Verwertung der Natur: Alles hat seinen Preis

Warum wir eine neue Definition von Reichtum brauchen

Von Minh Schredle

zuerst erschienen am 27.04.2022 in KONTEXT:Wochenzeitung

Ein Stück Natur ist was wert, wenn sich ein Haus drauf pflanzen lässt oder der Acker Ertrag bringt. Wo Biotope unangetastet bleiben, liegt hingegen eine verpasste Gelegenheit vor, Gewinn zu machen. Höchste Zeit, über eine andere Definition von Reichtum nachzudenken.

Sparfüchse aufgepasst! Um sich ein wenig Land anzueignen, braucht es nicht zwangsweise eine große Geldbörse. So steht bei Niederhausen an der Appel derzeit ein Grundstück mit Bäumen und Sträuchern – Zustand „lebhafter Wildwuchs“ – für schlanke 3,20 Euro den Quadratmeter zum Angebot. Doch gilt beim Bodenwert die alte Immobilienweisheit: Lage, Lage, Lage! Damit die gleiche Fläche unter den Füßen einen Spitzenpreis erzielen kann, muss sie vom Reichtum umzingelt sein, mit einer bärenstarken Premiumwirtschaft und prestigeträchtigen Topmarken. Etwa wie in Stuttgart, wo ein Quadratmeter der Königstraße für bis zu 30.000 Euro zum Verkauf steht.

Solch ein ökonomisches Potenzial entfaltet die Natur nicht von selbst. Dafür braucht es Tatkraft und Gestaltungswillen. Mehr als 50 Hektar Land werden daher jeden Tag in Deutschland neu in Anspruch genommen. In Altdorf verwandelt sich Waldboden in Kiesgruben, in Weilheim an der Teck stimmen die Bürgerinnen und Bürger mit großer Mehrheit für neue Gewerbeflächen zugunsten einer Wasserstoff-Fabrik, und um der Wohnungsnot in fast allen Großstädten der Republik zu begegnen, lautet die landauf landab propagierte Strategie gegen explodierende Mieten: bauen, bauen, bauen (wenn auch der Nachweis fehlt, dass Neubau tatsächlich zu sinkenden Preisen führt).

Ein intaktes Biotop ist hingegen ein doppelter Kostenfaktor. Einmal weil die Pflege aufwendig sein kann, es Profis braucht, um gefährdeten Arten angemessene Lebensräume einzurichten und ein geschütztes Gebiet, das Menschenmengen den Zutritt verwehrt, ganz ohne Ticketverkäufe schlecht Einnahmen generieren kann. Ergo: ein Zuschussgeschäft! Dazu kommen aber noch die Opportunitätskosten – also das, was entgeht, wenn niemand an den maximierten Nutzen denkt: Mit Tourismusmagneten könnte ein potenzieller Boom bereits darauf warten, endlich verwirklicht zu werden. Nicht nur beim „Spass-Park Hochschwarzwald“ sind daher neue Betten geplant.

Lukrative Fiktion, wertlose Realität

Einen Wert im ökonomischen Sinn haben Wald und Wiesen erst, wo sie zum Gegenstand wirtschaftlicher Verwertungsprozesse werden, sei es durch eine Bebauung, ertragreiche Äcker oder als Rohstoffquelle. Das ist insofern bemerkenswert, als dass sich prinzipiell mit jedem Unsinn Geld verdienen lässt, auch wenn diesem jeder praktische Nutzen fehlt. Es reicht ja schon, wenn genügend Menschen davon ausgehen, dass ein Phantasieprodukt als Spekulationsobjekt eines Tages mehr wert sein wird als heute. Folglich gibt es viele Bitcoin-Millionäre, aber keine Biotop-Bourgeoise.

Damit scheint sich jedoch eine einfache Lösung abzuzeichnen, wie sich unvernutzte Umwelt und Wertsteigerung doch noch in Einklang bringen lassen könnten: durch Privatisierung und Spekulation. Wie wäre es zum Beispiel, wenn Elon Musk das Naturschutzgebiet Wurzacher Ried aufkauft und unangetastet lässt? Wenn das Moor dann in ein paar Jahren, mit voranschreitender Dystopisierung des Planeten, als kleines Refugium für rare Amphibien im Wert gestiegen ist, könnte er es gewinnbringend an Jeff Bezos abtreten.
Nur leider wurzelt das Problem noch tiefer.

Die Wirtschaft: planmäßig und effizient?

Der Brockhaus-Enzyklopädie ist zu entnehmen: „Wirtschaft dient innerhalb des menschlichen Daseins der materiellen Erhaltung und Sicherung des Lebens des einzelnen oder einer Vielheit von Menschen.“ Auch bei Wikipedia heißt es: „Unter Wirtschaften werden alle menschlichen Aktivitäten verstanden, die mit dem Ziel einer bestmöglichen Bedürfnisbefriedigung planmäßig und effizient über knappe Ressourcen entscheiden.“

Gemessen an der verschwenderischen Realität der Gegenwart muss dieses Ziel wohl als gescheitert gelten. Während knapp eine Milliarde Menschen an Hunger leidet, landet ein Drittel der global produzierten Lebensmittel auf der Müllhalde. Ob Artenschwund oder Erderhitzung: Unübersehbare Alarmsignale machen seit Jahrzehnten überdeutlich, dass es mehr als überfällig wäre, den Stoffwechselprozess des Menschen mit seiner Umwelt planmäßiger zu gestalten, um die materielle Erhaltung des Daseins zu sichern, angefangen mit der Erkenntnis, dass Ressourcen knapp sind.

Wie aber kommt es, dass trotz aller politischen Willensbekundung, die genannten Krisen in den Griff zu bekommen, trotz unzähliger Sonntagsreden, die zu Verzicht und Mäßigung aufrufen, der Hunger nach Rohstoffen und die Vernutzung der Natur nicht ab-, sondern immer weiter zunehmen?

Einen Anhaltspunkt für vertiefende Betrachtungen könnte das in der Volkswirtschaftslehre weit verbreitete Missverständnis liefern, unsere gegenwärtige Form zu wirtschaften diene in erster Linie dazu, Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist allenfalls sekundär. Denn in der Konkurrenz der Marktwirtschaft ist kein Unternehmen von dem Zwang befreit, langfristig schwarze Zahlen zu schreiben – andernfalls folgt der Bankrott. Entsprechend ist auch der konkrete Nutzen eines Produktes oder einer Leistung zweitrangig: Oberste Priorität muss dabei haben, dass die Ausgaben die Einnahmen nicht übersteigen.

Konfliktverlagerungen statt Lösungen

Nun hängt der Reichtum einer Gesellschaft in der herrschenden Wirtschaftsordnung unmittelbar mit ihrer warenproduzierenden Industrie zusammen, in der der Großteil der Wertschöpfung erfolgt. Nicht nur die Unternehmen sind dabei in einen permanenten Verwertungskreislauf eingebettet – sondern auch die davon abhängigen Arbeitsplätze. Monat für Monat müssen Löhne ausgezahlt werden, wo Einnahmen wegbrechen und das Wachstum ins Stocken gerät, droht sofort die Krise.

Um den Kreislauf aufrecht zu erhalten, braucht es also eine unablässige Zufuhr neuer Ressourcen – was den Naturschutz in Bedrängnis bringt. Das zeigen auch die bisherigen Bemühungen: So gab es in der Vergangenheit durchaus punktuelle Erfolge, um schädliche Einflüsse auf die Umwelt zu reduzieren, etwa dass die giftigen Chemikalien einer Fabrik heute nicht mehr ohne Weiteres im nächst gelegenen Fluss entsorgt werden dürfen. Letztlich handelt es sich dabei aber um bloße Verlagerungen des zugrundeliegenden Konflikts: Die Gesamtbilanz bleibt desaströs.

Laut den Vereinten Nationen wurden der Natur 2017 weltweit erstmals mehr als 90 Milliarden Tonnen Rohstoffe entnommen – mehr als drei Mal so viel wie 1970. Solange sich das Verhältnis zur Naturvernutzung nicht grundlegend wandelt, würde es also nicht einmal reichen, nur CO2-Bilanzen zu reduzieren. Abgesehen davon, dass auch das nicht so recht gelingen will.

Eine Strategie, die sich aktuell großer Popularität erfreut, will Wachstum, Emissionen und Ressourcenverbrauch von einander entkoppeln. Allerdings gibt es dem Europäischen Umweltbüro zufolge aktuell „keine empirische Evidenz“, dass sich dieses Vorhaben auch verwirklichen lässt, und es sei ebenfalls „unwahrscheinlich, dass eine solche Entkopplung in Zukunft geschehen wird“. Damit erscheine das Konzept weniger als Chance denn als Drohung.

Um auf einen grünen Zweig zu kommen, ist eine sozial-ökologische Transformation hin zum Postwachstum unabdingbar. Ein Bestandteil wäre es, den Reichtum von Gesellschaft und Natur anders zu definieren als über den ökonomischen Wert.