Postnationalsozialistische Zustände

Zwei Beiträge zur Kritik deutscher Normalität

[Beitrag von Emanzipation und Frieden zum Reader des Gegenkultur-Verlages „Aber hier leben, nein danke. Beiträge gegen Staat, Nation und Kapital“, benannt nach der gleichnamigen Konferenz vom 3. Oktober 2013 in Stuttgart. Nachdem der Gegenkultur-Verlag bereits die Veröffentlichung unseres Textes Was ist Antiamerikanismus? abgelehnt hatte, erschien auch der folgende Text dort leider nur unvollständig.]

Deutschland – eine „normale“ Nation? Wohl kaum. Der Nationalsozialismus fiel weder vom Himmel noch ist er 1945 einfach so in die Hölle gefahren. Er hat seine Wurzeln in deutscher Geschichte und Ideologie. Und so wie er nicht zufällig in Deutschland ausbrach, dieses Land also schon lange vor 1933 ein prä-nationalsozialistisches Land war, ist Deutschland nach 1945 ein post-nationalsozialistisches Land geblieben. Fortwesende deutsche Selbstgerechtigkeit manifestiert sich heute besonders gerne im Gejammere über „unser Leiden“ unter Bombennächten,Vertreibungen und was man „uns“ sonst noch alles so angetan habe. Auch die alte Überheblichkeit lebt fort und kommt nunmehr besonders gerne im Gewande der Demut daher. „Andere Völker“ würden „uns“ um das Holocaust-Mahnmal beneiden, sprach ein führender Historiker und konnte sich des rauschenden Beifalls der wohlanständigen Mitte dieser Gesellschaft sicher sein. Wie wenig der Nationalsozialismus entgegen allen Beteuerungen aufgearbeitet ist, zeigt sich nirgends deutlicher als im völligen Unverständnis des Antisemitismus, von dem man eigentlich nur weiß, dass er irgendwie schlecht ist. Hätte man ihn hingegen begriffen, müsste ein regressiver Antikapitalismus, der von “den Gierigen, die uns alle aussaugen” phantasiert, auf entschiedenen Widerstand stoßen. Doch ganz im Gegenteil, seit Beginn der Krise 2008 grassiert er. Und in obszöner Selbstgerechtigkeit meint man in Deutschland, ausgerechnet aus der Shoah mehr gelernt zu haben als die Juden. Deswegen sind zwar zwei Drittel der Deutschen davon überzeugt, vom jüdischen Staat gehe die größte Gefahr für den Weltfrieden aus, aber Antisemit ist selbstverständlich keiner von ihnen.

Zwei Texte von „Emanzipation&Frieden“ befassen sich mit unterschiedlichen Aspekten fortbestehender deutscher Ideologie. „zusammen einzigartig selbstgerecht“, erschienen aus Anlass des „Tages der deutschen Einheit“ 2013, widmet sich antisemitischen Denkmustern, die leider auch von vielen Linken geteilt, allerdings nicht als solche erkannt werden. „Wir deutschen Opfer sind die Guten“ betrifft, das sei zu ihrer Ehre gesagt, weniger die Linken als vielmehr die Mehrheitsgesellschaft. Interessant für linke Analyse ist der Text trotzdem. Denn er erläutert am Beispiel des Bundes der Vertriebenen, wie gut sich Geschichtsrevisionismus mit aktuellem deutschen Selbstmitleid in Sachen „Bombennächte und Vertreibung“ verträgt und vermittelt damit, wenn auch auf andere Weise als der erste Text, einen weiteren Einblick in das Seelenleben einer postnationalsozialistischen Gesellschaft, die bis heute keine „normale“ Nation wurde und deren Schoß immer noch fruchtbar ist.

 

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zusammen einzigartig selbstgerecht

die deutsche Ideologie lebt fort. auch unter linken, die hetze gegen spekulanten und antizionismus für fortschrittlich halten.

Eine Flugschrift aus Anlass des 3. Oktober 2013

Zusammen einzigartig“ findet sich Deutschland und feiert seinen „Tag der Deutschen Einheit“. Wie sollte sich dieses Land auch anders feiern? Ein „Tag der Deutschen Freiheit“ wäre ja auch nicht besser. Schon ein Blick auf die Nationalhymne verrät das. Dort nimmt die Freiheit bekanntlich den letzten Platz hinter der „Einigkeit“ und dem „Recht“ ein. Doch was soll’s, es ist ja sowieso nicht die Freiheit des Individuums gemeint, sondern diejenige des „deutschen Vaterlands“.

postnationalsozialistische volksgemeinschaft

Das Faible der Deutschen für ihre Einheit hat Tradition. Schon im zweiten Satz seines Bestsellers jammerte ein deutscher Hoffnungsträger anno 1925 über die „Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung“ ihm als „Lebensaufgabe“ erschien. 13 Jahre später erscholl Jubel von beiden Ufern des Inn. Der Führer hatte Österreich heim ins Reich geholt und konnte sich fortan anderen Aufgaben widmen. Wenn es später nicht mehr ganz nach Plan lief, so nicht wegen der Deutschen, die sich mit Shoah und Vernichtungskrieg schließlich redlich Mühe gegeben hatten, sondern wegen der Alliierten, die ihrem Treiben, wenn auch reichlich spät, ein Ende setzten. Die Deutschen besannen sich daraufhin alter Tugenden und jammerten mal wieder um die Einheit, die ihnen unverständlicherweise geraubt worden war.

Das „einig deutsche Vaterland“, im Osten von Parteifunktionären besungen, schmachtete „dreigeteilt“ auf Landkarten, mit denen Oberstudiendirektoren westdeutsche Klassenzimmer schmückten. Doch bald gab es auch wieder Grund zur Freude in Nachkriegsdeutschland. Wir sind wieder wer – und zwar das, was uns zusteht, nämlich Weltmeister, klopfte man sich 1954 auf Schulter und Schenkel. Ein knappes Jahrzehnt nachdem ihnen das blutige Handwerk gelegt worden war, grölten die Wehrmachtsverbrecher ihr „Deutschland, Deutschland über alles!“ durch das Stadion von Bern.

innenansichten einer „geläuterten nation“

Aber heute schwört man doch ständig „Nie wieder“ und in Berlin steht sogar ein Holocaust-Mahnmal. Doch im Gewand der Demut kommt alte Überheblichkeit daher. „Andere Völker beneiden uns um dieses Mahnmal.“ Für diesen perversen Satz wurde Eberhard Jäckel, ein führender Historiker dieses Landes, nicht etwa mit Tomaten beworfen, sondern von der wohlanständigen Mitte der Gesellschaft mit rauschendem Beifall bedacht (Ansprache zur fünfjährigen Jubiläumsfeier des Holocaust-Mahnmals, 10.05.2005). Diese vorbildliche Trauerarbeit soll uns erst mal einer nachmachen. So, und jetzt dürfen wir wieder stolz sein auf Deutschland. Und über Bombennächte und Vertreibung jammern. „Die Nazis“ findet man ganz schlimm, will aber keineswegs wahrhaben, dass es die Deutschen waren, deren übergroße Mehrheit die Verbrechen aktiv tätig und wohlwollend duldend beging. Je länger die NS-Zeit zurückliegt, um so lieber sonnt man sich im Lichte der verdammt wenigen, die Widerstand geleistet haben.

Doch in Wirklichkeit lebt der Nationalsozialismus in dieser angeblich so geläuterten Nation fort. Der Satz: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“ wird lediglich von 49,7 % der Deutschen völlig abgelehnt. „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ nur von 48,9%. „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ gerade noch von 34,1% und „Wir sollten endlich wieder mehr Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“ kaum noch überraschend von lediglich 15,9%. (Universität Leipzig, kumulierte Stichprobe 2002-2012 www.uni-leipzig.de/pm2013-rechtsextremismus.pdf) Der verbreitete Hass auf Menschen, die „uns Deutschen“ angeblich „auf der Tasche liegen“, seien es Hartz-IV-Empfänger, Griechen, Muslime oder andere manifestiert sich in der Unterstützung von 56% der Deutschen für die ekligen Thesen eines Thilo Sarrazin, der von Menschen spricht, die getreu der unreflektierten kapitalistischen Logik „ökonomisch überflüssig sind“ und „ständig kleine Kopftuchmädchen produzieren“ (Handelsblatt, 6.9.2010). Kein Wunder, dass eine neonazistische Mörderbande jahrelang unentdeckt blieb. In solcher Umgebung schwimmen die Täter wie Fische im Wasser. Auch herrscht das Ressentiment bei weitem nicht nur „unten“, bei „den Bildungsfernen“. Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Forderung von Etabliertenvorrechten und Antisemitismus sind in der höchsten Einkommensgruppe sogar noch stärker verbreitet als in der niedrigsten (vgl. Heitmeyer 2012, 28).

nirgendwo antisemiten?

Wie wenig der Nationalsozialismus entgegen allen Beteuerungen aufgearbeitet ist, zeigt sich nirgends deutlicher als im völligen Unverständnis des Antisemitismus. Nichts davon ist begriffen, dass er falscher und gefährlicher Antikapitalismus ist, der sich ein Ränkespiel der „betrügerischen Raffgier“ gegen die „ehrliche Arbeit“ einbildet, zwischen „gutem“ Kapital und „schlechtem“ Finanzkapital unterscheidet und ernsthaft glaubt, dass eine kleine Minderheit „das Geld regiert“. Exakt diese Meinung aber grassiert seit Beginn der Krise 2008 in der ganzen Gesellschaft. Im Hass auf „die gierigen Bankster und Spekulanten“ lebt erneut unreflektierter Pseudo-Antikapitalismus auf, der keine Ahnung von der subjektlosen Herrschaft des Kapitals hat. In diesem Schoß schlummert das Pogrom.

Regelrecht obszön ist die deutsche Selbstgerechtigkeit gegenüber Israel. Meint man doch, ausgerechnet aus der Shoah mehr gelernt zu haben als „die Juden“. Zwei Drittel der Deutschen halten den jüdischen Staat für die größte Gefährdung des Weltfriedens (SZ, 25.10.2010), aber Antisemit ist natürlich keiner von ihnen. Ob ein halbseniler Dichter und Denker in irrer Verdrehung unterstellt, Israel wolle den Iran auslöschen oder ein verschwörungsdepperter Spiegel-Kolumnist „die ganze Welt am Gängelband“ des israelischen Regierungschefs wähnt – stets raunt ein Oh, wie mutig, der traut sich zu sagen, was man ja nicht sagen darf durch das Land, in dem man „Israelkritik“ für ein unveräußerliches Menschenrecht hält. Vom „Nahostkonflikt“ hat man keine Ahnung, kennt aber den Schuldigen. Wer weiß schon, dass es nie einen Staat Palästina gab oder dass 78% des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina schon seit 90 Jahren arabisch sind? Wer nimmt schon die täglichen Vernichtungsdrohungen gegen Israel und seine Bewohner_innen zur Kenntnis geschweige denn ernst? Wie viele Nie wieder-Schwörende haben begriffen, dass Jüd_innen nie wieder Opfer sein wollen? Dass Israel eine jüdische Notwehrmaßnahme in einer Welt voller Antisemitismus ist? Dass es aus gutem Grund bis an die Zähne bewaffnet ist und der „Völkergemeinschaft“ misstraut? Wer ärgert sich über die umfangreichen deutschen Handelsbeziehungen zum iranischen Gottesstaat? Solche Petitessen bewegen fast niemanden. Doch wer das Wort „Siedlungspolitik“ aufsagen kann, gilt als Nahostexpert_in. Dass es bei der verbreiteten „Israelkritik“ in Wirklichkeit nicht um die eine oder andere Politik, sondern um Antisemitismus geht, wird auch deutlich, wenn drei Viertel der Deutschen den Satz „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ nicht völlig ablehnen (Decker, Kiess, Brähler, 2012).

was zu bemerken wäre

Der Nationalsozialismus war mehr als nur Faschismus. Shoah und Vernichtungskrieg sind das singuläre Werk der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft. Wer, wie viele Linke, auch 70 Jahre nach der Shoah noch in der bequemen Vorstellung von den bösen Herrschenden und dem guten Volk lebt, hat den Antisemitismus bis heute nicht verstanden. Der ist nämlich weder ein „Instrument der Herrschenden“ noch eine Unterart des Rassismus. Er ist das voll entfaltete regressiv-antikapitalistische Ressentiment, das im Vernichtungswahn gegen die vermeintlich Schuldigen kulminiert. Er kann innerhalb kürzester Zeit die ganze Gesellschaft erfassen und sein barbarisches Potential entfalten. Im Mai 1928 erhielt die NSDAP ganze 2,6 % der Stimmen. Keine 14 Jahre später beschloss die Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“. Das „Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz, das sich weder Marktwirtschaftsgläubige noch Arbeiterklassenfans wirklich erklären können, entsprang dem Wunsch der deutschen Volksgemeinschaft, „die Gierigen“ im Namen der „ehrlich Arbeitenden“ aus der Welt zu schaffen. Und wer den Antisemitismus nicht versteht, hat Israel schon gar nicht verstanden. Folglich wetteifern manche Linke mit Nazis und Islamisten um die Dämonisierung des jüdischen Staates.

Gut, wenn Linke gegen Nazis demonstrieren. Gut, wenn sie gegen Rassismus und für das Bleiberecht von Flüchtlingen eintreten. Da haben sie wesentlich mehr kapiert als große Teile der Mehrheitsgesellschaft. Doch der Glaube, Antifaschismus sei automatisch frei von Antisemitismus, ist Mainstream pur. Nicht nur die „Rote Fahne“ der KPD vor 1933, die Kampagnen gegen „zionistische Verschwörer“ im ehemaligen Ostblock und die personalisierende Pseudokritik der RAF samt ihrer Kumpanei mit palästinensischen Terroristen haben das Gegenteil bewiesen. Viele Linke tun es immer noch.

Gegen Nazis und gegen „gierige Spekulanten“ sein ist wie gegen Gift sein und es verbreiten. Gegen Nazis und gegen Israel sein ist wie gegen Giftgas sein und Gasmasken ablehnen. Nazis kann man umso besser bekämpfen, je weniger Gemeinsamkeiten man mit ihnen hat.

Literatur:

Was ist regressiver Antikapitalismus? Anmerkungen zum Unterschied zwischen Kapitalisten- und Kapitalismuskritik 

Was ist Antisemitismus? Anmerkungen zur Wahnwelt des unreflektierten Antikapitalismus

Was ist Antiamerikanismus? Anmerkungen zur grassierenden Selbstgerechtigkeit 

Was ist Antizionismus? Anmerkungen zum Hass auf den Juden unter den Staaten

Was ist Antiimperialismus? Anmerkungen zum Niedergang der Linken

Olaf Kistenmacher, Klassenkämpfer wider Willen. Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, Jungle World 14.07.2011

Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) Deutsche Zustände: Folge 10. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012

Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar. Die Mitte im Umbruch: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, 2012

Eine Flugschrift von emanzipation&frieden – anti-capitalism revisited

September 2013

 

 

Wir deutschen Opfer sind die Guten

Wie der „Bund der Vertriebenen“ die Brücke zwischen Nazi-Großeltern und aktueller deutscher Selbstgerechtigkeit schlägt

„Wie Wellenbrecher stehen die Randgebirge dem fremden Anspruch im Wege. Manchmal schlug die imperialistische Springflut sturmgepeitscht über diese Wellenbrecher. Davon ist ein breites Band nationales Brackwasser zurückgeblieben. Das sind die sogenannten Sudetendeutschen.“ Franz Werfel in dem Aufsatz „Das Geschenk der Tschechen an Europa“, 1938 (nach dem 1945 verstorbenen Werfel ist – ohne seine Zustimmung – der Preis des „Zentrums gegen Vertreibungen benannt)

Er nennt sich „Bund der Vertriebenen“ (BdV) und nimmt für sich in Anspruch, als „Opferverband“ alle deutschen „Vertriebenen“ zu präsentieren. Mit der Bezeichnung „Vertriebene“ wird die Gruppe von Deutschen bezeichnet, die während bzw. in Folge des Zweiten Weltkrieges ihre Wohnorte verlassen musste. Anders als die Bezeichnung „Vertriebene“ nahelegt, geschah das in sehr unterschiedlichen Formen. So gehört dem Dachverband „Bund der Vertriebenen“ eine „Landsmannschaft der Baltendeutschen“ an. In ihr sammeln sich Angehörige der ehemaligen deutschsprachigen Minderheit im Baltikum und ihre Nachkommen. Diese Bevölkerungsgruppe wurde im Rahmen von Vereinbarungen zwischen Deutschland, Estland und Lettland nach freiwilliger Option der Mehrheit ihrer Mitglieder „heim ins Reich“ umgesiedelt. Vertrieben wurde jedenfalls keiner von ihnen. Vertrieben wurden allerdings Polen und Juden (noch bevor sie von den Deutschen nach dem Überfall auf die Sowjetunion ermordet wurden) im Zuge einer „Entpolonisierung und Entjudung“ aus dem annektierten Westpolen, um Platz für die baltendeutschen Neusiedler zu schaffen.

Auch die Pommern, Ostpreußen und Schlesier wurden nicht alle einfach vertrieben. Ein Teil floh aus eigener Motivation oder auf Anweisung der NS-Behörden vor der immer näher rückenden Ostfront. Weitere wurden bürokratisch um- bzw. ausgesiedelt. Die Selbstbezeichnung als „Vertriebene“ ist ein Konstrukt und sollte immer in Anführungsstrichen geschrieben werden, auch wenn es unzweifelhaft zu wilden Vertreibungen und dabei zu Menschenrechtsverletzungen kam. Neuere Forschungen halten die BdV-Angaben von zwei Millionen deutschen Opfern allerdings für übertrieben und sprechen von etwa 500.000 bis 600.000. (Vertriebenen-Verband nennt falsche Opferzahlen, Moderation: Stefan Koldehoff, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/563831) Doch ohne den Holocaust und den rassistischen deutschen Vernichtungskrieg, ohne die über 50 Millionen Menschenleben, die auf das Konto der deutschen Verbrecher gingen, wäre es auch nicht zu den Übergriffen auf Deutsche gekommen, von denen sich im Übrigen sehr viele aktiv oder zumindest billigend an den monströsen Nazi-Verbrechen beteiligt hatten.

Im „Bund der Vertriebenen“ sammelt sich seit Jahrzehnten derjenige Teil der Ausgesiedelten und Flüchtlinge, der sich mental nicht in die Bundesrepublik und die Nachkriegsordnung integrieren wollte. Bis heute existiert ein nicht saturierter Flügel der Vertriebenenverbände, der nicht bereit ist, die Oder-Neiße-Linie als Grenze anzuerkennen. Trotzig heißt es hier bis heute: „Schlesien bleibt unser!“. Zur Aufrechterhaltung alter Ansprüche inszenieren sich die „Vertriebenen“ als „Volksgruppen im Exil“. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs versuchte dieser Flügel ins neu zugänglich gewordene Osteuropa zu expandieren und hier Einfluss zu gewinnen. Die territoriale Expansion scheiterte, doch Einfluss konnten sich die finanzkräftigen deutschen „Vertriebenen“ im ärmeren Osteuropa durchaus verschaffen. Besonders die Vertriebenen-Nachwuchsorganisationen haben bis heute beste Verbindungen ins extrem rechte Lager. Mehr dazu unter www.emafrie.de/die-offene-rechte-flanke-des-bundes-der-vertriebenen/

Täter = Opfer. Frau Steinbachs Beitrag zum Umlügen der Geschichte.

Wer glaubt, der BdV sei nur eine folkloristische Trachtengruppe, geht fehl. Scheinbar moderatere, in Wahrheit aber eher pragmatischere Teile der „Vertriebenen“-Verbände haben sich seit einiger Zeit vom erfolglosen Gebietsrevisionismus abgewandt und versuchen sich nun lieber in einer Geschichtsumschreibung. Berufs“vertriebene“ wie die BdV-Präsidentin Erika Steinbach (übrigens die 1943 geborene Tochter eines Besatzungssoldaten in Polen) betreiben aktiv und erfolgreich Lobbyarbeit für ein Geschichtszerrbild, das zunehmend auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft geteilt wird. Wenn die „Vertriebenen“ zu den eigentlichen Opfern des Zweiten Weltkrieges erklärt werden, so passt das hervorragend in die hierzulande seit

einigen Jahren äußerst beliebte Entdeckungstour deutscher „Opfer“ und das Jammern über Bombennächte, Gustloff etc. Steinbachs Selbstgerechtigkeit ist leider nicht von gestern, sondern topaktuell: Sie verträgt sich gut mit der verbreiteten „Schlussstrich“-Mentalität: „Wir wollen nichts mehr hören, lasst uns in Ruhe, wir wollen endlich eine ganz normale Nation und stolz sein dürfen, Deutsche zu sein“ – so schreit es aus der Volksseele., Die ausgesprochene Opfermentalität ist dabei spätestens seit dem Versailler Vertrag kein wirklich neues Element im deutschen Nationalismus. In diesem Diskurs sind die Deutschen immer Opfer: der Entente, der Juden, der Freimaurer, der Amis, des perfiden Albion, der Russen bzw. Bolschewisten… Der Zweite Weltkrieg erscheint in dieser Perspektive als Bestandteil einer bereits vor Jahrtausenden begonnenen und auch heute fortgesetzten weltweiten Praxis von Krieg und Vertreibung. Heraus kommt bei dieser schamlosen „Neuinterpretation“ der Geschichte, dass „wir alle“ doch irgendwie die Opfer waren. Ursache und Wirkung werden vertauscht, Täter und Opfer nicht mehr unterschieden, ja selbst einer „Holocaustisierung“ des Flucht- und Vertreibungsdiskurses wird so der Weg geebnet. (Andreas F. Kelletat, www.bohemistik.de/kelletat.html )

Die „Charta der Heimatvertriebenen“ von 1950 – ein Grund zum Feiern?

Die „Charta“ wurde am 5. August 1950 von Männern beschlossen und unterzeichnet, die ohne eine Legitimation als Repräsentanten ihrer jeweiligen „Volksgruppe“ auftraten. Sie wurde am 6. August in Stuttgart auf einer Protest-Versammlung gegen die fünf Jahre zuvor stattgefundene Potsdamer Konferenz verkündet, in der die Mitglieder der Anti-Hitlerkoalition weite Teile der Nachkriegsordnung festlegten. Stuttgart war übrigens nicht zufällig gewählt, denn die Stadt hat eine besonders unrühmliche Tradition: Hitler verlieh ihr bereits 1936 in “Würdigung ihrer Verdienste um die Deutschen und das Deutschtum im Ausland“ den „Ehrentitel Stadt der Auslandsdeutschen”. (http://von-zeit-zu-zeit.de/index.php?template=bild&media_id=391) Der „Tag der Heimat“ wurde eine feste Tradition des BdV. Ihm gilt die „Charta“ als das „Grundgesetz der vertriebenen Deutschen“ (Herbert Czaja) und als moralische Grundlage für das „Zentrum gegen Vertreibungen“. Heute stets betont wird der in der „Charta“ festgeschriebene „Verzicht auf Rache und Vergeltung“. Nun kann aber nur auf das verzichtet werden, was einem legitimerweise zusteht. Die hochindustrialisierte deutsche Gesellschaft, die sich so viel auf ihre „Kultur“ und Wissenschaft zugute hielt, hatte die monströsesten Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu verantworten. Angehörige dieser Gesellschaft, die in der Mehrheit die NS-Verbrechen mit trug und die sich, wie es in der „Charta“ heißt, „im Bewusstsein ihres deutschen Volkstums“ sehen, verzichten also auf Rache an ihren ehemaligen Opfern. Zu großmütig! Ganz und gar zur Realsatire wird dieses Verzichts-Schauspiel, wenn man sich die Biografien der Unterzeichner genauer anschaut, die in ihrer Mehrheit aktive Nazis waren. Kein Wunder, dass die „Charta“ ein „Recht auf Heimat“ einfordert und behauptet: „Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.“ Folgerichtig wird auch nirgendwo in der „Charta“ die Vorgeschichte zu der Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen erwähnt. „Diese Äußerungen der Vertriebenenfunktionäre sind an Realitätsblindheit, Wahrnehmungsschwäche, Egozentrismus und mangelnder Empathie für das Leiden anderer schwerlich zu überbieten.“ (Michael Brumlik) Diese „Charta“ ist bis heute gültig! Statt sie zu feiern, sollte sie besser dorthin wandern, wo sie von Anfang an hingehörte: auf den Müllhaufen der Geschichte.

Weiterführendes:

* Micha Brumlik: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005. * Erich Später: Kein Frieden mit Tschechien, Hamburg 2005. * Samuel Salzborn: Grenzenlose Heimat? Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Vertriebenenverbände, Berlin 2000. * Jenseits von Steinbach, Zur Kontroverse um ein Vertreibungszentrum im Kontext des deutschen Opferdiskurses, http://.agi.blogsport.de

Emanzipation und Frieden, Juli 2010