Über das Verhältnis von Kapitalismus, Religion und Religionskritik im 21. Jahrhundert
Mit Texten von Julian Bierwirth, Lothar Galow-Bergemann, Karl-Heinz Lewed, Ernst Lohoff, Peter Samol und Norbert Trenkle
Eine Veröffentlichung von krisis – Kritik der Warengesellschaft
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Direktlink zu Lothar Galow-Bergemann, Du sollst (k)einen anderen Gott haben neben mir. Thesen zum Verhältnis von Religion und Moderne
Vorwort der Krisis-Redaktion:
In seinem Faust lässt Goethe Gretchen ihren Verehrer fragen: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ 200 Jahre später ist die berühmte Gretchenfrage immer noch – oder wieder einmal – von hoher gesellschaftlicher Aktualität. Als Krisensymptom ebenso wie als Teil der treibenden Kräfte weltgesellschaftlicher Desintegration spielen evangelikale, islamistische und sonstige Fundamentalismen sowie esoterische Strömungen eine fatale Rolle. Wer eine emanzipative Gegenperspektive formulieren will, kommt deshalb nicht umhin, diese Entwicklung kritisch einzuordnen und sich zu ihr zu positionieren. Die Auseinandersetzung mit den neoreligiösen Tendenzen führen wir schon seit längerer Zeit. Bereits im Jahr 2008 erschien eine Ausgabe der Krisis (Nummer 32, damals noch im klassischen Buchformat) zum Schwerpunkt Kreuzzug und Jihad, die sich mit dem „Religionismus“ (Ernst Lohoff) im Allgemeinen und dem Islamismus im Besonderen sowie mit dem Kulturkampf der „westlichen Werte“ beschäftigte. Es folgte eine ganze Reihe von weiteren Texten zu diesen Themen, die allesamt auf unserer Webseite zu finden sind. Diese Publikationen gingen und gehen teilweise einher mit theoretischen Kontroversen über den Charakter der Neoreligiosität. Während die einen darin ein (post)modernes Phänomen erkennen und den Bruch gegenüber traditionellen religiösen Vorstellungen betonen, sehen andere eher Kontinuitäten gegenüber der Vormoderne.
Damit verbunden sind zwangsläufig grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Kapitalismus. Ist die Religion eine eigenständige Form der Herrschaft, die von der kapitalistischen Gesellschaft zwar geprägt und modifiziert wird, im Kern aber unverändert bleibt? Oder lässt sich die moderne Religiosität stattdessen nur aus dem historisch-spezifischen Charakter der kapitalistischen Vergesellschaftung erklären? Wie viel Religion steckt im Kapitalismus selbst? Welche Rolle spielten die monotheistischen Religionen im Allgemeinen und die des Christentums im Besonderen bei der Herausbildung der modernen Warengesellschaft? Und schließlich ist von alledem die Frage nicht zu trennen, wie eine zeitgemäße und adäquate Form der Religionskritik aussehen sollte. Kann man dabei überhaupt noch an Marx anknüpfen oder ist er in dieser Hinsicht selbst noch ganz den aufklärerischen und fortschrittsgläubigen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verhaftet? Im Sommer 2021 haben wir diese Fragen im Rahmen einer zweiteiligen Online-Veranstaltung diskutiert (die Aufzeichnungen finden sich auf dem Youtube-Kanal der Krisis). Die Vorträge von Lothar Galow-Bergemann, Karl-Heinz Lewed, Ernst Lohoff, Peter Samol und Norbert Trenkle liegen hier nun in überarbeiteten und teilweise erweiterten Versionen vor. Zusätzlich publizieren wir einen Beitrag von Julian Bierwirth, der sich mit dem Verhältnis von Religion und Sexualität auseinandersetzt, ein wichtiger Aspekt, der in der Veranstaltungsreihe nur gestreift worden war. Die Gretchenfrage wird uns so bald nicht loslassen. Aber im Krisenprozess des 21. Jahrhunderts hat sie eine ganz andere Bedeutung als zu Zeiten von Goethe. Es kommt darauf an, zeitgemäße Antworten auf sie zu finden. Diese Publikation sehen wir als Beitrag hierzu.
Die Krisis-Redaktion im November 2021