Lieber que(e)rbeet als vom Winde verweht

Zu den aktuellen Debatten um »Identität« hat die jüdischstämmige Schweizer Queeraktivistin Anna Rosenwasser mit ihrem gerade erschienenen »Rosa Buch« einen klugen Beitrag in Form eines starken Plädoyers für die Freiheit, »sich voneinander unterscheiden zu dürfen«, vorgelegt.

Von Thomas Tews

(zuerst erschienen am 29. März 2023 – 7 Nisan 5783 bei haGalil.com)

Die (Noch-)Linksparteipolitikerin Sahra Wagenknecht nennt in ihrem Buch »Die Selbstgerechten« als Beleg für ihre Charakterisierung der »Lifestyle-Linken« – ihrem Feindbild, an dem sie sich abarbeitet – als »Bilderstürmer« die Forderung, den Film »Vom Winde verweht«, der ob seiner stereotypen Darstellung Schwarzer Frauen – etwa als »fürsorglich tapsige Slaven-Nanny«, wie es der Publizist und Medienpädagoge Herbert Heinzelmann ausdrückte – in die Kritik geraten ist, nicht mehr zu zeigen. Laut Wagenknecht laufe die »Identitätspolitik« der »Lifestyle-Linken« letztlich »darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein«. Als Beispiel für individuelle Merkmale, die geeignet seien, »um zur anerkannten Opfergruppe zu werden«, nennt Wagenknecht die »sexuelle Orientierung«. An anderer Stelle schreibt sie, dass sich die »Lifestyle-Linken« für »sexuelle Minderheiten« einsetzten.

Diesen Lifestylevorwurf weist die sich selbst als »LGBTQ-Aktivistin« bzw. »aktivistische Bisexuelle« bezeichnende Schweizer Journalistin und Politikwissenschaftlerin Anna Rosenwasser in ihrer am 22. Februar 2023 im Züricher Rotpunktverlag erschienenen Anthologie »Rosa Buch. Queere Texte von Herzen«, die zwischen November 2018 und März 2022 entstandene kolumnenartige Texte von ihr versammelt, entschieden zurück: »Die Vorwürfe tönen oft ähnlich: dass gleichgeschlechtliche Liebe nicht natürlich sei, dass Homosexualität – und Bisexualität erst recht! – ein Lifestyle sei, den wir gewählt haben. Die kurze Antwort darauf ist denkbar einfach: Unterschiedliche Gender und Sexualitäten gibt es schon, seit es Menschen gibt. Wir hatten in der Geschichte der Menschheit einfach unterschiedliche Konzepte dafür. In manchen Epochen und auf manchen Erdteilen hatten wir auch einfach gar kein Konzept und ließen Leute heiter vor sich hin existieren. Sexuelle Orientierungen sind also nicht erfunden; wir können Liebe nicht erfinden.«

»Queer« definiert Rosenwasser als Oberbegriff »für alle Menschen, die aus der Geschlechternorm fallen, mit ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität«, und deshalb immer wieder, »zu ›anderen‹ gemacht« würden. Rosenwasser betont, dass queere Identitäten »keine Erfindungen« seien, sondern seit jeher existierten: »Schon immer gab es Leute, die weder Frau noch Mann sind. Und gleichgeschichtliche Anziehung gibt es, seit es Anziehung gibt. Transidentitäten, intergeschlechtliche Körper und auch Asexualität, all das ist Teil des Menschseins (und übrigens auch der Tierwelt).« Nun gelte es, dafür zu kämpfen »dass jede Person ihr Geschlecht frei leben kann, frei lieben kann« und »dass jeder Mensch so feminin oder maskulin sein darf, wie er will. Oder beides davon. Oder nichts davon.« Dies inkludiere ausdrücklich auch den Kampf »für die Freiheit jedes Mannes, sein Männlichsein so leben zu können, wie es ihm passt«.

Rosenwasser betont, dass es »mehr als Mann und Frau« gibt. Dementsprechend fordert sie die Anerkennung nicht binärer Identitäten: »Als LGBTQ-Aktivistin habe ich täglich mit mehr als zwei Geschlechtern zu tun. Biologisch, psychologisch und historisch gesehen waren Körper wie auch Identitäten ohnehin noch nie binär. Das mag für viele von uns nicht einfach zu verstehen sein. Aber man muss auch nicht jede Angelegenheit komplett verstehen, um ihre Existenz anzuerkennen.«

Damit steht Rosenwasser in der Tradition großer jüdischer Intellektueller. Beispielhaft sei hier Max Horkheimer, der ab 1930 das vor genau 100 Jahren in Frankfurt am Main – auf Initiative des jüdischen Getreidegroßhändlers Hermann Weil und seines Sohnes Felix – gegründete Institut für Sozialforschung leitete, zitiert: »Die strenge Zweiteilung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit sowie das Tabu über jedem psychologischen Übergang von jener zu dieser entspricht der allgemeinen Tendenz, in starren Zweiteilungen und Stereotypen zu denken.«

Bezüglich der in unserer Gesellschaft tief verankerten Heteronormativität fordert Rosenwasser, dass nicht nur »Queers gegen die Norm als Norm kämpfen sollten. Sondern alle.« Schließlich könne ein Mensch »einer Norm entsprechen und sie gleichzeitig als Norm ablehnen.« Dabei möchte sie aber nicht herkömmliche Lebensformen abwerten: »Mein Ziel ist es nicht, traditionelle Lebenswege abzuschaffen. Mein Ziel ist es, dass wir alle die Entscheidungsfreiheit haben, traditionell zu leben oder eben anders. […] Wir dürfen nicht nur für diejenigen Lebensentwürfe kämpfen, die wir selbst sympathisch finden. Idealerweise setzen wir uns für alle queeren Anliegen ein, weil es um die Freiheit geht, sich voneinander unterscheiden zu dürfen.«

Rosenwasser befasst sich auch mit den konkreten Konsequenzen konventioneller Geschlechterstereotype, beispielsweise in der Mode, hinsichtlich derer sie fordert: »Kleidungsstücke müssen für Körper gemacht werden – nicht umgekehrt.« Mit der Sakralbaumetapher »Dein Körper ist ein Tempel« setzt Rosenwasser den patriarchal-kapitalistischen Schönheitsnormen, mit denen Frauen eingeredet werde, ihre »Existenz sei eine Problemzone«, weibliche Selbstbestimmung entgegen und wünscht sich eine Welt, in der »Frauen sich mal einfach nicht schön fühlen müssten« und sich »gegenseitig feiern für das, was als hässlich gilt«.

»Dem weiblichen Körper mehr Wertschätzung entgegenzubringen«, war auch eine Forderung der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Aktivistin bell hooks (bei deren Pseudonym es sich um den Namen ihrer indigenen Großmutter handelt). Sie kritisierte die »Entwertung und Erniedrigung des weiblichen Körpers« als vermeintlich »unpassend, defizitär und nicht gut genug« sowie die »gesellschaftliche Besessenheit von künstlich erschaffener weiblicher Schönheit«, die zu einem »körperbezogenen Selbsthass von Frauen« und in der Folge »zu Depressionen und anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen« wie Essstörungen führen könne. Anstelle dieser »sexistischen Schönheitsvorstellungen« bzw. »Weiblichkeitsklischees« forderte sie eine »Würdigung des weiblichen Körpers in all seinen Formen«.

Wenn Rosenwasser kritisiert, dass Frauen »24/7 bewertet und gegeneinander ausgespielt« werden, steht sie auch hier in der Tradition von bell hooks, die anprangerte, dass »Frauen im Patriarchat eingetrichtert wird, alle anderen Frauen als potenzielle Bedrohung zu sehen, als Konkurrenz«.

Dass unter Geschlechterstereotypen auch Männer leiden können, zeigt Rosenwasser anhand der Frage, »welchem Geschlecht liebevolles Verhalten in Freundschaften erlaubt wird«: »Während es als normal gilt, dass Frauen sich freundschaftlich berühren dürfen, zum Beispiel Händchen halten oder kuscheln, sieht es bei Männern – insbesondere bei heterosexuellen Männern – oft anders aus. Als hätten heterosexuelle Männer kein Bedürfnis nach freundschaftlicher Nähe.«

Rosenwasser beklagt bezüglich queerer Identitäten einen gesellschaftlichen »Mangel an Wissen und Respekt« und vermutet, dass sich mehr Menschen outen würden, »wenn ihre Schulklasse, ihre Firma, ihre Verwandtschaft ein gesundes Grundwissen über queere Identitäten hätten«. Die Medien kritisiert Rosenwasser dafür, dass in ihnen »Frauen und nicht binäre Menschen sehr viel seltener repräsentiert werden als Männer«.

Hinsichtlich gendergerechter Sprache wünscht sich Rosenwasser, »dass wir unsere Sprache weniger wie ein Museum behandeln, das zeigt, wie die Welt vor zweihundert Jahren war, und mehr wie einen Spielplatz, auf dem Neues entstehen kann«. Sie plädiert für eine »inklusive Sprache«, die »die Realität abbilden« solle und appelliert an die Lesenden: »Das, was für Sie wie eine Handvoll deplatzierter Sonderzeichen aussehen mag, kann für manche Ihrer Mitmenschen Respekt und Existenzberechtigung bedeuten.«

Rosenwasser setzt sich auch mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander. Ihr Nachname ist »so jüdisch, wie es klingt«, wobei die Autorin anmerkt, dass sie als ›Vaterjüdin‹ »nach dem jüdischen Religionsgesetz nicht als jüdisch« gelte. Sie erzählt, dass sie »als Kind einer Nichtjüdin und eines Juden […] mit wenig jüdischen Traditionen aufgewachsen« sei und spricht von »einer ambivalenten Zugehörigkeit«, die sie als »diffuses, nicht messbares Gefühl« charakterisiert.

»Mehr als binär« – wie der Titel eines im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienenen Buches von Alok Vaid-Menon lautet – sind nicht nur Geschlechts-, sondern auch jüdische Identitäten wie die Rosenwassers: »Viele Menschen stellen sich das Judentum binär vor: jüdisch und nicht jüdisch. ›Jüdisch‹ ist dann meistens eine wilde Mischung aus allen Ultraorthodoxen, die man je in irgendeiner Serie gesehen hat. Kombiniert mit einer Handvoll antisemitischer Vorurteile, von der man ungern zugibt, dass man sie hat. Ich passe nicht in diese Binarität. Weil Zugehörigkeit nicht einfach matrilinear verläuft (wie im Judentum üblich). Weil Religion und Kultur nicht immer dasselbe und auch nicht immer trennscharf auseinanderzuhalten sind.«

Rosenwasser beschreibt, wie sie im Alltag »zweifelhafte Zuschreibungen – ›Dachte ich mir schon, du siehst ja etwas jüdisch aus‹« – oder »antisemitische Verschwörungstheorien – ›Ah, ihr Juden habt ja eigentlich viel mehr Macht als man denkt, oder?‹« zu hören bekommt. Auch offenem antisemitischen Hass wie der Beschimpfung als »Drecksjude« war sie schon ausgesetzt. Trotz dieser negativen Erfahrungen versteckt sie heute ihre jüdische Identität nicht mehr. Während sie früher vor jeder Videokonferenz ihren Laptop so verschob, dass die auf ihrem Büroregal stehende Menora als Symbol ihrer »Jüdischkeit« nicht von der Webcam erfasst wurde, lässt sie heute ihre »Menora dort, wo sie im Bild ist« und trägt ihren »Davidstern um den Hals, auch wenn er mal nicht unter dem Shirt verschwindet«.

Rosenwasser reflektiert auch die Tatsache, dass ihr jüdischer Nachname heute »häufiger auf Zutatenlisten als in Form eines Nachnamens« begegnet, während sich in Datenbanken von Shoahopfern Hunderte von Menschen dieses Namens finden: »Unser Nachname ist nicht selten, er ist nur selten in Datenbanken von Lebenden. […] Er ist selten gemacht worden.«

An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Anne Frank – »die ikonische Stimme der Holocaustopfer«, wie sie von der Historikerin Anna Hájková genannt wurde – in der ersten Fassung ihres Tagebuches auch queere Gedanken festhielt. So notierte sie am 6. Januar 1944: »Unbewußt habe ich solche Gefühle schon gehabt bevor ich hierher kam, denn ich weiß daß ich als ich einmal abends bei Jacque [Jacqueline van Maarsen] schlief, mich nicht mehr halten konnte, so neugierig war ich auf ihren Körper […]. Ich fragte Jacque ob wir als Beweis unserer Freundschaft uns gegenseitig die Brüste befühlen sollten. […] So war es auch, daß ich ein schreckliches Bedürfnis hatte Jacque zu küssen […]. Ich gerate jedesmal in Ekstase, wenn ich eine nackte Frauengestalt sehe, so wie zum Beispiel, in der Springerkunstgeschichte eine Venus.«

Als Tochter eines Israelis empfindet Rosenwasser Verbundenheit mit dem jüdischen Staat, die sich etwa in folgender Feststellung manifestiert: »Das Atmen in Israel fühlt sich anders an.« Berührend ist ihre Schilderung, wie an Yom haShoah, dem Shoahgedenktag, für zwei Minuten das Leben in Israel stillsteht, um der sechs Millionen jüdischen Opfer zu gedenken: »Dieser Gedanke tut fast am meisten weh. Dass Menschen Systeme erschaffen, die Millionen von Menschenleben auslöschen können.«

Es sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit darstellen, solidarisch an der Seite aller Menschen, die aufgrund ihrer ethnischen, geschlechtlichen, kulturellen, religiösen, sexuellen oder sonstigen Identität angefeindet, angegriffen, ausgegrenzt, bedroht und diskriminiert werden, zu stehen. Dies ist kein »Lifestyle«, sondern existenzieller Lebensschutz und eine Befolgung des Marx’schen Imperativs, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Anna Rosenwasser: Rosa Buch. Queere Texte von Herzen. Rotpunktverlag, Zürich, 240 Seiten, 24 Euro.