Gigs für die Massen

Arbeitnehmerrechte für Plattform­arbeiter konnten auf EU-Ebene nicht gesichert werden

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Jungle World, leicht aktualisiert)

Deutschland und Frankreich haben einen Vorschlag zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen seitens der EU-Kommission und des Europaparlaments blockiert. Nun musste ein neuer Kompromiss erarbeitet werden, dem zufolge es der nationalen Rechtsprechung überlassen bleiben soll, über den Beschäftigungs­status von »Gig-Workern« zu befinden.

Einen »Gig« zu haben, heißt heute nicht nur, als Musiker:in auf der Bühne zu stehen. Der Begriff hat sich längst auch dafür etabliert, online vermittelte Einzelauftragsarbeiten auszuführen, also beispielsweise eine Person von A nach B zu kutschieren. Seit der Finanzkrise 2008/2009 ist die Gig-Ökonomie international rasant gewachsen, auch die Covid-19-Pandemie hat zu ihrem Anstieg beigetragen. Insbesondere dort, wo Arbeitslosenquoten hoch sind, nutzen Betroffene die Möglichkeiten plattformbasierter Beschäftigungsvermittlung, zum Beispiel um für Unternehmen wie Doordash Essen auszuliefern oder über die Plattform Helpling als Putzkraft einzuspringen.

In der EU haben sich 2021 einer Studie des litauischen Instituts PPMI zufolge über 28 Millionen Menschen über Plattformarbeit etwas dazuverdient oder ihr gesamtes Einkommen auf diese Weise erwirtschaftet. Die Studie prognos­tiziert, dass es 2025 schon 43 Millionen Menschen sein werden. Die Mehrheit der Plattformarbeite­r:in­nen, schreibt der Europäische Rat, sei heute »der Form nach selbständig«. In vielen Fällen lägen allerdings Hinweise vor, »dass sie eigentlich in einem Arbeitsverhältnis stehen und daher dieselben Arbeitnehmerrechte und denselben Sozialschutz, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach nationalem und EU-Recht zustehen, haben sollten«.

Die Online-Portale und Apps, die den Gig-Arbeiter:innen die Aufträge zur Verfügung stellen, betreiben engagiert Lobbyarbeit, um rechtlich nicht als Arbeitgeber, sondern als Vermittler zu gelten. Die juristische Bewertung dieser Frage fällt innerhalb der EU unterschiedlich aus: Während die Rechts­lage in Deutschland vergleichsweise gut ist und die meisten Essenslieferan­t:innen angestellt werden müssen, ist Frankreich unter Präsident Macron strikt dagegen, Plattformarbeiter:innen diesen Status zuzusichern. Letzteres ist ganz im Sinne der Unternehmen.

Wo die Plattformen nicht als Arbeitgeber gelten, sparen sie sich Sozialver­sicherungsbeiträge, müssen keine Ausrüstung stellen, im Krankheitsfall wird keine Lohnfortzahlung fällig – und sie können üppige Provisionen einheimsen. Aus den Uber Files ging hervor, dass der Konzern bei allen Beförderungen 25 Prozent des Fahrpreises einbehält.

Wegen der prekären Bedingungen und den hohen Risiken, die einseitig auf die Beschäftigten abgewälzt werden, schreibt die Soziologin Alexandrea Ravenelle in ihrem 2019 erschienen Buch »Hustle and Gig«: »Trotz ihrer App-gestützten Modernität erinnert die Gig Economy an das frühe Industriezeitalter.« Je nach Deregulierungsgrad gebe es nicht einmal »die grundlegendsten Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz«, etwa um sich gegen sexuelle Belästigung oder Diskriminierung zu wehren, und keinerlei Möglichkeiten, nach einem Arbeitsunfall eine Kompensation einzufordern.

Es gibt aber auch entscheidende Unterschiede zum Frühkapitalismus: Wo die Fabriken des 18. Jahrhunderts den Arbeitern wenigstens Produktionsmaschinen bereitgestellt haben, muss das moderne Prekariat schon ein eigenes Auto mitbringen, um sich beim einem Fahrdienstvermittler wie Uber ausbeuten lassen zu dürfen. Hinzu kommen die umfangreichen Möglichkeiten, Personal zu überwachen, was bei der App-basierten Arbeit besonders einfach ist.

Neben Portalen wie Lieferando, Bolt oder Airbnb, die im Smartphone-Alltag präsent und an den Ort des Auftraggebers gebunden sind, gibt es noch einen großen Bereich der Gig-Ökonomie, der seltener beachtet wird: die Vermittlung von IT-Arbeit auf globaler Ebene. Die ist nicht nur attraktiv für Unternehmen in Luxemburg, die bei einer Neugestaltung ihrer Website keine Lust haben, Mindestlöhne zu zahlen, und dank Internet vielleicht jemanden in Bangladesh finden, der denselben Auftrag für weniger Geld annimmt.

Exemplarisch für diese schöne neue Arbeitswelt ist die Website »Mechanical Turk« von Amazon. Hier können sich Menschen ein Zubrot verdienen, indem sie Datensätze für das Training Künstlicher Intelligenzen (KI) aufbereiten. Sie labeln beispielsweise per Hand, was auf einem Bild ein Teller und was ein Stuhl ist, damit die KI lernen kann, diese Leistung zu reproduzieren. Die Entlohnung solcher Tätigkeiten fällt regional sehr unterschiedlich, aber immer unterdurchschnittlich aus, da es weder Mindestlohn noch Tarifregelungen gibt.

Die Europäische Kommission plante, bei der Plattformarbeit gewisse Mindeststandards für die Mitgliedstaaten einzuführen, und legte im Dezember 2021 einen ersten Entwurf für entsprechende Richtlinien vor. Nach zähen Verhandlungen schien es schließlich, als sei ein Kompromiss zwischen Kommission, Parlament und Ministerrat geglückt. Doch ähnlich wie beim Verbot für Verbrennungsmotoren oder beim Lieferkettengesetz enthielt sich die deutsche Bundesregierung im Ministerrat bei einer Abstimmung Ende Januar, die eigentlich nur noch als Formsache galt.

Im komplexen Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene kommt das einer Ablehnung gleich. Denn seit einer Reform im Jahr 2017 braucht ein Gesetz eine sogenannte qualifizierte Mehrheit im Rat, bei der mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Da aber Deutschland und Frankreich zusammen 34 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, reicht es für eine Blockade aus, wenn außer diesen beiden Länder nur ein weiteres nicht zustimmt.

Die Zustimmung der Regierungen von Frankreich und Deutschland ist also entscheidend, um ein Gesetzgebungsverfahren erfolgreich abzuschließen. Neben Frankreich hatten sich auch die baltischen Staaten, Ungarn und die Tschechische Republik bereits im Dezember gegen den Entwurf der Richt­linie positioniert.

»Das Verhalten des Rats ist ein Affront gegenüber dem Parlament«, sagte der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke dem Portal Netzpolitik.org. Für das Scheitern der Einigung seien Verantwortliche zu benennen: Emmanuel Macron, »dem die Interessen von Uber offenbar wichtiger sind als die von prekären Beschäftigten in Frankreich und dem Rest der EU«. Und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, »der sich einmal mehr von der FDP am Nasenring durch die Manege führen lässt«.

Denn es war die FDP, auf deren Verlangen hin Deutschland sich enthielt. Svenja Hahn, sozialpolitische Sprecherin der FDP-Delegation im EU-Parlament, hatte am 23. Januar zu den geplanten Richtlinien erklärt, ihre Partei stelle sich »klar gegen jede Art von Ausbeutung«. Die geplante Richtlinie schieße »jedoch weit über das Ziel ­hinaus«, da es für die FDP eine »rote Linie« sei, »alle Personen, die über digi­tale Arbeitsplattformen arbeiten, in ein Angestelltenverhältnis« zu zwingen. Das hätte die Richtlinie allerdings auch gar nicht bewirkt.

Vorübergehend schien wegen der deutsch-französischen Abwehrhaltung fraglich, ob überhaupt eine Richtlinie zur Plattformarbeit verabschiedet werden kann. Nach erneuten Verhandlungen gab es zwischenzeitlich wieder Hoffnung – allerdings nur für eine stark entschärfte Variante an der entscheidenden Stelle: nämlich bei den Kriterien, ab wann Beschäftigte einer Arbeitsplattform wie Angestellte zu behandeln sind. Ursprünglich war hier ein einheitlicher EU-Standard geplant. Nun aber wurden die Kriterien kurzerhand gänzlich abgeschafft; sie festzulegen, sollte wie gehabt im Ermessen der nationalen Rechtsprechung liegen. Doch selbst dieser Kompromiss war der FDP offenbar zu viel: 23 von 27 Mitgliedstaaten unterstützten das Gesetz zwar. Doch mit einer Gegenstimme von Frankreich und Enthaltungen seitens Deutschland, Estland und Griechenland wurde das notwendige Quorum für eine qualifizierte Mehrheit knapp verfehlt und ein langjähriger Gesetzgebungsprozess steht vor dem Aus.