von Manuel Rühle
Industrie 4.0, Internet der Dinge, Big Data – der „Megatrend Digitalisierung“ bestimmt seit über 10 Jahren öffentlichkeitswirksam die Debatten rund um die technologische Entwicklung. Der vorherrschenden Sichtweise zufolge bleibt in diesem Prozess nichts wie es war. Die Digitalisierung, so die Vorstellung, reiße die Gesellschaft wie eine Naturgewalt mit sich und sorge für tiefgreifende Umwälzungen in allen Sphären. In einer Publikation der Bundesregierung aus dem Jahr 2021 heißt es in diesem Sinne: „Der digitale Wandel verändert unsere Art zu leben, zu arbeiten und zu lernen fundamental und mit rasanter Geschwindigkeit.“1 Die jüngste Stufe dieser Entwicklung, die sogenannte Künstliche Intelligenz, ist spätestens seit der Einführung des KI-Assistenten ChatGPT durch das US-Unternehmen OpenAI im Jahr 2022 in aller Munde und befeuert diese Vorstellungen zusätzlich. Ursachen und Hintergründe dieses Wandels werden dabei nicht thematisiert. Stattdessen wird fortlaufend appelliert, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, die darin liegenden Chancen zu ergreifen, die Risiken nicht aus den Augen zu verlieren und zum Zweck einer abstrakten allgemeinen Lebensverbesserung gemeinsam zusammenzuwirken.2
In der Tat sind die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Verbreitung immer leistungsfähigerer digitaler Technologien einhergehen, überall im (Arbeits-)Alltag spürbar. Sie eröffnen den Arbeitenden nicht nur neue Handlungsmöglichkeiten, sondern konfrontieren sie auch permanent mit neuen Anforderungen. Wer diese nicht erfüllen kann oder will, droht abgehängt zu werden. So überrascht es kaum, dass die meisten Beschäftigten die digitale Transformation ihrer Arbeit nicht als Erleichterung, sondern als das Gegenteil erleben: als eine Zunahme an Belastungen, bis hin zu dauerhafter Überforderung. Dies ist auch das Ergebnis verschiedener Befragungen unter Beschäftigten aus den letzten Jahren. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hat bereits 2017 festgestellt, dass die Digitalisierung zwar eine tendenzielle Reduzierung von körperlichen Belastungen bewirkt, die psychischen Belastungen jedoch infolge von Arbeitsverdichtung beim Gros der Arbeitenden steigen.3 Und der DGB-Index Gute Arbeit hat mehrfach dokumentiert, dass die Einführung digitaler Technologien mit einer Erhöhung der Arbeitsmenge, Überwachung und Kontrolle, mit steigenden Multitasking-Anforderungen und insgesamt einer Steigerung der Arbeitsbelastung einhergeht.4 Droht also der alte Traum einer Humanisierung der Arbeitswelt mit der neuesten Stufe technologischer Entwicklung offen in sein Gegenteil umzuschlagen?
Aufgabe und Bestimmungsmerkmale gewerkschaftlicher Bildungsarbeit
Diese Frage wird sich wohl nur auf praktischem Wege beantworten lassen: in den großen und kleinen Auseinandersetzungen und Kämpfen um Ziele, Zwecke und Ausgestaltungen der digitalen Technologien und ihrer konkreten gesellschaftlichen Verwendungsweisen. Den Gewerkschaften als Klassenorganisationen der Lohnabhängigen kommt hierbei zweifellos eine zentrale Bedeutung zu. Über den Ausgang dieser Auseinandersetzungen und Kämpfe möchte ich jedoch an dieser Stelle nicht spekulieren (wobei angesichts der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf jeden Fall eine realistische Erwartung angebracht sein dürfte). Worum es mir im Folgenden geht, ist eine Diskussion der Frage, welche Rolle die gewerkschaftliche Bildungsarbeit im Ringen um eine humane technologische Entwicklung spielen kann. Dabei interessiert mich sowohl die gewerkschaftliche Bildungsarbeit im engeren Sinne (für Aktive, Funktionär*innen und interessierte Mitglieder) als auch die Qualifizierungsangebote für betriebliche Interessenvertreter*innen, die durch gewerkschaftliche bzw. gewerkschaftsnahe Bildungsträger durchgeführt werden.
Die Notwendigkeit für die Bildungsarbeit, sich in diesen Prozess einzubringen, liegt auf der Hand. Ihre allgemeine Aufgabe lässt sich dahingehend bestimmen, dass sie abhängig Beschäftigte bei der Erkenntnis ihrer gemeinsamen Interessen und deren Durchsetzung kraft solidarischen Handelns unterstützen soll. Dies betrifft sowohl betriebliche und gewerkschaftliche Strukturen als auch alle anderen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Die Bildungsarbeit ist damit weitaus mehr als ein bloßes „Beiwerk“ zur politischen Gesamtarbeit der Gewerkschaften. Vielmehr schafft sie grundlegende Voraussetzungen für eine erfolgreiche Interessenpolitik, die gerade in Zeiten multipler Krisen und einer reaktionären gesellschaftlichen Gesamttendenz dringend benötigt werden.
In diesem Sinne halte ich die folgenden drei Bestimmungsmerkmale für konstitutiv:
- Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist politische Bildungsarbeit: Sie zielt auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.
- Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist parteiische Bildungsarbeit: Sie zielt auf die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von abhängig Beschäftigten und deren gesellschaftlichen Mitbestimmungsmöglichkeiten.
- Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist emanzipatorische Bildungsarbeit: Sie zielt auf die Überwindung von Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Abhängigkeitsverhältnissen jeder Art (ökonomisch, rassistisch, sexistisch…).
Diese drei Merkmale sind meines Erachtens auch für die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „digitale Transformation“ von entscheidender Bedeutung. Sie implizieren sowohl die Ziele als auch die Inhalte und Formen der Bildungsarbeit, wie ich im Folgenden ausführen möchte.
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit in der digitalen Transformation
Zu 1.: Als politische Bildungsarbeit steht gewerkschaftliche Bildungsarbeit den hegemonialen Vorstellungen vom „digitalen Wandel“ als gesellschaftlicher Naturnotwendigkeit prinzipiell entgegen. Weder die Anpassung an eine quasi-automatisch ablaufende technologische Entwicklung noch die Einreihung in irgendein herrschaftsförmiges Gestaltungsprojekt sind mit ihren Zielsetzungen vereinbar. Stattdessen will sie die Teilnehmer*innen dazu ermutigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und zwar im Rahmen einer solidarisch-demokratischen Praxis. Es geht ihr um die bewusste Gestaltung vernünftiger, an menschlichen Bedürfnissen orientierter gesellschaftlicher Verhältnisse.
Dementsprechend besteht eine zentrale Aufgabe gewerkschaftlicher Bildungsarbeit darin, diese hegemonialen Vorstellungen zu analysieren und als das zu kritisieren, was sie sind: als Ideologien, die Ausdruck nicht begriffener sozialer Verhältnisse sind und hinter deren systematisierter Verbreitung das Kapitalinteresse steht, das sich auf diese Weise als das Interesse der gesamten Gesellschaft ausgibt. Das „Scheinsubjekt Digitalisierung“5 ist durch Aufklärungsarbeit in seine Bestandteile zu zerlegen, damit die ökonomischen Triebkräfte hinter der rasanten technologischen Entwicklung offengelegt werden können: die Konkurrenz kapitalistischer Unternehmen um Marktanteile. Diese Konkurrenzsituation zwingt die Unternehmen dazu, ihre Waren möglichst kostengünstig anzubieten. Zentrales Mittel zur Kostensenkung ist die Steigerung der Arbeitsproduktivität, also die Herstellung von mehr Produkten bzw. die Erbringung von mehr Dienstleistungen bei gleichbleibenden Lohnkosten (d. h. die Senkung der Lohnstückkosten). Neue Technologien haben dementsprechend das Ziel, die geleistete Arbeit produktiver zu machen – nicht leichter. Für die Arbeitenden bedeutet dies, dass sie in derselben Zeit mehr leisten müssen als früher; die Arbeitsbelastung steigt mit der Folge, dass Stress und gesundheitliche Gefährdungen zunehmen.
Erst im Zuge einer solchen ideologiekritischen Betrachtung kann ein adäquater Begriff von digitaler Transformation als Form der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung gewonnen werden. Im Licht dieses Begriffs wird auch schnell erkennbar, dass und warum der Zweck der permanenten Umgestaltung der Arbeit nicht darin besteht, das Leben der Arbeitenden angenehmer zu machen. Dieser Zweck liegt vielmehr in der Profitmaximierung des Kapitals, die ihrem Wesen nach grenzenlos ist.
Zu 2.: Als parteiische Bildungsarbeit vertritt die gewerkschaftliche Bildungsarbeit den Interessenstandpunkt der Lohnabhängigen. Tut sie dies nicht, lässt sie sich auf einen wie auch immer gearteten, vermeintlich „neutralen“ Standpunkt festlegen, kann sie ihre oben genannte gewerkschaftspolitische Aufgabe nicht erfüllen und wird faktisch überflüssig.6 Für das Themenfeld der digitalen Transformation bedeutet das, dass die objektiven Interessen der Lohnabhängigen als Lohnabhängigen zum Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung zu machen sind. In der Fragestellung: „Was bedeutet die technologische Entwicklung für uns?“ ist das kollektive „Wir“ als die Gesamtheit derjenigen Menschen zu bestimmen, die zur Existenzsicherung auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Zugleich ist es konsequent vom ideologischen „Wir“ der nationalen (bzw. europäischen, westlichen etc.) Schicksalsgemeinschaft abzugrenzen, die üblicherweise in den herrschenden Debatten beschworen wird.
Damit führt auch dieses Bestimmungsmerkmal zur Notwendigkeit einer ideologiekritischen Betrachtung der digitalen Transformation und der Offenlegung der gesellschaftlichen Herrschaftsinteressen, die damit verbunden sind. Zugleich bildet es die Vorbedingung für die praktisch-politische Bearbeitung des Problemfeldes im nächsten Schritt. Denn erst die Bestimmung des eigenen Standpunkts ermöglicht die Selbstverständigung darüber, wie die eigenen Interessen in Bezug auf die technologische Entwicklung beschaffen sind und wie diese Interessen in solidarisches Handeln „übersetzt“ werden können.
Aus dieser Perspektive erscheint die Gestaltung der digitalen Transformation nicht mehr als das gesamtgesellschaftliche Gemeinschaftswerk, als das es auch in gewerkschaftlichen Kreisen oft gesehen wird. Stattdessen wird es als Rationalisierungsstrategie zur Durchsetzung des Kapitalinteresses gegen das Interesse der Arbeitskraftverkäufer*innen erkennbar. Freilich ist hierbei nicht ausgeschlossen, dass sich im Zuge der Rationalisierungen auch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einstellt. Zweifellos lassen sich mit den neuen Technologien zahlreiche belastende und gesundheitsschädigende Tätigkeiten humanisieren. Sinn und Zweck der entsprechenden Maßnahmen ist dies jedoch nicht. Eine Arbeitserleichterung bewirken die neuen Technologien nur dann, wenn die Beschäftigten sie sich erkämpfen: Mittels einer konsequenten kollektiven Vertretung ihrer Interessen, die in der Lage ist, die bestehenden Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben.
Diese Feststellung leitet zum dritten Bestimmungsmerkmal über: Gewerkschaftliche Bildungsarbeit als emanzipatorische Bildungsarbeit. Für sie gilt wesentlich der kategorische Imperativ nach Karl Marx, der fordert, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.7 Die Befreiung aus gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen jeglicher Art kann logischerweise nur in Form einer Selbstbefreiung erfolgen. Dies wiederum erfordert, dass die Bildungsarbeit selbst als solidarisch-demokratische Praxis angelegt werden muss. Als solche kann sie Räume zur Verfügung stellen, in denen die Beteiligten sich ohne hierarchische Verzerrungen über ihre Alltagserfahrungen austauschen, gesellschaftliche Hintergründe reflektieren und alternative Handlungsmöglichkeiten entwickeln. Gerade in Zeiten, in denen die Aussichten für progressive politische Veränderungen überschaubar sind, ist eine solche Selbstverständigung über die aktuellen Gegebenheiten von großer Bedeutung – zum einen, um keinen Illusionen hinsichtlich der Machtverhältnisse zu erliegen, zum anderen, um das Machbare überhaupt in den Blick zu bekommen.
In Bezug auf die digitale Transformation heißt das: Eine illusionsfreie Sicht auf die kapitalistischen Triebkräfte hinter der technologischen Entwicklung ist die Voraussetzung, um erfolgsversprechende Handlungsansätze im Beschäftigteninteresse formulieren zu können. Diese Feststellung gilt nicht nur für die Diskussion von gesellschaftlichen Alternativen „im Großen“, wie sie im Rahmen von gewerkschaftspolitischen Bildungsangeboten stattfindet. Sie gilt ebenso für die Qualifizierungsangebote im Bereich der gewerkschaftlichen Tarif- und Betriebsarbeit, in denen das notwendige Instrumentarium für die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse „im Kleinen“ vermittelt wird. Darüber hinaus gilt sie aber auch für das Feld der arbeitgeberfinanzierten Seminare für betriebliche Mitbestimmungsorgane, auf dem verschiedene gewerkschaftliche und gewerkschaftsnahe Bildungsträger tätig sind.
Orientierung und Unterstützung für die betrieblichen Interessenvertretung
Dieses letztgenannte Feld, dass ich ebenfalls als Teilbereich der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit verstehe, will ich abschließend kurz in den Blick nehmen. Meiner Ansicht nach dürfen die Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die digitale Transformation mittels betrieblicher Mitbestimmung weder über- noch unterschätzt werden. Die generelle Richtung des Prozesses lässt sich darüber mit Sicherheit nicht verändern. Es gibt jedoch zahlreiche Ansatzmöglichkeiten, um die schädlichen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitenden zu verringern. Eine geschickt agierende Interessenvertretung kann darüber hinaus einen nicht unerheblichen Einfluss auf Auswahl, Ausgestaltung und Verwendungsweisen von digitalen Technologien nehmen. Aufgabe der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ist es, sie bei dieser anspruchsvollen Aufgabe bestmöglich zu orientieren und zu unterstützen.
Mit Blick auf die von mir skizzierten drei Bestimmungsmerkmale bedeutet das:
1. Für die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der betrieblichen Mitbestimmung ist eine ideologiekritische Sicht auf die digitale Transformation grundlegend. Auch in kurzen Bildungsformaten ist der Vermittlung eines adäquaten Begriffs von der Sache hinreichend Raum zu geben. Damit meine ich keine lehrbuchartige Herleitung der Produktivkraftentwicklung, sondern eine diskursive Erörterung der Frage, wer die „Treiber“ hinter der digitalen Transformation sind und warum dies so ist. Als Ausgangspunkt eignen sich die entsprechenden Alltagserfahrungen der Kolleg*innen, wie sie auch vom DGB-Index Gute Arbeit zur Sprache gebracht werden. Dies wiederum führt direkt zur Frage nach den konkreten Verwendungsweisen digitaler Technologien. Auf der betrieblichen Ebene bedeutet das, dass die arbeitsorganisatorischen Implikationen von Digitalisierungsprozessen zu fokussieren sind, d.h. die damit einhergehenden Umgestaltungen der betrieblichen Abläufe. Dies ist einerseits erforderlich, um einer technikzentrierten Sichtweise vorzubeugen, andererseits, um die tatsächlichen Ansatzmöglichkeiten für Mitbestimmungshandeln erkennen zu können.
2. Ein solches technisch-organisatorisches Verständnis von Digitalisierung ermöglicht es zugleich, den Interessenstandpunkt der Beschäftigten im Betrieb zu klären. Denn mit seiner Hilfe lässt sich analysieren, welche konkreten Folgen die Einführung digitaler Technologien für die Arbeitsprozesse und damit für die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten hat: Welche Arbeitsprozesse verändern sich wie? Welche Kolleg*innen sind wie betroffen? Welche Belastungen gehen damit einher, welche Entlastungen sind erforderlich? Aber auch: Welche Formen des Technologieeinsatzes wären aus Sicht der Arbeitenden wünschenswert? Digitale Technologien sind also immer von der Arbeit aus und mit Blick auf die Arbeit zu betrachten. Dabei sollten die betroffenen Kolleg*innen als Expert*innen ihrer Arbeit fortlaufend mit einbezogen werden.
In diesen Zusammenhang gehört aber auch die Thematisierung von Rolle und Aufgabe betrieblicher Mitbestimmungsorgane als Interessenvertretung der Arbeitenden, nicht etwa eines ominösen betrieblichen Gemeinwohls. Damit ist freilich nicht gesagt, dass Interessenvertretungen grundsätzlich zu konfliktorientiertem Handeln gegenüber dem Arbeitgeber animiert werden sollten – welche Strategien und Taktiken jeweils am ehesten zum Ziel führen, hängt von vielen Faktoren ab. Gerade bei komplexen Mitbestimmungstatbeständen wie der Einführung digitaler Technologien ist ein verständigungsorientiertes Vorgehen oft aussichtsreicher. Entscheidend ist jedoch, dass das Gremium über ein hinreichend klares Selbstverständnis verfügt.
3. Bei der Frage, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln sich das Beschäftigteninteresse am erfolgreichsten vertreten lässt, sollte der Fokus auf den Möglichkeiten eines „proaktiven“ Mitbestimmungshandelns liegen. Ziel des Gremiums sollte es sein, nicht nur auf Maßnahmen des Arbeitgebers zu reagieren, sondern selbst in die Offensive zu kommen und beschäftigtenorientierte Anforderungen an Auswahl, Konfiguration und Einsatz digitaler Technologien geltend zu machen. Hierfür ist es sinnvoll, bei der Behandlung der einschlägigen Beteiligungsrechte auch den oft unterschätzten Stellenwert der Informationsrechte (auch unabhängig vom Vorliegen eines konkreten Anlasses) zu betonen: Je größer die Wissensbasis des Gremiums hinsichtlich der anstehenden Veränderungen, desto größer auch sein potenzielles Handlungsspektrum. Dass es mit der Vermittlung der Beteiligungsrechte allein nicht getan ist, versteht sich von selbst. Entscheidend ist die darauf gestützte Erarbeitung von zielführenden Strategien und Taktiken, in denen die verschiedenen Ansatzmöglichkeiten – Arbeits- und Gesundheitsschutz, Beschäftigtendatenschutz, Verhaltens- und Leistungskontrolle, Berufsbildung, KI-Verordnung der EU etc. – mit ihren jeweiligen Vorzügen kombiniert zur Anwendung gebracht werden. Derartige Strategien und Taktiken können freilich nicht einseitig vermittelt, sondern nur in einem gemeinsamen, dialogischen Prozess erarbeitet werden. Die Unterstützungspotenziale, die die gewerkschaftliche Bildungsarbeit für solche Prozesse bereithält, dürften bei weitem noch nicht ausgeschöpft sein.
1 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA): Digitalisierung gestalten. Executive Summary Juni 2021, S. 2. Download: publikationen-bundesregierung.de
2 Eine OECD-Publikation mit dem programmatischen Titel „Going Digital: Den digitalen Wandel gestalten, das Leben verbessern“ drückt dies folgendermaßen aus: „Bürgerinnen und Bürger, staatliche Stellen und alle betroffenen Akteure sollten die Gunst der Stunde nutzen und sich für eine digitale Zukunft einsetzen, in der die ungeheuren Chancen der digitalen Transformation bestmöglich genutzt werden, um das Leben der Menschen zu verbessern, und zugleich sichergestellt wird, dass niemand zurückbleibt.“ (https://www.oecd.org/content/dam/oecd/de/publications/reports/2019/03/going-digital-shaping-policies-improving-lives_g1g9f091/e78eb379-de.pdf)
3 IAB: Digitalisierung am Arbeitsplatz: Technologischer Wandel birgt für die Beschäftigten Chancen und Risiken (iab-forum.de/arbeitsmarkt-digitalisierung)
4 Für die Auswirkungen der Digitalisierung sind insbesondere die Befragungen aus den Jahren 2016 und 2022 aufschlussreich. Alle Berichte seit 2007 finden sich unter index-gute-arbeit.dgb.de.
5 Weis, Nathan / Schadt, Peter (Hg.): Scheinsubjekt Digitalisierung. Politische Ökonomie der Arbeit 4.0.
6 Die Erkenntnis, dass Bildungsarbeit nicht neutral sein kann, da sie immer Ausdruck sozialer Verhältnisse und damit von Herrschaftsverhältnissen ist, gehört zum grundlegenden Wissensbestand Kritischer Pädagogik. Mit dem gesellschaftlichen Rechtsruck und den damit einhergehenden Angriffen auf (vermeintlich) linke Pädagog*innen und Bildungseinrichtungen haben die entsprechenden Debatten in den letzten Jahren wieder an Brisanz gewonnen. Für einen aktuellen Überblick s. Alexander Wohnig / Peter Zorn (Hg.): Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung, politische Bildung [= Schriftenreihe der BpB, Band 10592], Bonn 2022.
7 Marx-Engels-Werke (MEW) Band 1, Berlin 2003, S. 385
- Manuel Rühle ist in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig
- Der Text erschien im zuerst auf Sozialismus.de im Oktober 2025