Keine Zeit für Klassenkampf?

von Benjamin Horvath

Kommentar zum Artikel „Klassenkampf ist zu wenig“ von Lothar Galow-Bergemann, erschienen in Jungle World #4/2020 23. Januar 2020.

Auch wenn manche die Arbeiterklasse aus dem Blick verloren haben – es gibt sie und Klassenkämpfe sind notwendig.“i

Das erkannte nicht bloß die ArbeiterInnenbewegung, nein auch die besitzende Klasse führt Klassenkämpfe für ihre Interessen, wie es auch Warren Buffett benannt hat.ii Der Klassenantagonismus hält seine Gegensätze in einem konstanten Konfliktverhältnis. Egal ob Lohn, Arbeitszeit oder Urlaubstage: Um auch mehr vom Leben zu haben, rangen Gewerkschaften den Arbeitgebern immer wieder, branchenspezifisch, Zugeständnisse ab. In mehreren Etappen wurde der Zehn-Stunden-Tag und 1918 der Acht-Stunden-Tag eingeführt. In den 1980er Jahren gab es sogar eine breite Bewegung für die 35-Stunden-Woche, welche letztlich in der Druck-,iii Metall- und Elektroindustrie eingeführt wurde. iv Auch der tariflich festgehaltene Anspruch auf bezahlte Urlaubstage wurde seit seiner Einführung im Jahre 1903 von drei Tagen auf heute 30 Tage angehoben.v Die heute gesetzlich festlegten Arbeitszeiten sind das Resultat gewerkschaftlicher (Klassen-)Kämpfe und regulierender Eingriffe des Staates.vi

Ein Kampf um Arbeitszeitverkürzung »bei vollem Lohn- und Personalausgleich« mag in einem reichen Land wie Deutschland vielleicht noch mit Blick auf eine 30-Stundenwoche für einige durchsetzbar sein – bei sehr günstigen und eher unwahrscheinlichen Kräfteverhältnissen“.vii

Leider stehen die Gewerkschaften in Deutschland heutzutage – zumindest deren Spitzen – der Verkürzung der Arbeitszeit eher skeptisch gegenüber.viii Denn die Gegenseite opponiert weiterhin gegen die Verkürzung des Arbeitstages bzw. der Arbeitswoche. Ohne an dieser Stelle auf die Debatte um mögliche sinkende Beschäftigungszahlenix, im Rahmen zunehmender Automatisierung durch die „mikroelektronische Revolution“,x einzugehen, geht die bereits bestehende Konkurrenz unter den Arbeitssuchenden mit der Bereitschaft einher, mehr für den Erhalt seines Arbeitsplatzes zu opfern: Neben der Gesundheit auch die Freizeit. Zunehmend ragt die Arbeit in die Freizeit hinein. Gerade in Deutschland ist die Menge an unbezahlten Überstunden im EU-weiten Vergleich besonders hoch.xi Werden diese nicht im Büro abgeleistet, bietet die Entwicklung der Kommunikationstechnik die Möglichkeit, unerfüllte Aufgaben in der Freizeit zu bearbeiten.xii Die Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit verwischt durch die „Entgrenzung der Arbeit“.xiii

Die Gewerkschaften haben bisher keine Strategien um mit der zunehmenden Auflösung der Grenze zwischen Arbeit und Freizeit umzugehen. Genauso wenig wie für Arbeit deren tatsächlich geleistete Arbeitszeit für die Entlohnung keine Rolle mehr spielt. In Beschäftigungsverhältnisse mit freien MitarbeiterInnen für Werks- und Projektarbeiten interessiert einzig das abgelieferte Produkt.xiv Im schlimmsten Falle stehen sich hier, bei Aufträgen ohne festen Arbeitsplatz, sogar AuftragnehmerInnen in einer internationalen Konkurrenz gegenüber und geben jegliche Rechte an ihren Beiträgen an die Auftraggeber ab.

Wohin mit der ganzen Zeit?

Angenommen die Gewerkschaften wären bereit, sich dem Ziel einer radikalen Arbeitszeitverkürzung annehmen, wofür würde ein Mehr an erkämpfter Freizeit genutzt werden? Lothar Galow-Bergemann würde sich „all dem Schönen widmen, das das Leben zu bieten hat“,xv dem ich mich ohne Wenn und Aber anschließen würde. Doch wie frei sind wir wirklich in unserer Freizeit? Theodor W. Adorno beschäftigte sich mit dem Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit in seinem Aufsatz Freizeit und kommt zum Urteil, dass die Verkürzung des Arbeitstages nicht zwangsläufig zu mehr Freiheit führen muss.

Oberflächliche mag ein Gegensatz zwischen Arbeits- und Freizeit bestehen, da die Gestaltung der Freizeit vermeintlich das Ziel haben soll, die Arbeitskraft wieder herzustellen.xvi Oder wie es bei Marx heißt: „Die Ersparung von Arbeitszeit ist gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit“.xvii Diesem vorherrschenden Denkschema zufolge solle die Freizeit nicht an Arbeit erinnern, um wieder konzentriert seinen Aufgaben nachgehen zu können.xviii Doch Adorno entlarvt den bürgerlichen Freizeit-Begriff und zeigt auf, dass die Menschen in dieser Zeitphase eben nicht frei sind und Freizeit nicht zwangsläufig die Abwesenheit von Arbeit bedeutet. Freizeit sei an ihren Gegensatz gekettet, welcher ihr selbst wesentliche Züge, wie Konsumierbarkeit einprägt, und sie funktionsbestimmt werden lässt.xix Zum einen zeigt sich dies exemplarisch an der „Hobby-Ideologie“: Hobbys, mit denen die Freizeit gefüllt werden soll, werden durch das „Angebot des Freizeitgeschäftsxx zur Ware. Wurde im Zelten beispielsweise einst eine Möglichkeit gesehen, dem Zuhause und der Familie zu entfliehen, kann man sich heute Outdoor-Shops und Funktionskleidung mit ihren exorbitanten Preisen aus dem Stadtbild nicht mehr wegdenken. Neben ihrer Konsumierbarkeit eignen sich gewisse Freizeittätigkeiten hervorragend, den Individuen ohne ihr Wissen Verhaltensweisen einzuprägen, welche „mehr oder minder sublimiert, im Arbeitsprozeß von ihnen erwartet werden“.xxi Was früher Aussteigern und Hippies vorbehalten war, wird heute gesellschaftlich erwartet, um in Gesprächen auf der Party oder gleich im Hostel mithalten zu können: Exzessives Reisen. Offenheit im Gespräch mit „Fremden“ und die, im Universitätsseminar vorbereitete, „interkulturelle Kompetenz“, werden hier auf die Probe gestellt. Darin tendiert Freizeit zum Gegenteil seines eigenen Begriffs und verkommt zu dessen Parodie: „In ihr verlängert sich Unfreiheit, den meisten der unfreien Menschen so unbewußt wie ihre Unfreiheit selbst“.xxii

Alle, die bereits an einer Maßnahme des Jobcenters teilgenommen haben, wissen wie jedes noch so kleine Detail aus dem Privatleben für den Lebenslauf oder ein Anschreiben ausgeschlachtet werden soll, um die Chancen gegen die MitbewerberInnen zu erhöhen. Bei klarem Bewusstsein und der Überzeugung um dessen Notwendigkeit, richten sich Menschen in ihrer Freizeit in einer Art und Weise zu, um innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu bestehen. Wer dazugehören will muss in seinen Körper und Geist investieren. Im Fitnessstudio schwitzen die Leute nicht (nur) für ihr Wohlbefinden, sondern (auch) damit der Rücken vom vielen Sitzen müssen (nur für die oberen Etagen der Hierarchie gibt es Stehtische) nicht mehr schmerzt:

Die alte Begründung, man betreibe Sport, um fit zu bleiben, ist unwahr nur, weil sie die fitness als eigenständiges Ziel aufgibt; fitness für die Arbeit indessen ist wohl einer der geheimen Zwecke des Sports. Vielfach wird man im Sport erst sich selber einmal antun, und dann als Triumph der eigenen Freiheit genießen, was man sich unter gesellschaftlichem Druck antun und sich schmackhaft machen muß“.xxiii

Mit einem ganzen Ensemble an Smartphone Apps lassen sich Körperfunktionen kontinuierlich messen, um sich so weiter optimieren zu können. Tieferer Schlaf, mehr Bewegung sowie gesünderes und kalorienreduziertes Essen – jedes Detail wird kontrolliert und durchgeplant. Jeder und jede soll ständig das Beste aus sich herausholen.xxiv Wer sich selbst optimiertxxv und seine Fitnessdaten mit seiner Versicherungen teilt, zahlt dafür sogar geringere Beiträge oder erhält anderweitige Boni.xxvi

Mit Hilfe von Maschinen können ArbeiterInnen ihre Leistungsfähigkeit messen, um unter den Bedingungen des kapitalistischen Produktionsprozesses besser bestehen zu können. Neben der Konkurrenz zu anderen ArbeiterInnen nun auch in Konkurrenz zur Maschine. Das Spiel mit dem Kindxxvii kann unter diesen Bedingungen zur notwendigen, kreativitätssteigernden Maßnahme werden, damit die Kleinen es mal besser haben. So oder so: „Die Freizeit steht nicht mehr nur im Gegensatz zur Arbeit, sondern die Freizeit setzt die Arbeit „schattenhaft“ unmittelbar fort“.xxviii Und die Freizeit von der Arbeit zu befreien bedeutet auch, sie von der Marktlogik zu befreien und den Gegensatz zwischen Arbeit und Freizeit, wie auch den der Klassen, aufzulösen.

iGalow-Bergemann, Lothar: Klassenkampf ist zu wenig. In: https://jungle.world/artikel/2020/04/ klassenkampf-ist-zu-wenig

iiStein, Ben: In class warfare, guess which class is winning. In: https://www.nytimes.com/2006/11/26/ business/yourmoney/26every.html

iiiBöhm, Michaela: Vor 30 Jahren – Kampf um den freien Samstag. In: https://verdi-drupa.de/2019/04/11/vor-30-jahren-kampf-um-den-freien-samstag/

ivWilde Florian: Einleitung. In: Detje, Richard; Stamm, Sybille; Wilde, Florian: Kämpfe um Zeit – Bausteine für eine neue (Arbeits-)Zeitpolitische Offensive. Berlin Rosa-Luxemburg-Stiftung 2014, S. 7.

vEbd.

viKlenner, Christina: Veränderte Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse – Gewandelte Zeitwünsche. In: Detje, Richard; Stamm, Sybille; Wilde, Florian (Hrsg.): Kämpfe um Zeit, S. 24.

viiGalow-Bergemann: Klassenkampf ist zu wenig.

viiiKrull, Stephan: Arbeit Fair Teilen – Kurze Vollzeit für Alle!. In: Detje, Richard; Stamm, Sybille; Wilde, Florian (Hrsg.): Kämpfe um Zeit, S. 21.

ixInstituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Automatisierung seit den 70er Jahren – Arbeitsplatzverluste werden durch neue Arbeitsplätze ausgeglichen. In: https://www.iab.de/de/informationsservice/presse/ presseinformationen/kb1319.aspx

xRobert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, S. 289.

xiSiems, Dorothea: Was hinter dem deutschen Jobwunder steckt. In: https://www.welt.de/wirtschaft/ article168387418/ Was-hinter-dem-deutschen-Jobwunder-steckt.html

xiiHeidenreich, Martin; Zirra, Sascha: Arbeitseinstellungen. In: http://www.bpb.de/ politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138702/arbeitseinstellungen und Wilde Florian: Einleitung. In: Detje, Richard; Stamm, Sybille; Wilde, Florian: Kämpfe um Zeit, S. 8.

xiiiBillmann, Lucie: Junge Beschäftigte im Dienstleistungsbereich und ihr Umgang mit Zeit und Zeitdruck. In: Detje, Richard; Stamm, Sybille; Wilde, Florian: Kämpfe um Zeit, S. 36.

xivWilde: Einleitung, S. 9.

xvGalow-Bergemann: Klassenkampf ist zu wenig.

xviAdorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft 2 – Stichworte, S. 645.

xviiMarx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42 1983 Berlin, S. 607.

xviiiAdorno: Kulturkritik und Gesellschaft 2, S. 647.

xixEbd., S. 645.

xxEbd., S. 648.

xxiEbd., S. 653.

xxiiEbd., S. 646.

xxiiiEbd.

xxivFriedrichs, Julia: Selbstoptimierung – Das tollere Ich. In: http://www.zeit.de/2013/33/selbstoptimierung-leistungssteigerung-apps

xxvKlopotek, Felix: Immer besser geht nicht gut. In: http://www.deutschlandfunkkultur.de/selbstoptimierung-immer-besser-geht-nicht-gut.1005.de.html?dram:article_id=375290

xxviGröger, Anne-Christin: Generali erfindet den elektronischen Patienten. In: http://www.sueddeutsche.de/geld/neues-krankenversicherungsmodell-generali-erfindet-den-elektronischen-patienten-1.2229667

xxviiGalow-Bergemann, Lothar: Schön, dass uns die Arbeit ausgeht – Ein Plädoyer für massive Arbeitszeitverkürzung. In: PL3Q6E4PJrgSSt08ByGMxqslXlJ1UT7-Zl&index=20&t=0s&app=desktop

xxviiiAdorno: Kulturkritik und Gesellschaft 2, S. 652 ff.