»Dies bleibt sein unsterbliches Verdienst«

Wie ein Breslauer Jude vor 175 Jahren in der 48er-Revolution für die Demokratie kämpfte und vor 160 Jahren die spätere SPD gründete.

Von Thomas Tews

(zuerst erschienen am April 2023 – 29 Nisan 5783 bei haGalil.com)

Ferdinand Lassalle kam am 13. April 1825 als Spross einer jüdischen Breslauer Bürgerfamilie zur Welt. Sein Großvater Feitel Braun war ein Anhänger des jüdischen Philosophen der Aufklärung Moses Mendelssohn und sein Vater Chaijm Wolfsohn aus Loslau, später Heymann Lasal, sollte ursprünglich Rabbiner werden, entschied sich aber für eine Tätigkeit als Seidenhändler und heiratete Rosalie Herzfeld, Lassalles Mutter. Im Alter von 14 Jahren zog Lassalle von Breslau nach Leipzig, um eine dortige Handelsschule zu besuchen. Dort notierte er nach einem jüdischen Begräbnis am 2. Februar 1840 in seinem Tagebuch: »Ich könnte … mein Leben wagen, um die Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu befreien.« Als Lasalle im Mai 1840 erfuhr, dass der Gouverneur von Damaskus, Scherif Pascha, aufgrund falscher, von katholischen Mönchen in Umlauf gebrachter Ritualmordbeschuldigungen – mit Unterstützung des Konsuls der »Schutzmacht« Frankreich – zahlreiche jüdische Menschen, unter ihnen 60 Kinder, eingesperrt hatte, um sie durch Aushungerung und Folterung zu falschen Aussagen oder Geständnissen zu zwingen, schrieb er erschüttert in sein Tagebuch: »Abends brachte mir der Bruder von Madame Direktor den Bericht über die Juden von Damaskus. O, es ist schrecklich zu lesen, schrecklich zu hören, ohne dass die Haare starren und sich alle Gefühle des Herzens in Wut verwandeln.« Der erst 15-jährige Lassalle wünschte, dass die Ereignisse in Damaskus zu einem Fanal der Revolution würden: »Gab es je eine Revolution, die gerechter wäre, als die, wenn die Juden in jeder Stadt aufständen …?«

Drei Jahre später legte Lassalle in Breslau sein Abitur ab und studierte anschließend in Breslau und Berlin Philologie, Geschichte und Philosophie. Seinem Vater schrieb er am 13. Mai 1844: »Die Philosophie trat an mich heran, und sie gebar mich wieder und von neuem im Geiste. Diese geistige Wiedergeburt gab mir alles, gab mir Klarheit, Selbstbewusstsein, gab mir zum Inhalt die absoluten Mächte des menschlichen Geistes …, kurz sie machte mich zu der sich selbst erfassenden Vernunft«.

Im Winter 1845/46 und im Laufe des Jahres 1847 hielt sich Lassalle in Paris auf, wo er Karl Grün, Georg Herwegh, Pierre-Joseph Proudhon und Heinrich Heine traf. Um seinem Namen einen französischen Klang zu geben, änderte er ihn von »Lasal« in »Lassalle«. Heine, selbst jüdischer Herkunft, bekundete in einem Empfehlungsschreiben an Varnhagen von Ense sein Erstaunen über den jungen Lassalle: »Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief überbringt, ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je vorgekommen; mit der reichsten Begabnis in der Darstellung verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen setzen.«

Zu Beginn des Jahres 1846 lernte Lassalle in Berlin die Gräfin Sophie von Hatzfeldt kennen, die sich gerade von ihrem Ehemann, dem mächtigen Grafen Edmund von Hatzfeldt, mit dem sie als 17-Jährige verheiratet worden war, scheiden ließ. Letzterer hatte sie betrogen und, nachdem sie damit an die Öffentlichkeit gegangen war, verstoßen. Obwohl Lassalle juristischer Autodidakt war, wurde er von der Gräfin als Generalbevollmächtigter mit der Vertretung ihrer Interessen im Scheidungsverfahren betraut, worin Lassalle einen Kampf David gegen Goliath erblickte: »Und ich, ein junger machtloser Jude, erhob mich gegen die furchtbarsten Mächte – ich allein gegen die ganze Welt, gegen die Mächte des Ranges und der ganzen Aristokratie, gegen die Macht eines unbegrenzten Reichtums, … gegen alle nur möglichen Vorurteile.« Lassalles Jugendfreund Felix Oppenheim entwendete einer Geliebten des Grafen eine Kassette, in der sich jedoch nicht die erhofften Beweise für die Untreue des Grafen fanden. Dieser Kassettendiebstahl brachte Oppenheim ins Gefängnis und auch Lassalle wurde wegen Vernichtung von Beweisstücken und »geistiger Urheberschaft« des Diebstahles von März bis Mai 1847 und von Februar bis August 1848 in Untersuchungshaft genommen, wodurch er die ersten Monate der 48er-Revolution verpasste.

Kurz nach seinem Freispruch und seiner Entlassung aus der Haft am 11. August 1848 protestierte Lassalle auf einer Massenkundgebung in Köln gegen die Verhaftung von Ferdinand Freiligrath, der wegen seines Gedichtes »Die Toten an die Lebenden« in Untersuchungshaft saß. Am 17. September 1848 betonte Lassalle zusammen mit Friedrich Engels auf einer Volksversammlung in Worringen nördlich von Köln die Notwendigkeit der Verteidigung der demokratisch-sozialen Errungenschaften der 48er-Revolution. Da der passive Widerstand erschöpft sei, rief Lassalle die Frankfurter Nationalversammlung, die sich nach der ersten deutschlandweiten Wahl im April und Mai 1848 konstituiert hatte, zur Volksbewaffnung auf. Sein Mut stieß bei Karl Marx augenscheinlich auf so große Bewunderung, dass er kurz vor seiner erneuten Verhaftung am 22. November 1848 einer von Marxʼ wenigen Duzfreunden wurde. In dem seiner Verhaftung folgenden Prozess vor dem Staatsgerichtshof bezeichnete sich Lassalle als »Revolutionär aus Prinzip« und warf dem preußischen König ob seines Vetos gegen die von der Nationalversammlung erarbeitete Verfassung Verrat vor: »Die Berliner Bevölkerung legte am 19. März, als sie unter Waffen stand, die Waffen weg, weil ihr Erfüllung ihrer Forderungen verheißen war.« Im Mai 1849 wurde Lassalle zwar freigesprochen, aber wegen Beleidigung des Oberstaatsanwaltes direkt wieder in Untersuchungshaft genommen und schließlich zu einer Haftstrafe verurteilt, deren Vollzug jedoch ausgesetzt wurde. Erst nach der endgültigen Niederlage der Revolution musste Lassalle seine Haftstrafe bis April 1851 verbüßen.

Nach seiner Entlassung widmete sich Lassalle wieder dem Scheidungsverfahren der Gräfin Hatzfeldt, das er 1854 – nach über acht Jahren Prozessführung – mit einem für die Gräfin vorteilhaften Vergleich erfolgreich abschließen konnte. Als Belohnung erhielt er fortan von der Gräfin eine Jahresrente, die ihm finanzielle Unabhängigkeit sicherte. So konnte er 1858 seine vierzehn Jahre zuvor begonnene wissenschaftliche Arbeit über die Philosophie Heraklits vollenden, mit der er sich bei seinen akademischen Lehrern und Freunden, unter ihnen Alexander von Humboldt, hohes Ansehen erwarb. Zwei Jahre später erhielt er durch Humboldts Vermittlung ein Wohnrecht in Berlin und den Zugang zur Berliner Gesellschaft. Dagegen blieben seine Bemühungen, für Marx, der – trotz ihres zunehmend durch Rivalität gekennzeichneten Verhältnisses – vom 1. bis 12. April 1860 bei ihm zu Gast war, ein Niederlassungsrecht in Berlin zu erwirken, vergeblich. Zum endgültigen Bruch zwischen den beiden kam es nach Lassalles Gegenbesuch bei Marx in London 1862.

Seit dem Frühjahr 1862 widmete sich Lassalle ganz der politischen Emanzipation der Arbeiter*innenschaft und hielt – anschließend in Broschürenform publizierte – Vorträge »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes« sowie »Die Wissenschaft und die Arbeiter«. Als sich ein von einem Leipziger Arbeiter*innenbildungsverein ins Leben gerufenes »Central-Comité zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Congresses« im Februar 1863 mit der Bitte um die Ausarbeitung eines Programmentwurfes an Lassalle wandte, beschrieb dieser in seinem »Offenen Antwortschreiben« vom 1. März 1863 – einem Schlüsseldokument der sozialistischen Arbeiterbewegung –, wie seines Erachtens eine Verbesserung der politischen und sozialen Situation der Arbeiter*innen zu erreichen sei. Sein Aufruf zur Gründung einer eigenständigen Partei wurde mit Interesse und Zustimmung aufgenommen und so gründeten am 23. Mai 1863 in Leipzig Delegierte aus elf Orten den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« (ADAV), die erste Arbeiter*innenpartei im deutschsprachigen Raum, und wählten Lassalle für fünf Jahre zu ihrem Präsidenten. Zu einem unverzichtbaren Mitarbeiter Lassalles im ADAV wurde der jüdische Philosoph und Schriftsteller Moses Hess, der mit seinem 1862 erschienenen Buch »Rom und Jerusalem« ein Vordenker des Zionismus war.

Nach gut einem Jahr an der Spitze des ADAV erlitt Lassalle am 28. August 1864 bei einem Duell um eine Frau eine Schussverletzung, der er drei Tage später erlag. An Trauerfeiern in Frankfurt und Mainz nahm eine unüberschaubar große Menschenmenge teil, die die Gräfin Hatzfeldt wie folgt beschrieb: »Bis auf die Dächer waren Menschen. Alle Klassen waren beteiligt. Es wundert mich nur, dass die Polizei nicht eingeschritten; es war ihnen wahrscheinlich zu großartig.« In Breslau, wo Lassalle von seiner Mutter auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt wurde, verhinderte die Polizei eine entsprechende Demonstration. Eine eigens zur Totenfeier von Jacob Audorf gedichtete Hymne wurde zu einer Art »Arbeiter-Marseillaise«: »… ›Das freie Wahlrecht ist das Zeichen, / In dem wir siegen‹ – nun, wohlan! / Nicht predigen wir Hass den Reichen, / Nur gleiches Recht für jedermann. / Die Lieb soll uns zusammenketten, / Wir strecken aus die Bruderhand, / Aus geistger Schmach das Vaterland, / Das Volk vom Elend zu erretten! // Nicht zählen wir den Feind, / Nicht die Gefahren all: / Der kühnen Bahn nur folgen wir, / Die uns geführt Lassalle.«

Selbst Marx würdigte in seinem Schreiben vom 13. Oktober 1868 an Jean Baptist von Schweitzer, einen Nachfolger Lassalles im Amt des ADAV-Präsidenten, die Verdienste, die sich Lassalle mit der Gründung des ADAV eineinhalb Jahrzehnte nach der gescheiterten Revolution von 1848 unbestreitbar erworben hatte: »Nach fünfzehnjährigem Schlummer rief Lassalle – und dies bleibt sein unsterbliches Verdienst – die Arbeiterbewegung wieder wach in Deutschland.«

Elf Jahre nach Lassalles Tod vereinigte sich der ADAV mit der 1869 in Eisenach gegründeten »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« (SDAP) zur »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands« (SAP). Das Gedenkblatt zum Gothaer Einigungsparteitag zeigt im Zentrum groß Marx und Lassalle, umrahmt u. a. von August Bebel, Wilhelm Hasenclever und Wilhelm Liebknecht. Auf ihrem Erfurter Parteitag 1891 änderte die Partei ihren Namen in »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD).

Lassalle blieb lange Zeit eine feste Referenzgröße, wie eine – auf Audorfs Hymne anspielende – Bemerkung Kurt Tucholskys auf einem sozialdemokratischen Parteitag zur Zeit der Weimarer Republik zeigt: »Wir sind noch nie so weit entfernt gewesen, von jener Bahn, die uns geführt Lasalle!«

1933 wurde Lassalles Grabmal auf dem jüdischen Friedhof in Breslau von den Nationalsozialisten geschändet. Nach der Eroberung Breslaus durch die Sowjetarmee wurde es wiederhergestellt und erhielt eine polnische Inschrift, die übersetzt »Dem großen Sozialisten« lautet.

In seinen »Autobiographischen Fragmenten« erinnerte sich der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, wie er sich in jungen Jahren »mit den Reden und Schriften Ferdinand Lassalles und auch mit seiner Biographie beschäftigt« hatte: »Ich bewunderte an ihm die geistige Leidenschaft und die Bereitschaft, wie in dem öffentlichen so im persönlichen Leben die Existenz einzusetzen.«

Als »Vorgang von epochaler Bedeutung« charakterisiert der Historiker Dieter Dowe, der von 1990 bis 2008 das Historische Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung leitete, die Gründung des ADAV, wobei er betont, dass Lassalle auf den Schultern der 48er-Revolutionäre gestanden und deren unterdrücktes Wirken wiederbelebt habe. Der Pädagoge und Historiker Heinz Kapp bringt es in seiner 2006 erschienenen Dissertation über »Revolutionäre jüdischer Herkunft in Europa 1848/49« auf die treffende Formel: »Ferdinand Lassalle: ein jüdischer Bürger verändert die Welt«.