf die Durchsetzung der eigenen Interessen abzielt, als Recht des Stärkeren. Jegliche nationalstaatliche Handlung, die auf Abschottung gegen – gleich ob vor Krieg oder vor Armut – Fliehende, machtpolitische Gewinne zu Ungunsten anderer Nationen oder aber Vorteile in der kapitalistischen Staatenkonkurrenz zielt, ist ein bloßer Übergriff, durch nichts legitimiert als vermeintlich die Meinung einer Mehrheit unter denen, die als Angehörige der Nation nicht das geringste Recht haben, Gewalt gegen jene auszuüben, die der Nation nicht angehören. Das Völkerrecht zielt lediglich darauf, die nationalstaatlichen Übergriffe in möglichst unblutige Bahnen zu lenken. Ähnlich wie schon die Abwehrrechte des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft hebt jenes die Gewalttätigkeit der bestehenden Ordnung nicht auf, sondern legt nur Zeugnis von ihr ab.

Das Legitimitätsproblem, das dem demokratischen Nationalstaat entsteht, sobald er Entscheidungen trifft, die sich nicht ausschließlich auf Angehörige der eigenen Nation auswirken, hat bereits David Held (ebd.) in seinem Aufsatz über das Verhältnis von Demokratie, Nationalstaat und internationalem System thematisiert:

„The limits of a theory of politics that derives its terms of reference exclusively from the nation-state become apparent from a consideration of the scope and efficacy of the principle of ‚majority rule‘. The application of this principle is at the centre of Western democracy: it is at the root of the claim of political decisions to be regarded as worthy or legitimate. Problems arise, however, […] because decisions of a majority affect (or potentially affect) not only [the nation-state’s] own citizens.“ (S. 141-142)

Diese zutreffende Analyse allerdings geht mit einer falschen Einschätzung des Nationalstaats im Spätkapitalismus einher. Held sieht die Dominanz des Nationalstaats ohnehin am Schwinden, primär durch seine in der globalisierten Welt notwendig gewordene (vgl. S. 147) Einbindung in supranationale Organisationen (vgl. S. 152-153). Dass diese Vorstellung eine falsche ist, zeigt besonders anschaulich der aktuelle Umgang der Europäischen Union mit den vor allem syrischen Flüchtlingen. Tatsächlich handelt es sich bei deren Aufnahme und Versorgung um eine Herausforderung, deren Ausmaß eben jener Entwicklung zunehmender “interconnectedness” (S. 145) im globalen System geschuldet ist, die Held beschreibt. Dessen Argumentation folgend wäre nun zu erwarten, dass die Europäische Union auf supranationaler Ebene eine Lösung erarbeitet, welche die Mitgliedsstaaten, den partiellen Verlust ihrer Souveränität um der Zweckrationalität willen akzeptierend, umsetzen. Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil: Mehrere Staaten, darunter auch Deutschland, riegeln ihre Grenzen ab, eine europäische Lösung ist zunächst nicht in Sicht und an den Innen- und Außengrenzen der EU wächst das Elend (vgl. Becker 2015). Etwas später dann wird ein offenkundig unzureichender Kompromiss gegen den Widerstand mehrerer Mitgliedsstaaten „durchgedrückt“ (Küstner 2015). Der moderne Nationalstaat tritt supranationalen Institutionen nicht bei, um sich ihnen zu unterwerfen, sondern um in ihnen seine Interessen geltend zu machen, und wird er, und sei es nur scheinbar durch einige Tausend Flüchtlinge, in Frage gestellt, so ist das Ergebnis leider nicht dessen Niedergang, sondern eine Eskalation eben jener Gewalt, die die bestehende Ordnung ohnehin kennzeichnet. Theodor W. Adorno (1967) hat hierzu, obgleich er damals die Beschränktheit des in supranationale Bündnisse eingewobenen Nationalstaats noch optimistischer einschätzte, bereits in den 1960er Jahren treffend bemerkt:

„Es ist nun an die eigentümliche Situation zu erinnern, die herrscht mit Rücksicht auf das Problem des Nationalismus im Zeitalter der großen Machtblöcke. Innerhalb dieser Blöcke lebt nämlich der Nationalismus doch fort als Organ der kollektiven Interessenvertretung innerhalb der in Rede stehenden Großgruppen. Es ist gar kein Zweifel daran, […] es eine sehr verbreitete Angst davor gibt, in diesen Blöcken aufzugehen und dabei auch in der materiellen Existenz schwer beeinträchtigt zu werden. […] Zugleich aber, und damit berühre ich den antagonistischen Charakter, den der neue Nationalismus […] hat, hat [der Nationalismus] angesichts der Gruppierung der Welt heute in diese paar übergroßen Blöcke, in denen die einzelnen Nationen und Staaten eigentlich nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, etwas Fiktives, es glaubt eigentlich niemand mehr so ganz daran, die einzelne Nation ist in ihrer Bewegungsfreiheit durch die Integration in die großen Machtblöcke außerordentlich beschränkt. Man sollte nun daraus aber nicht etwa die primitive Folgerung ziehen, dass deswegen der Nationalismus, […] keine entscheidende Rolle mehr spielt, sondern im Gegenteil: Es ist ja sehr oft so, dass Überzeugungen und Ideologien gerade dann, wenn sie eigentlich durch die objektive Situation nicht mehr recht substanziell sind, ihr Dämonisches, ihr wahrhaft Zerstörerisches annehmen.“

Darüber hinaus missversteht Held (ebd.) den Weltmarkt und die Zwänge, die dieser dem Nationalstaat aufbürdet, als Gefahr für dessen Souveränität (vgl. S. 151-152). Tatsächlich kann die globale Ökonomie den Nationalstaat nicht bedrohen, weil sie sein Zweck ist. Seit jeher hat er die Bedingungen der Wertverwertung einerseits erst geschaffen (vgl. Grigat ebd.: S. 243), andrerseits – insbesondere in seiner Rolle als Sozialstaat – aufrechterhalten (vgl. Grigat 2012).

„Der [staatliche] Apparat als solcher, obwohl von Menschen gemacht und von Menschen angetrieben, bildet einen jeden Willen und jede freie Entscheidungsmöglichkeit übersteigende kafkaeske Struktur, da sein Wirken ja von vornherein auf die irrational verselbständigte Ökonomie zugeschnitten ist.“ (Kurz 1999: S. 646 f. zit. n. Grigat 2007: S. 247)

Solches staatliche Wirken kann vor dem Hintergrund der von Held (ebd.) zutreffend beschrieben ökonomischen Entwicklung (vgl. S. 151) nur im Versuch liegen, die Konkurrenz im Kampf der nationalen Wirtschaftsstandorte auszustechen. Das beste Beispiel hierfür liefert die Agenda 2010, über die der damals verantwortliche sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder (2013) 10 Jahre später zutreffend sagte, dass „die Agenda […] ein Konzept zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ gewesen wäre, während es dem Schröders Rede einige einleitende Worte vorausschickenden heutigen Außenminister Frank-Walter Steinmeier vorbehalten blieb, auf die Verdienste der Agenda um die deutsche Nation hinzuweisen:

„Es war die entscheidende Weichenstellung dafür, dass es diesem Land heute wirtschaftlich deutlich besser geht, als allen unseren europäischen Nachbarn.“ (Schröder ebd.)

Kurzum, wenn der Nationalstaat heute im Rahmen einer oftmals als neoliberal geschmähten Politik sich bemüht, den Ansprüchen des seinem Wesen nach nicht an nationale Grenzen gebundenen Kapitals zu genügen, so verliert nicht jener dadurch an Bedeutung, sondern nur das seiner Herrschaft unterliegende bürgerliche Subjekt um der Gnade einer weiteren Beschäftigung willen an Kaufkraft. Was den Nationalstaat selbst angeht, so garantiert er lediglich die Bedingungen der Wertverwertung in Zeiten, in denen eben diese realwirtschaftlich längst an ihre Grenzen gestoßen ist:

„Die Gesellianer stellen also in ihrer Kritik von zinstragendem Kapital und »unproduktiver« Spekulation die Logik des wirklichen Prozesses auf den Kopf und verwechseln die Wirkung mit der Ursache. Während sie behaupten, daß es der Tribut der industriellen Warenproduktion an das zinstragende Kapital und dessen spekulative Wucherung aus sich heraus sei, wodurch die krisenhafte Stockung der realen Produktion verursacht werde, verhält es sich genau umgekehrt: die Stockung der realen Warenproduktion durch ihre eigenen inneren Widersprüche läßt die in der Geldform realisierten Gewinne vergangener Produktionsperioden in den Finanz- und Spekulationssektor strömen. Es ist das industrielle Kapital selbst, das letztlich den spekulativen Prozeß des »fiktiven Kapitals« in Gang setzt.“ (Kurz 1995)

Und es ist der Nationalstaat, der diesen Prozess, wie überhaupt den der allgemeinen und ebenso allgemein beklagten sogenannten Liberalisierung und Flexibilisierung als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Grigat 2012) ermöglicht und begleitet. Nicht dieser allerdings leidet darunter, sondern nur das unter seiner Herrschaft lebende bürgerliche Subjekt, das sich oftmals gerade im Elend umso entschiedener zur Nation bekennt (vgl. Grigat 2007: S. 253).

Durch die fehlerhafte Analyse der Stellung des Nationalstaats, in der Helds politische Kritik durch die objektive Entwicklung wie zufällig sich ohnehin erledigt, ist ihm die Bürde genommen, mit der bestehenden Ordnung radikal verfeindet zu sein. Weil er den Nationalstaat nicht nur im Unrecht, sondern auch empirisch bereits am Schwinden sieht, erscheint allzu heftige Kritik an ihm unnötig. Lieber versteigt Held (ebd.) sich zu bürgerlichem Utopismus. Das Weltsystem der Zukunft wird als “neo-mediaeval form of universal political order” (S. 159) beschrieben, in der sich eine demokratische Föderation bilden werde (vgl. 161). In dieser könne es problemlos weiterhin demokratische Herrschaft geben (vgl. 162), ihre Illegitimität würde kurzer Hand durch “referenda of groups cutting across nations and nation-states” (S. 166) aus der Welt geschafft. Der Nationalstaat solle mit der Souveränität seinen Wesenskern verlieren (vgl. S. 159) und doch ungehindert fort existieren (vgl. S. 148), sich bei all dem anscheinend noch widerstandslos – aber keineswegs “harmonious” (S. 167) – in die Föderation einfügen. Es wurde bereits dargelegt, weshalb diese Zukunftsvision, in der frommer Wunsch und falsche Analyse des Visionärs sich die Hand geben, nicht von sich aus, als Folge einer allgemeinen Tendenz, gleichsam kampflos Realität werden wird. Der müßige Versuch hingegen, die inneren Widersprüche und Ungereimtheiten dieses utopischen Entwurfs im Einzelnen offen zu legen, wird an dieser Stelle nicht unternommen, während hingegen der obligatorischen Hinweis auf die Problematik utopischer Darstellungen allgemein (vgl. Grigat ebd.: S. 359-360) natürlich nicht fehlen darf. Viel wichtiger allerdings ist, dass Helds Föderation gezähmter demokratischer Nationalstaaten das von ihm selbst benannte Problem, nämlich dass Mehrheitsentscheidungen im Inneren keinerlei Legitimation für den Umgang mit Menschen außerhalb generieren, nicht löst. Denn diese Föderation hätte genauso Außengrenzen, wie sie schon der Nationalstaat hatte, den jene zaghaft beerbt, und beispielsweise restriktive Maßnahmen gegen Flüchtlinge wären genauso bloße Gewalt gegen die vermeintlich Anderen, die bloß nicht hier Geborenen, wie es heute das europäische Abschottungs- und Grenzregime ist. Im Idealfall verlagerte sich das dem Verhältnis von Nation und Ausland immanente Legitimationsproblem demokratischer Herrschaft auf eine heute noch supranationale Ebene.

Für uns einen Platz an der Sonne? Den nationalen Konsens aufkündigen!

„[D]ie Nation ist immer zugleich Schein und Realität.“ (Grigat ebd.: S. 249) Schein ist jene nach Theodor W. Adorno (1963: S. 167) deshalb, weil sie einen „Zusammenhang von Natur und Gesellschaft“ behauptet, der „irrational“ ist und in dem das Individuum nur „zufällig“ sich befindet. Zur Realität wird die Nation gleichwohl durch das Handeln der von ihrer Echtheit überzeugten bürgerlichen Subjekte: Als gelebte Ideologie wird das falsche Bewusstsein zur falschen Wirklichkeit. Insofern mag der Nationalstaat der Erfüllung der dritten Bedingung für die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen weit näher kommen als der der anderen beiden: Gefordert wird ein Commitment aller Mitglieder des entscheidenden Kollektivs zum Zweck der Vereinigung, deren Befugnissen damit zugleich die Grenzen gewiesen sind. Diese verweisen im Fall der Nation wiederum auf auf die falsche Freiheit des bürgerlichen Subjekts, welches frei nur ist, sofern der Zweck der Nation, im internationalen Staatensystem und auf dem Weltmarkt sich zu behaupten, nicht berührt ist.
Damit also im nationalstaatlichen Rahmen legitime Mehrheitsentscheidungen stattfinden könnten, müsste – als notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung – gegeben sein, dass sich alle Angehörigen der Nation auf deren eben jenen Zweck positiv beziehen. Dieses ist heute vermutlich nirgends voll, aber überall beinahe gegeben. Zwar genügt bereits eine Person, die den Schwur auf die Nation verweigert, um deren demokratisch bestimmter Politik die, wie bereits gezeigt, ohnehin zweifelhafte Legitimität ein weiteres Mal zu nehmen. Was mir in diesem Staat geschieht, wie auch mein Leben durch meist demokratisch festgelegte, aber nicht legitimierte Regelungen bestimmt wird (2), deren Zweck ich nie zugestimmt habe, entspricht in etwa der Situation der in Huemers Gedankenexperiment zum Bezahlen der gesamten Rechnung genötigten Person: Freundlich, aber bestimmt bleibt festzuhalten, dass diese sich so wenig für die finanzielle Unterstützung trinkfester Kommilitoninnen und Kommilitonen zur Verfügung gestellt hat wie ich mich für einen Beitrag zum Erfolg der deutschen Nation.

Soll die Illegitimität demokratischer Herrschaft im nationalstaatlichen Rahmen aber politische Folgen haben, so müssten in der Tat mehr Menschen als eine selbst innerhalb der politischen Linken marginalisierte Minderheit antinationaler und antideutscher Kommunistinnen und Kommunisten eine fundamentale Ablehnung des Nationalstaats formulieren. Davon ist derzeit allerdings nicht das Geringste zu spüren. Grigat (ebd.) konstatiert:

„In der Regel stimmen die Subjekte [ihrer Verpflichtung für das nationale und staatliche Kollektiv] aber auch zu, spätestens dann, wenn die eigene Arbeitskraft nicht mehr als produktiv gilt und man seine Rechte daher wenigstens damit legitimieren möchte, daß man doch – im Gegensatz zu den durch die nationalstaatliche Einteilung der Welt fabrizierten Ausländern – als Zugehöriger der Nation sein Lebensrecht trotz Unproduktivität noch nicht verwirkt hat. Aber auch ohne solche privaten oder gesellschaftlichen Krisensituationen gelten die Nation und ihr Staat als Einrichtung zum Wohle aller, als Garant, je nach Möglichkeit, Kapital zu verwerten oder die eigene Arbeitskraft zu verkaufen.“ (S. 254)

Die Überschrift dieses Abschnitts wurde mit einem Ausrufezeichen versehen, weil die hier vorgetragene Kritik selbst bereits unmittelbar politische Praxis ist. Dem kritischen Verhältnis zur Nation, das heute noch Ausnahme ist, kann durch jene wenigstens zaghaft zu weiterer Verbreitung verholfen werden, und mit jedem Staatsbürger und jeder Staatsbürgerin, der oder die vom falschen Glauben abfällt, büßt nicht nur die durch den Nationalstaat exekutierte demokratische Herrschaft der Übrigen weiter an Legitimität, sondern auch dieser selbst an Substanz ein. Das Ziel materialistischer, der Emanzipation verpflichteter Kritik ist die Nicht-Identifikation der Subjekte mit dem eigenen Staat, weil darin eine Voraussetzung liegt, diesen durch etwas Besseres, Freieres, Menschlicheres zu ersetzen.

In den postnazistischen Ländern kommt freilich noch ein Phänomen hinzu, der sekundäre Antisemitismus (vgl. Gessler 2006): Judenfeindschaft als Vergangenheitsbewältigung. Ewig reden sich die Deutschen (3) das Offensichtliche ein, das sie selbst nicht glauben können, weil sich sonst unaufhaltsam die Wahrheit ins Bewusstsein schöbe, dass es mit ihrer mystischen Verbindung zu Johann Wolfgang von Goethe und Manuel Neuer ebenfalls nicht allzu weit her ist, ewig wird die von niemandem vorgebrachte Anklage aufgebracht zurückgewiesen, dargelegt, weshalb einen oder eine selbst an der Shoa keine persönliche Schuld treffe. Als Ankläger wird der Staat ausgemacht, der durch seine bloße Existenz als sichtbares Zeugnis deutscher Vernichtungspolitik das lächerliche Holocaust-Mahnmal (vgl. Jäckel 2010) überflüssig macht. Das schlechte Gewissen, dass die Deutschen grundlos, aber notwendig haben, wird besänftigt durch die ebenso allgegenwärtige wie antisemitische Anklage der Israelis als die neuen Nazis (vgl. Augstein 2012). Nicht-Identifikation mit Deutschland birgt neben der Perspektive auf die befreite Gesellschaft zusätzlich die Hoffnung auf ein Gedenken an die Shoa, das nicht verstockt, aus einer Pflicht heraus, widerwillig und betroffen zugleich noch den Judenmord der eigenen Nation, die ihn begangen hat, als Nützliches zuführt, sondern das mit Wut und Trauer den Zivilisationsbruch zur Kenntnis nimmt und seiner ohne Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten erinnert. Die Subjekte, die heute den jüdischen Staat hassen, weil er ihre Loyalität zum eigenen erschüttert, legten mit dieser zugleich auch den Antisemitismus „nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (Gessler ebd.) ab.

Emanzipation als universeller Maßstab

Ausführlich wurde bisher begründet, warum die Politik der heute real existierenden Nationalstaaten demokratisch nicht legitimiert werden kann, weder innerhalb die Herrschaft über das zwangsweise der Nation zugehörige Individuum, noch außerhalb die über das ebenso zwangsweise von ihr ausgeschlossene. Sollen aber nun die offensichtlichen Unterschiede in nationalstaatlichem Handeln nicht in einer allgemein gehaltenen Kritik untergehen, der die Außenpolitik des dritten Reichs wie die seiner alliierten Gegner gleichermaßen als illegitim gilt, so muss ein anderes Kriterium als die Meinung der Mehrheit unter den Angehörigen der Nation hinzugezogen werden. Als solcher universeller Maßstab dient die Emanzipation. Alles nationalstaatliche Handeln beruht auf bloßer Herrschaft, sei sie demokratisch oder nicht, aber es macht einen Unterschied, ob diese Herrschaft den Flüchtling, die Bevölkerung des Nachbarlands, die faschistische Bewegung, das islamische Kalifat oder den mittelöstlichen Diktator niederzuwalzen versucht oder nicht, ob also und vor allem gegen wen die der Herrschaft stets als Drohung innewohnende Gewalt tatsächlich Anwendung findet. Legitim sind nur jene nationalstaatlichen Handlungen, politische Handlungen überhaupt, die der Freiheit des Individuums, seiner Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben und seiner Ermächtigung zu kritischem Denken förderlich sind. Der bürgerliche Staat mag also den Flüchtling versorgen, aber nicht abschieben, die Diktatur mag er mit Sanktionen belegen, aber nicht mit Waffen beliefern, er mag gegen den Islamischen Staat zum Luftangriff schreiten, aber nicht zugleich Erdogans Krieg gegen die PKK billigen (vgl. Sina 2015), und gerne kann der deutsche Staat die NPD verbieten, aber er möge doch künftig davon absehen, Neonazi-Strukturen durch
V-Männer finanziell erst zu ermöglichen (vgl. Fromm/Theveßen 2013). Die obsessive Selbstbeweihräucherung, zu der alle Nationalstaaten und besonders die demokratischen unter ihnen neigen, sobald sie einmal das zweifelsohne Richtige tun, verweist hingegen auf ihren ambivalenten Charakter. Indem die Nation sich für das Gute überschwänglich lobt, stellt sie es bereits als die Ausnahme dar, die es im schlechten Bestehenden tatsächlich ist. Unmissverständlich ist die Drohung: Wir können auch anders. (4) Im nationalen Eigenlob unserer Zeit drückt sich bereits aus, was Adorno und Horkheimer (ebd.) im Verhalten ihrer politischen Feinde erkannt zu haben glaubten:

„Voraussetzung der Tier-, Natur- und Kinderfrommheit des Faschisten ist der Wille zur Verfolgung. Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand hier kann vernichten. Sie tätschelt zärtlich das eine Opfer, bevor sie das andere niederschlägt, und ihre Wahl hat mit der eigenen Schuld des Opfers nichts zu tun. Die Liebkosung illustriert, daß alle vor der Macht dasselbe sind, daß sie kein eigenes Wesen haben. Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material.“ (S. 269-270)

Gegen solche Hybris ist einzuwenden, dass es sich genau anders herum verhält: Nicht der Verzicht, partielle Emanzipation zu beschädigen, ist nationale Großtat, sondern die Beschädigung partieller Emanzipation ist nationale Untat. Eine Untat, die durch nichts gerechtfertigt ist als das Recht der sich selbst ins Recht setzenden Nation und vollstreckt wird durch staatlich institutionalisierte Gewalt.
John Rawls (1997) wäre die hier vertretene Position, die eine persönliche Überzeugung zum allgemeinen Maßstab für die Legitimität politischer Handlungen erhebt, wohl gefährlich, oder gar, schlimmer noch, “not […] reasonable” (S. 105) erschienen. Lediglich “presently accepted general beliefs” (S. 102) und “conclusions of science when these are not controversial” (S. 102) dürften in sensiblen Fragen des Politischen herangezogen werden. Zusammen bildeten beide – unstrittige politische Werte und unstrittige wissenschaftliche Erkenntnisse – eine “Public Reason” (S. 93), deren Grenzen zu respektieren seien (vgl. S. 96). Für “doctrines“ (S. 116) hingegen sei kein Platz in der öffentlichen Auseinandersetzung um die zentralen politischen Fragen, sofern sich jene nicht konstruktiv der Public Reason unterordneten, sich gleichsam von ihr vereinnahmen ließen (vgl. S. 119). Dem zu Grunde liegt eine Mystifizierung der Nation. Für die “political relationship among democratic citizens” (S. 96) sind nach Rawls “two special features” (S. 96) kennzeichnend:

“First, it is a relationship of persons within the basic structure of the society into which they are born and in which they normally lead a complete life. Second, in a democracy political power, which is always coercive power, is the power of the public, that is, of free an equal citizens as a collective body.” (S. 96)

Ausgehend von einer Vorstellung des Nationalstaats, die diesen in der Tat „als eine Art nicht hinterfragbares Naturereignis“ (Grigat ebd.: S. 248) auffasst, als ließe er sich unmittelbar aus den Geburtsorten der ihm zwangsweise Angehörenden ableiten (5), geht die Verteidigung demokratischer Herrschaft erwartungsgemäß leicht – um nicht zu sagen: leichtfertig – von der Hand. Auf die Spitze getrieben aber wird der Fetisch um die Nation, wenn ihre Charakterisierung als Zwangskollektiv wenigstens ansatzweise vorweg genommen wird – allerdings nicht in kritischer, sondern in affirmativer Absicht (vgl. S. 100-101). Spätestens damit hat sich die Nation zum unantastbaren Fakt gemausert. Von ihrer Mystifizierung kommt Rawls zu seinem Bild von Gesellschaft, deren Mitglieder, politisch verfeindet und durch die Nation untrennbar verbunden zugleich, irgendwie friedlich ins Ganze zu integrieren seien. Rawls Theorie zielt auf Versöhnung, wo es keine geben kann, realisiert durch die Liquidierung des Politischen, deren Ausdruck sich im autoritär anmutenden Konzept der Public Reason findet. Diese, wohl als kollektive Vernunft zu übersetzen, ist tatsächlich kollektive Unvernunft. Die Public Reason einer “political society” (S. 93), die sich als Nation versteht und entsprechend handelt, kann sich nur instrumentell auf deren irrationalen Zweck richten. Ausgegrenzt wird, was weder der Verwertung des Werts noch dem Machtgewinn im internationalen System dienlich ist, und so kann sich die emanzipatorische Forderung weniger noch vor dem Stigma des Unvernünftigen retten als der religiöse Wahn oder die faschistische Mordbrennerei. Politischer Ausdruck dieser Ausgrenzung ist die Extremismustheorie, die selbst zur Barbarei tendiert (vgl. Bayer 2015).

Fazit

In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, die Legitimität von Demokratie im Rahmen eines Nationalstaats, von Herrschaft durch einen Souverän also, der durch die Mehrheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bestätigt ist, grundsätzlich zu bestreiten. Die dieser demokratisch nur vermeintlich legitimierten Herrschaft entsprungene und entspringende Gewalt – gleich, ob gegen Angehörige der Nation oder gegen jene gerichtet, die dieser als Ausländer gelten – basiert, so die Behauptung, auf nichts weiter als dem praktisch angewendeten Recht des Stärken. Um dieses zeigen zu können, wurden aus dem Maßstab, den der bürgerliche Nationalstaat in seinem Inneren an demokratische Entscheidungen anlegt, Bedingungen abgeleitet, die Mehrheitsentscheide allgemein erfüllen müssen, um als legitim gelten zu können. Zugleich werden, wenn der Mehrheitsentscheid in diesem normativen Sinn legitim ist, weder Gewalt noch Herrschaft benötigt, um jenem Geltung zu verschaffen. Die drei Bedingungen lauten: Die entscheidende Grundgesamtheit muss ein Verein freier Menschen sein, alle von der Entscheidung Betroffenen müssen Teil der entscheidenden Grundgesamtheit sein, und die entscheidende Grundgesamtheit muss ein Commitment zum Zweck jenes Vereins teilen, womit zugleich auch klar ist, dass dieser jenseits seines Zwecks keine Entscheidungsbefugnisse hat. Wie gezeigt, erfüllt Demokratie, die im nationalstaatlichen Rahmen stattfindet, keine einzige dieser Bedingungen. Folgerichtig muss der bürgerliche Staat das Gewaltmonopol beanspruchen. Wie er aber von diesem, von seinem bloßen Recht des Stärkeren, Gebrauch macht, kann kommunistischer Kritik keineswegs gleichgültig sein. Während sie vom bürgerlichen Staat kein anderes Verhalten erwartet als jenes, das der Kapitalverwertung und dem Machtgewinn im internationalen System am förderlichsten ist, legt kommunistische Kritik mit der Emanzipation einen eigenen Maßstab an, der unabhängig ist sowohl vom irrationalen Zweck der Nation als auch dem politischen Standpunkt ihrer Angehörigen. Heute gilt es einerseits, den bürgerlich-demokratischen Nationalstaat entgegen seiner für Mensch und Umwelt zerstörerischen Bestimmung zu einem Verhalten zu nötigen, das der Freiheit des Individuums, seiner Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben und seiner Fähigkeit zu kritischem Denken keineswegs nur in den eigenen Grenzen noch die günstigsten Aussichten verschafft, andererseits durch Ideologiekritik die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass eben diesem bürgerlich-demokratischen Nationalstaat – wie jedem anderen – eines Tages das Ende bereitet werde.

Fußnoten:

(1) „Macht beruht auf der Möglichkeit, Zwang [Anmerkung: d.h. Gewalt] ausüben zu können. […] Herrschaft hingegen ist […] ‚vorhanden‘, anerkannte oder ‚hingenommene‘ aktualisierbare Macht.“ (Böhret/Jann/Kronenwett 1988: S. 6) In diesem Sinne ist die Bestimmung demokratischer Herrschaft einfach: Sie liegt vor, wenn den demokratisch bestätigten Gesetzen und Regeln im Zweifel durch Gewalt zur Geltung verholfen wird. Diese Arbeit fragt aber gerade nach den Bedingungen, die diese Gewalt notwendig machen.

(2) Der beste Beweis dafür ist, dass diese Arbeit nicht etwa für den Kommunismus oder wenigstens für das Amüsement des Autors und seiner Leserinnen und Leser geschrieben wird, sondern ganz im Sinne des Wahns, am Ende noch die Philosophie ökonomisch zu verwerten, für schäbige ECTS-Punkte.

(3) Der Begriff greift hier eigentlich zu kurz. Nicht der plakativen Pauschalierung wegen, denn gemeint sind natürlich nicht die objektiven Angehörigen der deutschen Nation, sondern nur ihre geistigen Trägerinnen und Träger. Sondern weil jene Deutschen nicht berücksichtigt werden, die vom völkischen mittlerweile zu einem republikanischen Nationalismus übergegangen sind (vgl. Habermas 1996: S. 276). Weil diese Avantgarde allerdings die deutschen Verhältnisse eher mit Zuckerguss übergießt, als sie in ihrem Sinne spürbar zu verändern, während zugleich die Stimmung gegenüber Israel immer feindseliger wird (vgl. Seiffert 2014), erscheint die Verbannung ins Reich der Fußnoten derzeit allemal gerechtfertigt.

(4) So war dann auch erwartungsgemäß die neue deutsche Flüchtlingsfreundlichkeit (vgl. von der Osten-Sacken 2015) nur das Vorspiel zur Wiedereinführung der Grenzkontrollen.

(5) Natürlich ist es genau umgekehrt: Erst der – von Rawls euphemistisch als Gesellschaft bezeichnete – Nationalstaat als manifestes falsches Bewusstsein verleiht dem Geburtsort einer Person die Bedeutung, die er heute hat.

 

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