Thesen zum Verhältnis von Religion und Moderne
von Lothar Galow-Bergemann
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(Zuerst erschienen bei krisis – Kritik der Warengesellschaft. Der Text ist Teil des Krisis-Beitrag 2/2021 “Die Gretchenfrage neu gestellt. Über das Verhältnis von Kapitalismus, Religion und Religionskritik im 21. Jahrhundert” Mit Texten von: Julian Bierwirth, Lothar Galow-Bergemann, Karl-Heinz Lewed, Ernst Lohoff, Peter Samol und Norbert Trenkle. Er beruht auf einem Zoom-Vortrag vom 11. Juni 2021, der hier einsehbar ist (ab der Zeitmarke 47:50)
1. Modern sein kann auch, was vor der Moderne entstand
Wann die Sache mit dem Patriarchat anfing, ist ungeklärt. Klar ist, dass es weit vor der kapitalistischen Moderne war. Sein Kern ist die hierarchische Spaltung in superiore Männlichkeit und inferiore Weiblichkeit. Abgesehen davon ist es äußerst anpassungs-, überlebens- und modernisierungsfähig. Entstanden als Herrschaft des allmächtigen Clanchefs, der über Leben und Tod entscheidet – und bis heute noch nicht einmal insoweit wirklich überwunden -, vermochte es sich in der Moderne sogar in der Logik des Kapitals einzunisten: als Abspaltung des Werts von seiner unverwertbaren, gleichwohl notwendigen und als weiblich konnotierten Rückseite. Während sein rein äußerliches Gewaltverhältnis in vielerlei Form auch in der Moderne weiterbesteht, wandelte sich das Patriarchat gleichzeitig dem Warenfetisch an und transformierte sich in eine gesellschaftliche Realität, die praktisch den Dingen selbst inhärent ist. Warenproduzierendes Patriarchat ist ein anderes, treffenderes Wort für Kapitalismus. Das uralte Patriarchat ist quicklebendig in altem und in modernem Gewand. Es ist nicht nur kompatibel mit der Moderne, es strukturiert sie auch.
Religionen werden, wie von jeder anderen Gesellschaftsform, auch von der kapitalistischen Moderne geprägt und modifiziert. Im Kern bleiben sie, was sie immer waren: menschengemachte „höhere Mächte“. Als Welterklärungen und -anschauungen stiften sie Identität und soziale Bindekraft und beruhen auf Glauben und Nichtglauben. Glauben an höhere Mächte, die über dem Menschen stehen und denen er sich vor und sogar noch nach seinem Tod fügen muss. Es ist zugleich ein Nichtglauben an die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung. Vor allem aber findet sich auch hier wieder die hierarchische Spaltung in superior und inferior. Diese Gemeinsamkeit von Patriarchat und Religion ist kein Zufall. In diesem Kosmos der Unterwerfung bewegen sich selbst feministische Theolog*innen, die – zitternd vor ihrer eigenen Courage – eine „Göttin“ anrufen. Herrschaft bleibt Herrschaft, auch mit einer Frau an der Spitze. Das Gestrüpp aus Religion und Patriarchat nachzuzeichnen, würde ein ganzes Buch füllen. Es scheint nahezu unentwirrbar, weil es fest und dicht miteinander verwachsen ist.
Heute leben wir in einer kapitalistischen Welt. Der abstrakten Herrschaft des Werts unterworfen und somit in einer Gesellschaft der vereinzelten Einzelnen, sprich: in der Welt der modernen Konkurrenzsubjekte. Und doch ist die gesellschaftliche Wirklichkeit der Menschen mit diesen Zuschreibungen nicht umfassend und hinreichend beschrieben. Denn die Welt ist nicht von A bis Z durchkapitalisiert. Schon gar nicht an jedem Ort, in jedem gesellschaftlichen Bereich und in jeder Gehirnwindung auf dem gleichen Niveau. Vieles, was nicht warenförmig ist und daher nicht im Wert aufgeht, hat dennoch eine ganz eigene Gewalt über Menschen und erscheint für ihre Lebenswirklichkeit als alles andere denn als eine inferiore gesellschaftliche Sphäre. Patriarchal strukturierte Verwandtschaftsverhältnisse und sonstige wechselseitige Abhängigkeiten, religiös geprägte kulturelle Gepflogenheiten und insbesondere der Bereich, wo beide sich treffen wie Heirat, sexuelle Ge- und Verbote u.v.m., haben große Macht über sehr viele Menschen und üben – mal mehr, mal weniger – großen Einfluss auf Leben und Schicksal von Abermillionen Menschen aus. Der Einfluss von Religion ist gerade in solchen, alles andere als marginalen Beziehungsformen, mit Händen zu greifen. Es ist jedenfalls nicht mit dem warenproduzierenden Patriarchat erklärbar, dass die gesellschaftliche Stellung der Frau auffällig dort am schwächsten ist, wo Religion den größten Einfluss hat: bei Evangelikalen und Islamisten, Katholiken und Orthodoxen. Veranstaltet das moderne Konkurrenzsubjekt als solches die Massendemonstrationen gegen Homosexuelle? – Eher nicht. Aber wer feiert dann eigentlich den Tag gegen Homophobie? Weder Genitalverstümmelung noch die Angst vor dem strafenden Vater oder vor der Hölle sind Schöpfungen der Moderne. Sie sind uralt, stammen aus jenem Gebräu aus Patriarchat und Religion und verletzen bis heute jeden Tag Massen von Menschen physisch und psychisch.
Die Wirkmacht von Religion kann je nach Stärke gegenläufiger Faktoren individuell wie gesellschaftlich zurückgehen oder anwachsen. In Zeiten weltweiter tiefer Krisen wie der heutigen hat sie gute Karten. Wo die Kapitalverwertung den gesellschaftlichen Zusammenhang immer weniger herstellen kann und immer mehr abgehängte Menschen und Regionen hinter sich lässt, gewinnen gegenseitige Beziehungsformen und Verpflichtungsverhältnisse personaler anstelle warenförmiger Art unmittelbare Bedeutung für das Überleben von Millionen. Weil die Religion aber gerade in diesen Beziehungsformen wie der Fisch im Wasser schwimmt, vermag sie heute wieder eine wachsende Bedeutung zu gewinnen. Religion ist zäh sowie äußerst anpassungs- und überlebensfähig. Auch in der modernen Gesellschaft ist sie ein eigenständiger und wirkmächtiger Faktor geblieben. Und wo sie auftaucht, hat sie fast immer besonders restriktive Formen des Patriarchats im Schlepptau.
2. Religiöse Versprechen haben Vorteile vor den kapitalistischen
Kapitalismus und Aufklärung erheben im Gegensatz zur Religion den Anspruch, das Ausgeliefertsein der Menschen an imaginierte höhere Mächte zu überwinden. Aber sie lösen ihn nicht ein. Das postulierte „freie und autonome Subjekt“ blamiert sich an der gesellschaftlichen Realität, die von der abstrakten Herrschaft des Werts geprägt ist. Auch die kapitalistische Moderne liefert die Menschen „höheren Mächten“ aus. Hierbei handelt es sich im Kern um den allgegenwärtigen Zwang, sich der Wertverwertung – mitsamt ihren vielfältigen Erscheinungsformen wie etwa Geld-Verdienen-Müssen, Leistungszwang, unersättliches Wachstum etc. – zu unterwerfen. Dabei gebiert sie auch entsprechende intellektuelle und emotionale Verarbeitungsweisen dieses Zwangs. Dieser Zustand wird entweder affirmiert („Das ist halt Natur“), lustvoll besetzt („Leistungsträger versus Loser“) oder in falscher Opposition personalisiert („Die Gierigen beherrschen uns“).
Religion verspricht Erlösung aus dem Elend. Auch die kapitalistische Moderne tut das, aber ihr Versprechen muss sich im Hier und Jetzt beweisen. Resultate, die nicht überzeugen, ziehen Legitimationsprobleme nach sich. Religion hat für das Hier und Jetzt immerhin das bessere Gefühl im Angebot, wie schlimm die Zustände auch sein mögen. Im Übrigen ist sie viel freier von irdischen Zwängen, weil sie immer darauf hinweisen kann, dass die Belohnungen erst im Jenseits gewährt werden. Seien es 72 Jungfrauen, der „Schatz im Himmelreich“ oder ewige Glückseligkeit – gemeinsam ist diesen Versprechen ihre Unüberprüfbarkeit. Ihre Strahlkraft wächst deswegen sehr zuverlässig in Zeiten persönlicher wie gesellschaftlicher Krisen, Perspektivlosigkeit und Desillusionierung. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und ist keine Besonderheit der Moderne. Schon während der Antoninischen Pest im 2. Jahrhundert n.u.Z. boomte der Apollokult. Und die mittelalterliche Pest füllte die Kirchen mehr denn je. Die Konjunktur von Religiosität in Krisenzeiten ist kein „Rückfall ins Vormoderne“, sondern das periodische Wiederaufflammen eines Schwelbrandes, der sich seit Jahrtausenden durch die Menschheitsgeschichte frisst. Der Sturm der Krisen facht die Glut immer wieder neu an. Der vorübergehende „Rückgang der Religiosität“ in den 60er bis 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts in bestimmten Weltregionen war nicht der „Rationalität des Kapitalismus“ geschuldet (die es faktisch nur als irrationale Binnenrationalität, also nicht wirklich gibt), sondern der vergleichsweise geringen Krisendynamik und dem Aufschwung emanzipatorischer Bewegungen.
Die Bedeutung von Religion als Hilfsmotor und Ersatz gesellschaftlicher Verknüpfung erweist sich nicht nur dort, wo warenförmige Beziehungen noch nicht einmal das nackte Überleben sichern können; sondern auch dort, wo dieses Problem zwar (noch) nicht besteht, aber immer mehr Menschen aus guten Gründen an der angeblichen kapitalistischen Rationalität verzweifeln. Und aus schlechten Gründen bei den diversen esoterischen Angeboten auf dem Ramschmarkt der Sinnsuche fündig werden. Auch im Tränenmeer der Seele bewegt sich Religion seit jeher wie der Fisch im Wasser.
3. Religion steht für Unterwerfung und für Auflehnung
Die Welt, die von „höheren Mächten“ regiert wird, zu akzeptieren und sich ihnen zu unterwerfen, war immer nur ein Aspekt von Religion. Bereits in ihrer Absicht, sich durch Arrangieren mit den „höheren Mächten“ besser einzurichten, schimmert auch ein anderer Anspruch durch: die Welt nicht so zu akzeptieren wie sie ist. Religion vereint diese zwei gegensätzlichen Wünsche ab ovo in sich. Affirmation und Rebellion sind in ihr angelegt. Nicht nur in den frühneuzeitlichen Bauernkriegen suchten und fanden aufständische Bewegungen Munition in ihr, wie beispielsweise in der Theologie ihres Anführers Thomas Müntzer. Zusätzliche Dynamik erhielt die Nichtakzeptanz „der Welt so wie sie ist“ mit der Gut-Böse-Dichotomie (siehe hierzu auch den Beitrag von Peter Samol in dieser Reihe) und dem notwendig daraus folgenden kompromisslosen Kampf gegen „das Böse“ bzw. „die Sünde“. Bereits das frühe Christentum führte einen rücksichtslosen und mörderischen Krieg gegen die antike Religion und Philosophie bzw. deren Vertreter*innen; von den Kreuzzügen ganz zu schweigen. Die Moderne erfand weder den Anspruch, die Welt nach ihrem Bilde zu gestalten, noch das massenweise Töten für die „eine Wahrheit“. Es war die Religion. Dass sich beides gut verträgt mit dem mörderischen Potential des in der Krise ausrastenden bürgerlichen Subjekts, dessen konformistische Rebellion notfalls über Leichen geht, um eine vermeintliche „Normalität“ wiederherzustellen, erweist ein weiteres Mal die Modernität der Religion.
Doch selbst in der gegenwärtigen Krisenzeit äußert sich Religiosität bei weitem nicht nur rebellisch. Das Angebot, sich leichter mit der herrschenden Realität abfinden zu können, weil sie angeblich nicht die einzige ist, sondern durch ein imaginiertes Jenseits erweitert wird, hat weiter Wirkmacht über Milliarden von Menschen. Das gilt nicht nur für Länder wie etwa Polen, Russland oder Pakistan, sondern auch dort, wo neuere Formen von Religiosität wie die Esoterik besonders „in“ sind. Zwar hat auch diese rebellisches Potential, wie sich besonders in jüngster Zeit bei den so genannten Querdenker-Demonstrationen gezeigt hat. Doch ist auch sie in erster Linie eine Form der Unterwerfung unter die herrschenden Zustände, die sie mit ihrem Welterklärungs-, Wohlfühl- und Geborgenheitsangebot des Abtauchens „in eine andere Realität“ erträglicher und akzeptabler macht. Religion ist wie geschaffen für das Bedürfnis der modernen vereinzelten Einzelnen der Warengesellschaft, die nach Halt in Kollektividentitäten streben. Dass sie „der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt … der Geist geistloser Zustände“ ist (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1 S.378), gilt heute genauso wie im 19. Jahrhundert. Das Defizit der Marx’schen Religionskritik besteht nicht darin, das anzuprangern, sondern in der Vernachlässigung des anderen, auflehnenden und rebellischen Gesichts der Religion.
Dass aber Religionskritik sich nicht lange dabei aufhalten soll, ob es „Gott gibt oder nicht“, sondern die gesellschaftlichen Zustände aufs Korn nehmen muss, die religiöses Bedürfnis erst hervorbringen, dass sie „die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist“ (ebd. S. 379), sprich: radikale Gesellschaftskritik sein muss, gilt heute ebenfalls wie im 19. Jahrhundert. Walter Benjamin hält den Kapitalismus selbst für eine Religion und charakterisiert ihn als „nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus“ (Walter Benjamin, GS 1991, Bd. VI, S. 100 ff.). Dafür spricht, dass die undurchschaute abstrakte Herrschaft des Werts den Menschen nicht nur – wie Gott – als absolut gesetzt und nicht hinterfragbar erscheinen muss. Zudem haben sie es bei ihr mit einer (weiteren) höheren Macht zu tun, der sie endlos Tribut schulden und die daher prinzipiell niemals zufriedenzustellen ist. Auch dass das Christentum mit seinem extremen Schuldkult die Geschichte desjenigen Kontinents maßgeblich geformt hat, der schließlich die kapitalistische Moderne gebar, macht diese Annahme nicht unplausibler. Hat also Religion auch das geschafft, was ihrem Zwillingsbruder Patriarchat gelang: weiterhin im alten Gewand aufzutreten und sich gleichzeitig dem Warenfetisch anzuverwandeln? Dann wäre statt von einem Religion-ismus der Moderne vielleicht treffender von einem Modern-ismus der Religion zu sprechen. Oder vom Kapitalismus als warenproduzierender Religion. Vielleicht der schlimmsten Religion überhaupt, denn sie warf noch das Letzte über Bord, was sie Menschen einmal zu bieten hatte: Ohne jemals Erlösung in Aussicht zu stellen, verlangt sie nur noch Opfer für die ihr ganz eigene höhere Macht des Kapitals. Und fordert damit die Hinwendung zu irrationalen Angeboten und konformistischer Rebellion der von ihr Verlassenen geradezu heraus.
4. Religion könnte den Kapitalismus überleben
Die Kontinuität, mit der sich die Religion durch die Menschheitsgeschichte zieht, und die Hartnäckigkeit, mit der sie bisher letztendlich noch allen Angriffen trotzt, ist nicht nur menschengemachter Herrschaft geschuldet, sondern auch einer Urerfahrung. Menschen sind auch anderen als gesellschaftlich gewordenen „höheren Mächten“ ausgeliefert: den Naturgewalten inklusive ihrer heftigsten, dem Tod. Diese Erfahrung weckt ideelle wie lebenspraktische Bedürfnisse. Religion erfüllt sie. Ihr doppeltes ideelles Angebot lautet: Die bittere Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit verarbeiten, im Idealfall gar die Angst vor dem Tod überwinden können – und damit auch: das beruhigende Gefühl von Geborgenheit und Schutz in einer undurchschauten und gefährlichen Welt zu erlangen. Ihr doppeltes lebenspraktisches Angebot lautet: Erklärung des Wirkens der „höheren Mächte“ – also vermeintliches verstehen können, wie die Welt eingerichtet ist – was allerdings auch damit verbunden ist, sich mit diesen „höheren Mächten“ durch Akzeptanz und Unterwerfung zu arrangieren. Die doppelte Botschaft ist attraktiv: Du musst nicht wirklich sterben, du genießt den Schutz höherer Mächte und verstehst den Lauf der Welt. Nicht zuletzt kann Unterwerfung ja auch Lust bereiten. Eine Lust, die sich – zumindest in den monotheistischen Religionen – mit einer ausgeprägten Sexualfeindlichkeit verquickt, die insbesondere Frauen betrifft und auch in der modernen Gesellschaft weiterhin stark präsent ist.
Zwar wird man im Rahmen eines gelingenden Prozesses menschlicher Emanzipation darauf hoffen können, dass religiöse Bedürfnisse zurückgehen. Aber nicht alle menschengemachten „höheren Mächte“ werden mir nichts, dir nichts zusammen mit der Warengesellschaft von der Bildfläche verschwinden. Mindestens zwei Quellen werden die Religiosität noch lange speisen: Zum einen wird es immer Erkenntnislücken geben, in denen man prinzipiell einen Gott unterbringen kann; zum andern ist die Antwort der Religion auf die Frage nach dem Tod nun einmal deutlich sympathischer als jede rationale. Auch in einer wesentlich besser eingerichteten nachkapitalistischen Gesellschaft wird es Dinge geben, die Menschen bedrücken, beunruhigen, beängstigen und bedrängen. Die Versuchung, sich einer eingebildeten höheren Macht anzuvertrauen, und die Hoffnung, damit Welterklärung, Geborgenheitsgefühl und Überwindung der Todesangst zu erlangen, wird daher noch lange Nahrung finden. Ob einen die Antwort überzeugen kann, die die Religion auf diese Bedürfnisse gibt, ist letztlich eine individuelle Entscheidung. Dass irgendwann auch der letzte Mensch nicht mehr in den Spiegel schauen kann, solange er noch daran glaubt, ist hingegen aus heutiger Sicht eine mutige These.
5. Gott und Wert sind keine Allesschlucker – Emanzipatorisches ist nicht integrierbar
„Du sollst keinen anderen Gott haben neben mir.“ (2 Mose 20,3, https://bibeltext.com/text/exodus/20.htm) So tickt der biblische Gott. Und so tickt der Wert. Doch beide konnten diesen Totalanspruch niemals restlos durchsetzen. Die Welt war und ist nicht hermetisch abschließbar und lückenlos beherrschbar. Macht und Herrschaft, Unterwerfung und Selbstunterwerfung stießen immer wieder auf ein emanzipatorisches Gegenpotential, das sie nicht integrieren konnten. Das ist vermutlich schon lange so, mindestens für die letzten zweieinhalbtausend Jahre ist es definitiv nachweisbar. Und mit Sicherheit wurde es von viel mehr Menschen getragen als von den wenigen Prominenten, deren Namen wir heute noch kennen. Bei aller Dominanz von Herrschaft – Geschichte war nie eindimensional.
Es zieht sich auch ein emanzipatorischer Faden durch sie, mal mehr, mal weniger sichtbar. Viele seiner Spuren wurden mit buchstäblichem Feuereifer ausgelöscht, der sich oft an Schriften und nicht selten auch an Menschen austobte. Doch wie dünn er zeitweise auch war, der emanzipatorische Faden ist nie ganz verschwunden. Übrigens ist er kein alleiniges Kind des „Westens“. Die atheistische, materialistische und hedonistische altindische Philosophenschule Charvaka verspottet schon im 3. Jahrhundert v.u.Z. Priester und Religion und fordert Lebensgenuss im Hier und Jetzt ein. Bereits die Autoren des Alten Testaments mussten sich mit dem „hochnäsigen“ Gottlosen herumschlagen, der sich nicht so recht vor dem Herrn fürchten mochte: „’Es gibt keinen Gott‘ – dahin gehen alle seine Gedanken.“ (Psalm 10,4, https://bibeltext.com/text/psalms/10.htm) Seit der Antike kennen wir Stimmen, die sich nicht abfinden mit dem Nichtglauben an die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung. Die Philosophen Demokrit, Epikur und Lukrez stehen explizit für ein Gegenprogramm, das die Götter praktisch entsorgt und die Selbstermächtigung der Menschen propagiert. Anders als Platon und Aristoteles konnte die Kirche jene nie auch nur ansatzweise in ihre Erzählung integrieren, und sie hat es vernünftigerweise erst gar nicht versucht. Lukrez‘ (sein vollständiger Name lautet: Titus Lucretius Carus) Wiederentdeckung in der Renaissance (genauer: der Fund einer Ausgabe seines Hauptwerks „De rerum natura“ im Jahr 1416 in einem Kloster, wo es die Jahrhunderte überdauert hat) beflügelte Geister wie Poggio Bracciolini, Desiderius Erasmus, Thomas Morus, Pierre Gassendi und den Verfasser des „Theophrastus redivivus“, der ersten umfassenden Religionskritik seit der Antike.
Natürlich steht auch die Aufklärung für Religionskritik. Aber nicht nur dafür. Einige ihrer Denker treiben die Kritik weiter und lösen sich – anders als etwa Immanuel Kant – schon frühzeitig von der modernen Rationalität des weißen Mannes. So kritisiert Georg Forster explizit Kants Rassismus, Denis Diderot lässt kein gutes Haar an der Sklaverei, Claude Adrien Helvétius verlangt schon Mitte des 18. Jahrhunderts die Gleichstellung der Frau und auch Jean Mesliers atheistisch-kommunistische Gesellschaftskritik passt in die Zeit. (Siehe z.B. J.I. Israel: Radical Enlightenment: Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750, 2001 oder: ders. u. Martin Mulsow (Hrsg): Radikalaufklärung, 2014) Niemand steht so sehr für radikale Religions- und Kapitalismuskritik wie Karl Marx. Und auch er, der über Demokrit und Epikur dissertierte (Karl Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEW 40 – Ergänzungsband, erster Teil -, S.256 ff.), spinnt den emanzipatorischen Faden weiter, den andere begannen.
Und heute? Ist es das moderne Konkurrenzsubjekt, das sich für die Seebrücke engagiert? Gegen AfD & Co? Für BlackLivesMatter und MeToo? Zum Glück sind wir nicht allein von der abstrakten Herrschaft des Werts und der Diktatur des Marktes geprägt. Denn aus einer vollständig durchkapitalisierten Gesellschaft gäbe es kein Entrinnen. Die Hoffnung auf Emanzipation kann sich überhaupt nur auf das gründen, was nicht von Gott und Wert integriert und integrierbar ist. Und um auch einmal nicht nur über Religionen zu lästern: Wenn der Papst aufruft gegen Armut, Hunger und Elend – spricht da der Ellenbogenegoismus des Warenverkäufers? Christen und Juden nennen es Nächstenliebe, Muslime Barmherzigkeit. Zwar ist, wo eine „höhere Macht“ gebraucht wird, um Humanität einzufordern, Emanzipation nicht wirklich zuhause. Aber ihr matter Abglanz fällt sogar in diesen Winkel.
Gott und der Wert wollen nichts außer sich dulden. Sie schaffen es nicht. Zum Glück.
Der Text wurde im Dezember 2021 auch in Die Gretchenfrage neu gestellt (Krisis 2/2021) Über das Verhältnis von Kapitalismus, Religion und Religionskritik im 21. Jahrhundert veröffentlicht