Schwarzpulver: Der deutsche Robin Hood

von Minh Schredle

Freiburger Gelehrte hätten gerne, dass ein Mönch aus ihrer Stadt das Schwarzpulver erfunden hat. Auf dem Marktplatz in der Altstadt steht ein Denkmal zu Ehren von Berthold Schwarz – doch bei der Inschrift stimmt überhaupt nichts. 

In einem Laboratorium voller Tiegel und Phiolen, umstellt mit Büchern ringsherum, “sitzt Bruder Berthold, eingewiegt // In grübelnde Gedanken”: So malte sich der Freiburger Schriftsteller August Schnelzer in einem Gedicht von 1846 die Kulisse in aus, in der alchemistische Experimente zu einer durchschlagenden Entdeckung geführt haben sollen – auch wenn Ordensbruder Berthold Schwarz dabei eigentlich andere Absichten verfolgte: 

Er sucht umsonst die Goldtinktur, 
Es will ihm nicht gelingen 
Dem Zaubermeister der Natur 
Den Schlüssel abzuringen; 
Er stampft im Mörser ämsiglich 
Salpeter, Kohlen, Schwefel, 
Und rief’ den Teufel gern zu sich, 
Wär’s nur kein solcher Frevel. 

Nun schürt die Glut er wieder frisch, 
Daß alle Funken spritzen, 
Und einer springt in das Gemisch 
Und plötzlich jagt mit Blitzen 
Die Mörserkeul’ ein Donnerschlag 
An des Gewölbes Decken; 
Geschleudert auf den Boden lag 
Der Mönch im Todesschrecken.

Die Entdeckung des Sprengstoffs durch einen Arbeitsunfall: Von dieser Geschichte gibt es im deutschen Sprachraum unzählige Variationen. In einigen Versionen sollen etwa erschrockene Brüder herbeigeeilt sein und sie konnten den ins Deckengebälk katapultierten Stößel nicht mehr herausziehen, obwohl sie kurz zuvor sogar Reliquien der heiligen Barbara berührt hätten. Daher unterstellt eine volkstümlich-pseudowissenschaftliche Etymologie, dass das Schwarzpulver nach Berthold Schwarz benannt sei, militärische Mörser aufgrund dieses Vorfalls so hießen und die heilige Barbara seither nicht nur als Schutzpatronin der Bergleute, sondern auch der Artillerie gelte. 

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Junge Alternative – Die jungen Extremen

von Lucius Teidelbaum

Die AfD-Jugend “Junge Alternative” (JA) löst sich nach zwölf Jahren auf. Auch in Baden-Württemberg. Mit der Nachfolge-Organisation könnte auf einen Schlag die größte extrem rechte Jugendorganisation der deutschen Nachkriegsgeschichte entstehen. Eine Bestandsaufnahme.

Die Aufregung war groß, als Anfang Dezember 2024 die Pläne der Parteispitze in der Jungen Alternative bekannt wurden. Nils Hartwig, der Vize-Bundesvorsitzende, reagierte mit martialischen Worten: “Jetzt heißt es Stahlhelm auf und ab in den Schützengraben. Unsere JA nehmen sie uns nicht.”

Auf ihrem Bundesparteitag beschloss die AfD am 12. Januar 2025 mit einer Zweidrittelmehrheit die Auflösung der offiziellen AfD-Parteijugend Junge Alternative, um sie dann in anderer Form unter anderem Namen wieder zu gründen. Bisher war die JA ein nichteingetragener Verein, nun soll eine neue Jugendorganisation innerhalb der AfD gegründet werden, der automatisch alle Partei-Mitglieder unter 35 Jahren angehören. In der AfD wird vom “Juso-Modell” gesprochen, denn in der SPD gehört auch jedes Mitglied bis 35 Jahre automatisch zur Gruppe der Jusos. Wobei das Beispiel hinkt, denn es ist durchaus möglich, Mitglied der Jusos zu sein, ohne der SPD anzugehören – und genau diese Möglichkeit will die AfD bei ihrer Jugendorganisation nicht mehr.

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Antisemitismus und die AfD

Buchvorstellung und Diskussion mit Stefan Dietl

Montag, 12. Mai 2025, 19.30 Uhr, Stuttgart

Hotel Wartburg, Lange Straße 49

Eine gemeinsame Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Region Stuttgart und des Fördervereins Emanzipation und Frieden

Antisemitismus ist in der AfD allgegenwärtig. Immer wieder attackiert die Partei unter Rückgriff auf antisemitische Stereotype prominente Vertreterinnen jüdischen Lebens, teilen führende AfD-Funktionärinnen antisemitische Verschwörungserzählungen oder relativieren die Verbrechen des Nationalsozialismus. Trotz der zahlreichen einschlägigen Skandale in ihrer noch jungen Parteiengeschichte wird dem Antisemitis­mus in der Analyse der AfD jedoch kaum Beachtung geschenkt.

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“Die CDU braucht die AfD”

ein Kommentar der Redaktion Sachzwang FM

Frage: Ist bei einem kriminellen Gewalttäter bspw. aus Hessen, der in Sachsen offenbar wahllos Menschen angreift, seine Herkunft das ausschlaggebende Moment für die Sachlage – oder die psychisch-mentale Disposition des Täters? Die Frage ist offenbar rein rhetorisch und nicht ernstzunehmen. Frage: Ist bei einem Gesinnungstäter bspw. aus Niedersachsen, der in Bayern gezielt politischen Terror verübt, seine Herkunft das ausschlaggebende Moment für die Sachlage – oder die ideologische Ausrichtung des Täters? Auch diese Frage ist leicht zu beantworten.
Ist aber der Täter nicht deutsch (und zwar nach volkstümlich-rassistischen Kriterien, Staatsbürgerschaft spielt mittlerweile kaum noch eine Rolle), so scheinen alle Sicherungen durchzubrennen: Weder die psychischen Beschädigungen eines Menschen noch seine politisch-ideologische Fanatisierung sind dann ursächlich, sondern: daß er ein Ausländer ist. Dann muß er raus! Egal, ob er woanders das Blutbad anrichtet, das vielleicht “hier bei uns” passiert ist. Er muß auf jeden Fall anders bestraft werden als ein Deutscher, der dasselbe tut. Er muß raus!

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Die Grünen als rechtes Feindbild

von Lucius Teidelbaum

Am 14. Februar 2024 fand in Biberach ein wutbürgerlicher Protest gegen eine Aschermittwoch-Veranstaltung der Grünen mit Jürgen Trittin, Ricarda Lang und Cem Özdemir statt, der es in die Tagesschau schaffte. Etwa 300 bis 400 Personen demonstrierten im Windschatten der Agrar-Proteste. Darunter waren auch extreme Rechte z.B. Reichsbürger. Es blieb nicht friedlich. Es wurden zehn Brände gelegt, die Scheibe eines ministeriellen Begleitfahrzeugs eingeschlagen und mehrere Polizeibeamte verletzt. Von den den Demonstrierenden wurde u.a. „Lügenpresse“ skandiert und ein Bild-Journalist bedroht. Ein Plakat trug die Aufschrift „Wers Land verkauft und Bauern fängt ist wert dass er am Galgen hängt!“. In der Folge musste die Veranstaltung abgebrochen und wurde zum Tagesschau-Thema.

Der Hass gegen Grüne scheint sich zu einem der Hauptantriebsmittel der extremen und teilweise auch der konservativen Rechten und diverser Wutbürger*innen entwickelt zu haben. Dabei schwankt man zwischen Verhöhnung und Dämonisierung. Es geht dabei nicht um eine rationale oder eine nur ein wenig verschärfte Debatte, sondern um eine Eskalation auf sprachlicher Ebene, der die Eskalation auf der physischene Ebene gefolgt ist wie die Ereignisse in Biberach veranschaulicht haben. Social Media allgemein und die einschlägigen rechten Telegram-Kanälen im besonderen laufen über vor Hass und Hetze gegen die Grünen.

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Cancel Culture, aber in echt

Neutralitätspflicht? Von wegen. Rechte Kulturkämpfer greifen Theater in Ostdeutschland an

von Lara Wenzel

Mit den Stichworten »Homo-Propaganda« und »linke Indoktrination« wird das ostdeutsche Theater Zielscheibe rechter Kulturkämpfer. Die Drohungen schlagen sich längst in der Kulturpolitik der Kommunen nieder. Jüngstes Beispiel ist eine Theaterproduktion über die Widerstandsgruppe »Weiße Rose«. Am Theater Burattino im Erzgebirgskreis setzten sich Jugendliche mit den Geschwistern Scholl, Unterdrückung und Widerspruch auseinander.

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“Compact”-Verbot … Wieder durch die Hintertür

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 694 am 17. Juli 2024)

Das rechtsextreme “Compact”-Magazin betrieb einen abstoßenden Schmierenjournalismus, der seine menschenverachtende Hetze absichtlich mit Falschinformationen unterfütterte. Die Art und Weise, wie die Publikation nun verboten wurde, hält unser Autor dennoch für problematisch.

Bei der inhaltlichen Bewertung ist der Bundesinnenministerin voll und ganz zuzustimmen: Das “Compact”-Magazin sei “ein zentrales Sprachrohr der rechtsextremistischen Szene”, erklärte Nancy Faeser (SPD) am vergangenen Dienstag: “Dieses Magazin hetzt auf unsägliche Weise gegen Jüdinnen und Juden, gegen Menschen mit Migrationsgeschichte und gegen unsere parlamentarische Demokratie.” In boulevardesker Manier vermengen sich bei “Compact” Wahlwerbung für die AfD, Verschwörungsgeraune, mal mehr mal minder codierter Antisemitismus und rassistische Hetze insbesondere gegen Muslime mit einer Verharmlosung des Nationalsozialismus und absichtlich gestreuten Lügen. Chefredakteur Jürgen Elsässer erläuterte dazu einmal im Gespräch mit dem RBB: “Es werden Erzählungen gemacht, es werden Märchen und Allegorien formuliert, die dann wabern. Es ist nicht die Wahrheit, aber es hält sozusagen die Volksseele, den Volksdiskurs am Laufen.”

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Die autoritäre Dynamik des Kapitalismus – Wie dem Rechtsruck begegnen?

Vortrag und Diskussion mit Lothar Galow-Bergemann

Mittwoch, 15. Mai 2024, 19.00 Uhr, Wien

Bikes & Rails Wien, Bloch-Bauer-Promenade 9

Eine Veranstaltung von en commun wien

Die Erde erwärmt sich unaufhörlich, die Ozeane werden vermüllt. Hunger und Armut wachsen, selbst in den reicheren Weltregionen. Zoonosen häufen sich. Kriege und Kriegsgefahr werden immer bedrohlicher. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht.

Es mangelt nicht an Konferenzen und Beschlüssen „zur Nachhaltigkeit“. Doch eine Wirtschaftsweise, der unendliches Wachstum, maximaler Profit und steigende Aktienkurse wichtiger sind als das Leben künftiger Generationen, schafft Probleme, die sie selbst nicht lösen, sondern nur weiter vertiefen kann.

Weltweit kämpfen viele Menschen gegen die Folgen an. Die Einsicht, dass Umweltkrise, soziales Elend, rassistische und sexistische Unterdrückung miteinander zusammenhängen, verbreitet sich. Immer weniger Menschen finden sich mit Diskriminierung ab, immer mehr fordern das Recht ein, ohne Angst verschieden sein zu können. Sie verlangen, „dass es nicht mehr so weitergeht“.

Aber viele bestehen auch explizit darauf, „dass es so weitergeht“. Je tiefer die Krise, desto mehr klammern sie sich an das, was keine Perspektive mehr hat. Weiterlesen

Schaufenstersadismus

Die CDU fordert noch härtere Sanktionen für Erwerbslose, die »zumutbare Arbeit« verweigern

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Jungle World)

Die CDU droht mit einer »Agenda 2030« und will noch härtere Sanktionen für Bürgergeld-Beziehende. Dabei kann denen das Existenzminimum bereits vollständig gestrichen werden.

Im November 2022 war die Union noch stolz auf ihre Verhandlungsleistung. Ein Systemwechsel sei bei der Hartz-IV-Reform verhindert worden, informierte die CDU in einer Pressemitteilung: »Sanktionen bleiben, ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt es nicht.« Beim politischen Streit um das Bürgergeld sei ein »guter Kompromiss« mit der Bundesregierung erreicht worden, dem die Union im Bundesrat schließlich zustimmte.

6 Monate später scheint die CDU ihren Erfolg vergessen zu haben. Kürzlich teilte sie in einer Pressemitteilung mit, dass sie „das Bürgergeld in der jetzigen Form abschaffen“ wolle. „Wenn jemand eine zumutbare, angemessene Arbeit ablehnt, die ihm angeboten wurde, passiert nichts. Das kann nicht sein.“ Für Generalsekretär Carsten Linnemann sei es aber „gesunder Menschenverstand“, dass „Menschen, die arbeiten können, auch arbeiten gehen müssen“. Für die CDU steht fest: „Wer zumutbare Arbeit mehr als drei Monate verweigert, gilt nicht als bedürftig“ und soll deshalb über die Zahlungen für Miete und Nebenkosten hinaus keinerlei Unterstützung vom Staat bekommen. Das ist der Partei so wichtig, dass sie eine Reform des Bürgergelds sogar zur Bedingung für eine Koalition auf Bundesebene erklärt.

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Sticker: Deutschland entnazifizieren, AfD-Verbot jetzt!

Alle unsere Sticker sind unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0 International Public License frei verfügbar, um sie z.B. selbst in den Druck zu geben. Siehe hier.

Bestellungen per Mail an bestellungen[at]emanzipationundfrieden.de

Von Träumen und Traumata

Noch bis 3. März 2024 zeigt die Kunsthalle Tübingen in Kooperation mit dem Wiener Sigmund-Freud-Museum die Ausstellung »Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst«.

von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 31. Januar 2024 – 21 Shevat 5784 bei haGalil.com)

Sigmund Freud wurde am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern im mährischen Freiberg, dem heutigen tschechischen Příbor, geboren und übersiedelte als Dreijähriger mit seiner Familie nach Wien.

Im Alter von 26 Jahren verlobte er sich mit Martha Bernays, einer Enkelin des angesehenen Hamburger Oberrabiners Isaak Bernays, die er vier Jahre später nach jüdischem Ritus heiratete.

Nachdem es Freud 1895 erstmals gelungen war, einen seiner Träume vollständig zu analysieren, erschien 1900 sein Werk »Die Traumdeutung«, das als Gründungsdokument der Psychoanalyse in die Geschichte eingehen sollte.

Zwei Jahrzehnte später besuchte ihn der französische Dichter André Breton in seiner Wiener Wohnung in der Berggasse 19. Auch wenn sich der Begründer des Surrealismus in späteren Schilderungen etwas enttäuscht von diesem Zusammentreffen mit Freud zeigte, schmälerte dies seine Begeisterung für die Psychoanalyse nicht und er hielt auch in den folgenden Jahrzehnten an seiner Freudverehrung fest und brachte diese immer wieder in Briefen, Werken und seinen künstlerischen Manifesten zum Ausdruck.

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Menschenopfer für den Wahnsinn

Rezension zu Katja Hildebrands Roman “Mit der Faust in der Hand”

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 669 am 24. Januar 2024)

Als sich die Wehrmacht bereits aus Brettheim zurückgezogen hatte, ließ die SS noch im April 1945 drei Menschen wegen Wehrkraftzersetzung erhängen. Autorin Katja Hildebrand beschreibt die Tragödie aus der Sicht eines Hitlerjungen, der es nach dem Tod seiner Brüder gar nicht erwarten kann, an die Front zu stürmen.

Braucht es wirklich noch ein Hitler-Buch? Sind nicht schon genügend Seiten über die NS-Zeit gefüllt worden? Diese Fragen stellt sich Katja Hildebrand im Vorwort ihres Romans “Mit der Faust in der Hand”. Und sie fand gute Gründe, der vorhandenen Fülle eine weitere Publikation hinzuzufügen. Einmal wäre da die Feststellung, dass die Brettheimer Tragödie im April 1945, als sich die militärische Niederlage des Dritten Reichs bereits überdeutlich abzeichnete, sogar im Ort selbst erschreckend unbekannt sei. Vor allem aber hat Hildebrand als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen bemerkt, wie wenig Material vorhanden ist, das den Zugang zu Themen wie faschistische Indoktrination für Jugendliche attraktiv macht. Ihren Roman erzählt sie daher aus der Perspektive von Georg, einem Hitlerjungen, der sich mit 15 Jahren freiwillig für den Kampf an der Front meldet.

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Audio: Deutschland als Autobahn

Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus

Vortrag und Buchvorstellung von Conrad Kunze

gehalten am 19. Oktober 2023 in Stuttgart

In Griechenland brennen bei 40 °C die Wälder, während zeitgleich in Deutschland eintausend Kilometer Autobahn mehrspurig erweitert werden. Während sonst wenigstens vom Energiesparen gesprochen wird, dürfen überwiegend Männer in SUV („Geländewagen“) mit einem CW-Wert eines Kleiderschranks bei 250 km/h weiterhin auf der linken Spur ihre Impotenzängste abwehren.

Die Gleichzeitigkeit von Dämonisierungsversuchen gegen Klimaschützer*innen und dem nicht einmal mehr verhüllten Gesetzesbruch der Regierenden an den Klima-Sektoren-Zielen lässt abermals zwei Prämissen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hell aufscheinen: die Erniedrigung der Vernunft durch einen vernunftlosen technologischen Verstand und ein ökologisch gewendeter Todestrieb.

In allen (ehemals?) entwickelten Gesellschaften sind diese Erosionsprozesse am Werk. Aber wo es in den USA Schusswaffen und Krankenversicherung sind, kristallisieren sie in Deutschland an der Frage um Autobahn, Tempolimit und Radwege. Der Vortrag geht der Frage nach, warum und wie das Auto zu einem so zentralen Signifikanten für fragilen Maskulinismus und Nationalismus wurde.

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Schikane als Balsam für die bürgerliche Seele

Arbeitsminister Hubertus Heil plant den Bürgergeld-Entzug für Arbeitsunwillige. Eine Spiegel-Kolumnistin führt unter Verweis auf die Studienlage aus, dass die Maßnahme nichts bringen wird  und bezeichnet sie dennoch als „notwendig“ – damit sich die Arbeitenden besser fühlen.

von Minh Schredle

[zuerst erschienen bei Disposable Times]

14 Jahre nach Inkrafttreten der Harz-IV-Reformen urteilte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2019 über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen zur Durchsetzung sogenannter Mitwirkungspflichten, die der deutsche Staat Erwerbslosen und Sozialhilfe-Empfänger:innen auferlegt. Gängig und sogar gesetzlich zwingend vorgeschrieben war es zu diesem Zeitpunkt, die staatlichen Leistungen, mit denen ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert werden sollte, schrittweise zu kürzen: Beim ersten Regelverstoß gegen die Mitwirkungspflichten – zum Beispiel durch die Ablehnung einer als zumutbar eingestuften Beschäftigung – um 30 Prozent, beim zweiten Mal um 60 Prozent und schließlich um 100 Prozent.

Das Bundesverfassungsgericht stellte damals klar, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Grundrecht darstelle. „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren“, hieß es in der Urteilsbegründung, die die damalige Sanktionspraxis als teilweise verfassungswidrig einstufte: Die Kürzungen von 60 und 100 Prozent der Bezüge wurden für rechtswidrig erklärt.

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Nun reicht’s auch der bürgerlichen Mitte

Ein sehr breites Bündnis stellt sich in Göppingen gegen die AfD

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 653 am 4. Oktober 2023)

Der AfDler Hans-Jürgen Goßner schikaniert die Grüne Ayla Cataltepe. Seit Jahren, bei jeder Gelegenheit. Nach einer Eskalation auf dem Stadtfest im gemeinsamen Wahlkreis Göppingen reagiert nun die Zivilgesellschaft.

Die Göppinger Zivilgesellschaft sei “zutiefst alarmiert”, heißt es im Manifest der demokratischen Solidargesellschaft, das ein breites Bündnis von Parteien und Organisationen am vergangenen Dienstag vorgestellt hat. Mit dabei sind Sozialverbände, Glaubensgemeinschaften, Gewerkschaften, Wirtschaftsvertreter und alle demokratischen Parteien im Göppinger Gemeinderat, von FDP bis Linke. Sie haben zusammengefunden nach Vorfällen auf dem diesjährigen Stadtfest, das ein “Ort der Freude, des Miteinanders und der kulturellen Vielfalt sein” sollte, wie es im Manifest heißt. Doch dieses Mal seien die Feierlichkeiten durch das “übergriffige Verhalten” des AfD-Landtagsabgeordneten Hans-Jürgen Goßner und seiner Sympathisanten überschattet worden.

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Theater »Warten auf Tränengas«: Bis einer heult

Das Stück »Warten auf Tränengas« am Neuen Theater Halle ist Revolutionstheater für Mitteextremisten

von Lara Wenzel

(zuerst erschienen in nd am 4. Oktober 2023)

Während sich Demonstrierende in der Regel unter gemeinsamen Forderungen treffen, versammelt sich im Innenhof des Neuen Theaters in Halle die »schweigende Mehrheit«. Getrieben von vager Unzufriedenheit stehen sie stumm vorm Palast des Präsidenten, der von einer Feuertreppe auf sie herabblickt. Was will die anschwellende Masse? Auf den Protestplakaten sieht man nur das Bild einer aufgehenden Sonne. Sie sind einfach gegen den Ist-Zustand. »Stillstand verschafft keine Stabilität, im Gegenteil«, philosophiert eine der Demonstrantinnen.

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Mehr Wronsky wagen

Plädoyer für ein neues 20.-Juli-Gedenken

Von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 20. Juli 2023 – 2 Av 5783 bei haGalil.com)

Der 20. Juli ist ein geschichtsträchtiges Datum, das die Frage aufwirft, wer Platz in der deutschen ›Erinnerungskultur‹ findet und wer (bislang) nicht.

Stauffenberg – ambivalenter Held mit festem Platz in der deutschen Erinnerungskultur

In erinnerungspolitischer Hinsicht denken die meisten Deutschen beim 20. Juli sofort an das gescheiterte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944). Selbstverständlich ist es Stauffenberg positiv anzurechnen, dass er 1943 zur Umsturzbewegung stieß und am 20. Juli 1944 unter Einsatz seines Lebens versuchte, der nationalsozialistischen Barbarei ein Ende zu setzen. Dies vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Stauffenberg Jahre lang ein willfähriges Glied ebendieser Barbarei gewesen war. Der deutsche Überfall auf Polen bereitete dem Offizier Stauffenberg gar berufliche Befriedigung, da er sein über viele Jahre erworbenes Wissen nun in der Praxis anwenden und sich militärischen Herausforderungen stellen konnte. In einem Feldpostbrief an seine Familie vom 14. September 1939 beschrieb er die Bevölkerung in den eroberten Gebieten Polens wie folgt:

»Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.«i

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Deutschland als Autobahn

Eine Kulturgeschichte von Männlichkeit, Moderne und Nationalismus

Buchvorstellung, Vortrag und Diskussion mit Conrad Kunze

Donnerstag, 19. Oktober 2023, 19.30 Uhr, Stuttgart

Laboratorium, Wagenburgstr.147

  • Der Vortrag ist mittlerweile HIER anzuhören
  • Unser Referent Conrad Kunze lebt derzeit in Lateinamerika und wird daher CO₂-sparend per Untersee-Lichtwellenleiter anreisen, um auf der Leinwand des Laboratoriums anwesend zu sein

In Griechenland brennen bei 40 °C die Wälder, während zeitgleich in Deutschland eintausend Kilometer Autobahn mehrspurig erweitert werden. Während sonst wenigstens vom Energiesparen gesprochen wird, dürfen überwiegend Männer in SUV („Geländewagen“) mit einem CW-Wert eines Kleiderschranks bei 250 km/h weiterhin auf der linken Spur ihre Impotenzängste abwehren.

Die Gleichzeitigkeit von Dämonisierungsversuchen gegen Klimaschützer*innen und dem nicht einmal mehr verhüllten Gesetzesbruch der Regierenden an den Klima-Sektoren-Zielen lässt abermals zwei Prämissen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hell aufscheinen: die Erniedrigung der Vernunft durch einen vernunftlosen technologischen Verstand und ein ökologisch gewendeter Todestrieb.

In allen (ehemals?) entwickelten Gesellschaften sind diese Erosionsprozesse am Werk. Aber wo es in den USA Schusswaffen und Krankenversicherung sind, kristallisieren sie in Deutschland an der Frage um Autobahn, Tempolimit und Radwege. Der Vortrag geht der Frage nach, warum und wie das Auto zu einem so zentralen Signifikanten für fragilen Maskulinismus und Nationalismus wurde.

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»Es war der einzige Ort, wo wir noch tanzen durften«

Verordnete, geduldete und verbotene Kulturveranstaltungen: Die Theaterwissenschaftlerin Brigitte Dalinger zeichnet ein Bild jüdischen Kunstschaffens im nationalsozialistischen Österreich

von Lara Wenzel

(zuerst erschienen in ND am 6. Juli 2023)

Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 war das öffentliche Leben für Jüdinnen und Juden vorbei. Auch die Möglichkeiten, an kulturellen Aktivitäten teilzuhaben, wurden für sie massiv eingeschränkt. Dafür etablierten die neuen Machthaber ein »NS-Repräsentationstheater« im Sinne ihrer Ideologie. In ihrem Sachbuch »›Man bewilligte uns sogar einige Spiele‹« rekonstruiert die Theaterhistorikerin Brigitte Dalinger das kulturelle Leben verfolgter Menschen in Wien und den österreichischen Konzentrationslagern zwischen Instrumentalisierung und Selbstbehauptung.

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