Technologieoffenheit als Treppenwitz. Der drohende Einbruch deutscher Autoexporte

Das selbstfahrende Auto dürfte noch lange auf sich warten lassen. Außerdem haben deutsche Autobauer den Umstieg auf Elektroantriebe verschlafen

von Minh Schredle

(Zuerst gekürzt und unter einem anderen Titel in der Jungle World 2023/23 vom 8. Juni 2023 erschienen.)

Wie eine Straßenbahn ohne Gleise oder ein Bus, den man sich mit niemandem teilen muss, so soll automatisiertes Fahren funktionieren. „Schon seit Jahren sind die Ingenieure fast aller Autohersteller mit Systemen zum automatisierten und hochautomatisierten Fahren unterwegs“, informierte jüngst der ADAC, der enorme Potenziale in dieser Technologie sieht. Einschränkungen ergeben sich allerdings bei der Umsetzung, denn „der ambitionierte Zeitplan“ zur Markteinführung habe sich „immer wieder verschoben“. An knausrigen Geldgebern liegt es eher nicht: Nach Angaben von McKinsey haben Fahrzeugproduzenten und Risikokapitalgeber zwischen 2010 und 2020 mehr als 100 Milliarden Dollar in selbstfahrende Systeme investiert. Doch weltweit bleiben die Erfolge hinter den Erwartungen zurück. In Deutschland scheint der Optimismus ohnehin überschaubar. Nur „21 Prozent der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger glauben, dass klassische deutsche Hersteller den Wettbewerb um das autonome Fahren für sich entscheiden werden“, ergab eine repräsentative Befragung im Auftrag des Marktforschungsunternehmens Bitkom Ende 2022. Hingegen waren 43 Prozent überzeugt, „dass neue Automobilhersteller wie Tesla letztlich an der Spitze stehen“. Allerdings läuft es auch beim vermeintlichen Branchenprimus alles andere als rund.

Noch im Juni 2022 hatte Tesla-Chef Elon Musk gesagt, dass die Entwicklung eines funktionierenden Autopiloten darüber entscheiden werde, „ob Tesla viel Geld wert ist oder praktisch null“. Zwischenzeitlich hat das Unternehmen mehr als die Hälfte seines Börsenwerts eingebüßt – und das noch bevor das Handelsblatt Ende Mai aus den Tesla-Files zitierte. Diese internen Dokumente, die der Redaktion zugespielt wurden, deuteten darauf hin, dass Teslas Probleme mit dem Autopiloten noch größer sein könnten als bislang angenommen. Die US-amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA hat zwischen Juli 2021 und Mai 2022 273 Unfälle mit Tesla-Modellen gezählt, an denen aktivierte Fahrassistenzsysteme beteiligt waren. Allerdings handelt es sich bei dieser Technik erst um eine vergleichsweise simple Vorstufe des autonomen Fahrens. Die technische Assistenz soll nämlich nur simple Aufgaben wie das Spurhalten auf einer Autobahn übernehmen und den Fahrer alarmieren, wenn sie überfordert ist.

Als erster Hersteller weltweit hat im vergangenen Jahr Mercedes eine sogenannte Level-3-Zulassung in den USA erhalten. Weil der Autohersteller für die Unfälle haftet, die durch Anwendung seiner Technik entsteht, sind die Nutzungsbedingungen aktuell eng definiert. Der Drive Pilot, so Mercedes’ Eigenbezeichnung, funktioniert nur bis zu einer Höchstgeschwindigkeit von 64 km/h, arbeitet ausschließlich auf Autobahnen, kann keine Spurwechsel tätigen, darf nur bei Tageslicht und nur bei Temperaturen über drei Grad verwendet werden, außerdem nicht in Tunneln oder auf Baustellen. Ein System, das auch bei Schneeregen in einer unübersichtlichen Großstadt funktioniert, wäre derzeit reine Zukunftsmusik ohne belastbaren Zeitplan.

Die deutsche Autoindustrie konnte zwar mit der Erstzulassung in den USA einen Achtungserfolg erzielen, doch womöglich wäre es geschickter gewesen, mehr in zukunftsfähige Antriebstechnologien zu investieren. So müssen Mercedes, Volkswagen, BMW und Co. um ihre Stellung am Weltmarkt bangen, da sich das viel zu lange Festhalten am Verbrennungsmotor zu rächen beginnt. „Die Zukunft der Mobilität ist grün“, sagte Dieter Zetsche zwar bereits 2008 als Vorstandsvorsitzender der Daimler AG und meinte seinerzeit, die deutsche Industrie habe „alle Voraussetzungen, um auf den Weg dorthin eine Führungsrolle zu übernehmen“. Doch als der Stuttgarter Autobauer neun Jahre später im Mai 2017 sein Zukunftsmodell für die Elektromobilität präsentieren wollte, geriet die Inszenierung zur Groteske. Der batteriebetriebene SUV aus der Generation EQ musste in einem LKW angekarrt und anschließend von einigen muskulösen Herren an die vorgesehene Stelle vor dem Stuttgarter Schloss geschoben werden, weil der Prototyp für die Zukunft noch nicht fahrtüchtig war. Zu diesem Zeitpunkt rollten serienmäßige Tesla-Modelle bereits seit fast einem Jahrzehnt über die Straßen. Schon damals war absehbar, dass der Elektromotor den Verbrenner verdrängen wird. Bis der erste fahrtüchtige Elektro-Daimler verkauft werden konnte, vergingen weitere zwei Jahre.

Es ist kein Alleinstellungsmerkmal unter den großen deutschen Herstellern, den Trends der Gegenwart meilenweit hinterherzuhinken und sich dennoch für die Weltspitze zu halten. „Wo sehen Sie die Konkurrenz auf Augenhöhe?“ fragte eine BMW-Sprecherin zurück, als sie im April vom Portal Table Media auf die technischen Fortschritte chinesischer Produzenten angesprochen wurde. Etwa zur selben Zeit fand die alle zwei Jahre abgehaltene chinesische Branchenleitmesse Auto Shanghai statt, auf der deutlich wurde, wie weit Daimler, Porsche, BMW und Volkswagen von einer Vorreiterrolle entfernt sind. So präsentierte etwa der chinesische Hersteller BYD einen elektrischen Kleinwagen, der für umgerechnet 8300 Euro auf den Markt kommen soll – ein Preissegment, in dem es bislang keine Konkurrenzprodukte aus Deutschland gibt. „Von E-Autos für die Massen kann Europa bislang nur träumen“, berichtete der Spiegel diesen April und stellte konsterniert fest: „Das billigste Elektroauto in Deutschland kostet 22.750 Euro, hat 230 Kilometer Reichweite und sieht aus wie ein postkommunistisches Relikt aus den frühen 1990ern.“

Deutsche Hersteller exportierten im vergangenen Jahr noch Fahrzeuge im Wert von 24 Milliarden Euro nach China. Doch so dürfte es nicht mehr lange weitergehen. Im ersten Quartal 2023 wurde VW erstmals seit den achtziger Jahren als Marktführer in China überholt – von BYD, das erst 2003 in den Fahrzeugbau einstieg, ursprünglich auf die Herstellung von Batterien spezialisiert war und seine Absatzzahlen innerhalb der vergangenen zwölf Monate um 69 Prozent steigern konnte. Im Zukunftssegment Elektromobilität liegt der gemeinsame Marktanteil von VW, BMW und Mercedes in China bei weniger als fünf Prozent. Das erfolgreichste E-Auto von VW landete mit 7951 Verkäufen nur auf Rang 147 unter den Neuwagen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen kündigte der Vorstandsvorsitzende von Ford, Jim Farley, im Mai an, sich auf dem chinesischen Markt stärker auf lukrative Nischen mit großen Margen zu konzentrieren. Bei der Elektromobilität hält er sein Unternehmen offenbar nicht für konkurrenzfähig: So habe Farley, wie die Financial Times berichtete, jüngst gewarnt, dass sich in diesem Segment keine westlichen oder japanischen Autobauer durchsetzen würden, sondern die neuen, einheimischen Anbieter aus China. Peugeot, Citroën und weitere internationale Anbieter sehen das der Financial Times zufolge ähnlich. Doch die deutschen Hersteller können oder wollen es sich nicht leisten, auf diesem Markt kürzer zu treten – Ola Källenius, Hauptgeschäftsführer von Mercedes Benz, sagte gegenüber der Welt: „Sich in China zu begrenzen, würde uns schwächer machen. Das kann nicht die Strategie sein.“ Immerhin verkauft das Unternehmen ein Drittel seiner Fahrzeuge in die Volksrepublik. Im Fall von Audi sind es sogar 41,6 Prozent. Und Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, betonte, dass 70 Prozent der Arbeitsplätze in der deutschen Autobranche vom Exportgeschäft abhingen und China dabei der mit großem Abstand wichtigste Markt sei. Zudem können die deutschen Autofirmen nur hoffen, dass das autoritäre Regime, von dem man sich abhängig gemacht hat, keinen Angriffskrieg auf Taiwan startet. „Ein geopolitischer Konflikt mit der Volksrepublik würde die deutsche Autoindustrie ruinieren“, mutmaßte vor kurzem die Autozeitung. Doch vielleicht braucht es dafür gar keinen Krieg. Denn nicht nur verlieren die deutschen Produzenten Marktanteile in China – sie verlieren auch hierzulande Marktanteile an chinesische Hersteller. „China-Autos überrollen Europa“, schlug jüngst die Bild-Zeitung Alarm, weil chinesische Hersteller ihren Marktanteil bei E-Autos innerhalb eines Jahres verdreifacht haben. Von den derzeit 90 in der Bundesrepublik angebotenen Elektroautomodellen würden bereits heute 19 ausschließlich in China produziert.

„Manchmal fällt es schwer zu sagen, wo die deutsche Regierung endet und die Autoindustrie beginnt“, schrieb die New York Times 2017. Mittlerweile ist fraglich, ob die zweifellos industriefreundlich gemeinte deutsche Politik der Branche wirklich einen Gefallen getan hat, als sie das Umsatteln von Verbrennungsmotoren auf elektrische Antriebe stetig hintertrieben hat. Weil die deutsche Autoindustrie beim Thema Umweltschutz nicht genügend Erfindergeist an den Tag lege, müsse durch „ein klares Ultimatum“ der „notwendige Innovationsdruck“ erzeugt werden, forderte schon 2007 Markus Söder, seinerzeit noch als CSU-Generalsekretär. Seine Partei vertrat damals tatsächlich die Position, dass Verbrennungsmotoren in der Bundesrepublik ab dem Jahr 2020 verboten sein sollten, auch damit die deutsche Leitindustrie international konkurrenzfähig bleibe. Da erscheint es als Treppenwitz, dass mit der FDP eine Partei, die Wirtschaftsnähe als ihre Kernkompetenz versteht, noch heute das Verbrenner-Aus nach Kräften sabotiert.