Kein Wandel mit Handel

Nach dem Kalten Krieg war die Hoffnung groß, dass sich liberale Demokratien weltweit durchsetzen und Handelsbeziehungen den Frieden sichern. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diese Vorstellung blamiert.

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 597 am 7. September 2022)


In seinem Spätwerk „Zum ewigen Frieden“ urteilte der Philosoph Immanuel Kant Ende des 18. Jahrhunderts: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der sich früher oder später jedes Volkes bemächtigt.“ Die Überzeugung, dass auf den Handel ein Wandel folge, der keinen Platz für große Schlachten lässt, ist seitdem in unzähligen Varianten wiederholt worden und prägte unter anderem die Russlandpolitik vergangener Bundesregierungen. Exemplarisch für diese Denkweise – meist verknüpft mit einer Fortschrittsromantik, wonach sich langfristig alles zum Besseren wenden werde – ist das berüchtigte „Ende der Geschichte“, das der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion prognostizierte: Auf den Niedergang des Realsozialismus werde der Siegeszug der liberalen Demokratie folgen, autoritäre Regime hätten mangels Legitimation keine Perspektiven mehr, endlich geht es los, das gute Leben kommt, weil freie Märkte zu freien Menschen führen, mit Wohlstand für alle in einer Welt ohne Widersprüche.

Allerdings lieferten die vergangenen Jahrzehnte wenig Hinweise, warum dieser Optimismus gerechtfertigt sein soll. Das alarmierende Artensterben, der sich ausbreitende Welthunger, die eintretende Klimakatastrophe und nicht zuletzt das Erstarken autoritärer Kräfte sogar tief innerhalb demokratischer Gesellschaften: All diese Krisenherde verschlimmerten sich schon vor Corona zusehends, durch die Pandemie haben sich die Konfliktlagen verschärft. Spätestens mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die Illusion vom Weltfrieden, der auf die Systemkonkurrenz folgt, geplatzt. Stattdessen ist eine nukleare Eskalation vier Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg wieder ein ernst zu nehmendes Szenario.

Bei der Suche nach Lösungsansätzen, einem überzeugenden Umgang mit der globalen Vielfachkrise, hat sich politisch eine gewisse Hilfslosigkeit herauskristallisiert. „Die Welt zu beschreiben, wie sie ist, und auf dieser Grundlage zu handeln“, bezeichnete Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) Ende 2021 als Fundament einer starken Außenpolitik. Wobei sie noch betonte, dass es sich bei Werten und Interessen nicht um Gegensätze handle und eine Unterscheidung in eine Sackgasse führe. Ein halbes Jahr später waren es doch die Interessen, die in die Sackgasse geführt haben. Baerbock erklärte bei einer Podiumsdiskussion im Juli, wie sie technische Hilfe aus Kanada erbeten hat, um russische Gas-Lieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 weiterhin zu ermöglichen: „Wenn wir die Gasturbine nicht bekommen, bekommen wir kein Gas mehr, dann können wir als Deutschland überhaupt gar keine Unterstützung für die Ukraine mehr leisten, weil wir dann mit Volksaufständen beschäftigt sind.“

Eine Politik des permanenten Hinterherlaufens

Gerade Baerbock hatte im Juni 2021, damals noch in der Opposition, als eine der wenigen Stimmen in Deutschland vor der Naivität gewarnt, anzunehmen, dass sich Russland schon an die Regeln halten werde. Dennoch signalisierte die Ministerin in Regierungsverantwortung überdeutlich ihre Bereitschaft, den Gashandel trotz einer völkerrechtswidrigen Invasion und mutmaßlicher Kriegsverbrechen fortzusetzen – und trotzdem bleiben die Lieferungen aus. Die Erpressbarkeit ist offen eingeräumt, nachdem sich die Bundesrepublik bei der Energieversorgung von einem autoritären Regime abhängig gemacht hat, kurzfristige Kurskorrekturen fallen schwer. Die daraus resultierenden Sachzwänge nötigen Politiker:innen, mit der ein oder anderen Überzeugung zu brechen. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) etwa war einmal entschiedener Fracking-Gegner, nun treibt er den Ausbau notgedrungen voran.

Flexibilität kann durchaus eine Tugend sein, wo die Zwänge einer Krisensituation erfordern, anpassungsfähig zu bleiben. Allerdings ist in der Bundesrepublik seit geraumer Zeit eine Politik des permanenten Hinterherlaufens zu beobachten. Weil die Kosten für den Lebensunterhalt für viele zunehmend unbezahlbar werden, folgt auf das zweite Entlastungspaket aktuell ein drittes, nachdem schon in der Corona-Krise große Teile der Gesellschaft auf staatliche Schutzprogramme angewiesen waren. Die Bundeswehr wird massiv aufgerüstet, um in vielen Jahren vielleicht etwas handlungsfähiger zu sein. Doch immer steht dabei die Frage im Raum: Und was dann? Welche Perspektiven gibt es, aus dem Dauerkrisenmodus herauszukommen? „Die Politik der kleinen Schritte verliert mehr und mehr den Bezug zur Realität der großen Probleme“, urteilte Bernd Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, in einem Essay von 2018 – als die großen Probleme noch kleiner waren.

Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sind in der öffentlichen Debatte aktuell zwei Konzepte präsent: Das eine Lager setzt auf militärische Lösungen, das andere auf Diplomatie. Unter den gegebenen Vorzeichen erscheinen beide Strategien als aussichtslos. Einerseits erscheinen Verhandlungen nur sinnvoll, wenn die realistische Aussicht besteht, dass sich beide Konfliktparteien mit dem Resultat abfinden können – wofür es gegenwärtig keine Anzeichen gibt. Andererseits lassen sich die Folgen einer militärischen Eskalationsdynamik schwer abschätzen. Klar ist allenfalls, dass die Grenze zur atomaren Konfrontation genau ein Mal überschritten werden kann.

Der Urknall der Misere

Um nachvollziehen zu können, wie die Menschheit überhaupt ein nukleares Arsenal entwickeln konnte, das ihre eigene Existenz gleich mehrfach eliminieren könnte, lohnt es sich, einen Blick auf die Geschichte moderner Tötungswerkzeuge zu werfen. Denn die Innovation der Feuerwaffen hat nicht nur das Wesen der Kriegsführung revolutioniert, sie leistete ab dem 13. Jahrhundert auch einen großen Beitrag, das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend umzustrukturieren. Einerseits beeinflussten militärische Möglichkeiten schon immer die Stadtplanung – und mit der Festungsmauern zerberstenden Vernichtungspotenz einer Kanone gab es nunmehr handfeste Gründe, auch bei der Defensiv-Architektur aufzurüsten. Vor allem ist der Rüstungswettlauf konkurrierender Fürstentümer, später Nationalstaaten etc. Wegbereiter eines Teufelskreises.

Die kostenintensive Waffenproduktion liefert Anreize, Geld heranzuschaffen – immer mit der wohlberechtigten Sorge im Hinterkopf, dass Rückständigkeit beim Rüstungsniveau leicht bedeuten kann, von technologisch überlegenen Feinden überfallen und ausgeplündert zu werden. In der Folge kam es bei Abgaben und Steuern weniger darauf an, was an konkretem Material zusammengetragen wurde. Wichtiger war, dass es Büchsen und Musketen finanzieren kann.

Ob sich ein Krieg lohnt oder nicht, war häufig eine Frage des betriebswirtschaftlichen Kalküls: Wenn die zu erwartende Beute die Ausgaben zu übertreffen versprach, handelte es sich schnell um ein kreditwürdiges Vorhaben, und meist ließ sich sogar noch ein passender Vorwand finden, um den Angriff zu legitimieren. Sei es, um Ketzern die richtige Religion nahezubringen oder um Barbaren ein bisschen zu zivilisieren: Moral ist wandlungsfähig wie ein Chamäleon.

Allerdings ist der traditionelle Imperialismus längst am Ende und jüngere Kriege lassen sich nicht so leicht mit Verweis auf die ökonomische Bilanz erklären. So entpuppte sich etwa der Afghanistan-Einsatz der USA als billionenschweres Verlustgeschäft. Und als Randnotiz: Obwohl statt schonungsloser Plünderung ernstgemeinte Versuche unternommen worden sind, die Wirtschaft des Landes wettbewerbsfähiger zu machen, war die Folge nicht das Erblühen einer liberalen Demokratie, wie es der Handelsgeist nach dem Ende der Systemkonkurrenz erwartet hätte. Stattdessen: Staatskollaps und Taliban-Herrschaft.

Die Gewalt: Durchgangsstadium oder Schlusspunkt?

Ein grundlegender Konzeptionsfehler bei Ideen, wie sich gegenwärtige Konflikte befrieden lassen, scheint in der Annahme zu liegen, dass zwischenstaatliche Handelsbeziehungen in erster Linie Kooperationsmodelle wären, von denen alle Beteiligten profitieren würden. Vielmehr gestaltet sich die globale Marktwirtschaft in der Praxis als brutales Gewinner-und-Verlierer-Spiel, bei dem die ruinöse Konkurrenz des Weltmarktes zu über 800 Millionen Hungerleidenden führt, denen jene zehn superreiche Milliardäre gegenüberstehen, die ihr Vermögen in der Corona-Krise verdoppeln konnten.

Selbst in supranationalen Staatszusammenschlüssen wie der EU hält sich die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in Grenzen. Wenn etwa in der Corona-Krise Masken fehlen, hat das nationale Eigeninteresse Vorrang vor dem der anderen. Doch perspektivisch führt das unerbittliche Konkurrenzdenken in die Katastrophe.

Eine im westeuropäischen Aufklärungsdenken fest verankerte Vorstellung ist, dass staatliche Gewaltmonopole zu einer Einhegung des Blutvergießens führen würden. So erschauderte etwa Georg W. F. Hegel über das Blutvergießen der Französischen Revolution, rechtfertigte die Phase der Gewaltanwendung aber als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur zivilisierten Gesellschaft. Doch ist das destruktive Potenzial staatlicher Gewaltanwendung im 21. Jahrhundert nicht aus der Welt verschwunden, sondern im Gegenteil: größer als je zuvor.

Dabei lässt die Dynamik des Wettrüstens im Grunde schon seit Jahrzehnten keine qualitative Steigerung mehr zu: Bei den vorhandenen Atombomben macht es wenig Unterschied, ob sich die Menschheit eintausend Mal oder nur hundertfach in die Luft sprengen lässt. Der Fluchtpunkt gegenwärtiger Aufrüstungstendenzen ist somit sicher keine Befriedung durch militärische Überlegenheit, sondern allenfalls der einigermaßen unsinnig erscheinende Ausbau eines ohnehin weltzerstörerischen Potenzials.

Kooperation statt Konkurrenz

Während die Welt zunehmend zerfällt in abschmelzende Inseln der Wohlstandsproduktion auf der einen Seite und strukturelle Massenarmut auf der anderen, wächst die Krisen- und Kriegsgefahr. Bislang waren die kollabierenden Staaten der vergangenen Jahrzehnte militärisch irrelevant. Bei einer ehemaligen Supermacht mit Atomwaffenarsenal ändert sich die Gleichung. Es wäre menschenverachtend, die Situation als Rechtfertigung verstehen zu wollen. Aber faktisch ist es um die Perspektiven Russlands schlecht bestellt. Der bescheidene wirtschaftliche Erfolg des Landes hängt allein vom Abbau fossiler Energieträger ab – ein Modell ohne Zukunft. Auch bei anderen Handelspartnern der Bundesrepublik, denen Menschenrechte nicht so wichtig sind, stellt sich die Frage, was sie mit ihrem Militärapparat anstellen werden, wenn die Quellen ihres Wohlstands zu versiegen drohen.

Das naive Vertrauen, durch Handelsbeziehungen bewaffnete Konflikte auszuschließen, hat in der Bundesrepublik dazu beigetragen, große Teile der kritischen Infrastruktur wie Gasspeicher an autoritäre Regime zu verhökern. Diese grandiose Fehlentscheidung rächt sich aktuell und führt zu erheblichen sozialen Spannungen. Dennoch ist es eine wohlfeile Annahme, durch ein Ende der Sanktionen gegen Russland wäre eine Rückkehr zum alten Status quo möglich. Ebenso ist es vermessen, aus Deutschland heraus der Ukraine erklären zu wollen, welche Gebiete sie an den Aggressor abtreten sollte, weil Verhandlungen ja immer Zugeständnisse bräuchten. Zu Anbeginn der Invasion waren sich alle namhaften Militärexperten einig, dass Kiew binnen weniger Tage eingenommen sein würde – und wenn selbst die Kundigen so weit danebenliegen, dürfte es Laien noch schwerer fallen, den weiteren Werdegang des Krieges vorherzusagen.

Einigermaßen auf der sicheren Seite dürfte man allerdings mit der Prognose sein, dass durch das Festhalten an der zwischenstaatlichen Konkurrenz kein Weg zum ewigen Frieden führt. Der Übergang zu einem kooperationsbasierten Zusammenleben wäre ein jahrzehntelanger Transformationsprozess, ohne Aussichten auf absehbare Umsetzung. Und dennoch erscheint der Einsatz dafür als die lohnenswerteste Option, wenn als Alternative eine verheerende Eskalationsdynamik droht.

Minh Schredle ist Redakteur der Kontext: Wochenzeitung