Lokaljournalismus: Systemrelevante Selbstausbeutung

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 676 am 13. März 2024)

Die Pressevielfalt schwindet und dort, wo nicht mehr berichtet wird, erstarkt der Populismus. Kürzlich hat eine Studie diesen Zusammenhang am Beispiel baden-württembergischer Gemeinden untersucht. Kontext hat Reaktionen gesammelt.

Ganz im Osten Baden-Württembergs, an der Grenze zu Bayern, liegt die Gemeinde Fichtenau, die mit ihren knapp 5.000 Einwohner:innen „zu klein ist für eine eigene Zeitung“. So sagt es Anja Schmidt-Wagemann, die parteilose Bürgermeisterin, die gerade am Anfang ihrer zweiten Amtszeit steht und stolz ist auf ihren Ort: Auf Facebook teilt sie regelmäßig idyllische Schnappschüsse, zum Beispiel von eingeschneiten Wanderwegen oder vom Blick auf den kleinen See Brettenweiher, und immer mit dem Kommentar: „So schön ist Fichtenau …“

Doch wenn die Gemeinde in Schlagzeilen auftaucht, ist der Anlass meist weniger hübsch: Dann gab es vielleicht eine Schlägerei im Ortsteil Matzenbach. „Oftmals wird nur was Reißerisches oder Negatives gesucht“, ärgert sich Schmidt-Wagemann, die eigentlich überzeugt ist, dass „mehr Aufklärung und Information aus erster Hand sinnvoll wäre“. Aber eben sorgfältig recherchiert und nüchtern aufbereitet. „Wir haben einen Reporter, der in unserer Gemeinde wohnt“, erklärt die Bürgermeisterin gegenüber Kontext. „Seine Berichte sind immer angenehm zu lesen und sehr sachlich. Allerdings schreibt er nicht so oft über uns – und zudem hat er jetzt auch noch gekündigt.“

Fichtenau ist eine von rund 200 Gemeinden in Baden-Württemberg, über die nicht regelmäßig berichtet wird. Eine Untersuchung des Journalisten und Sozialwissenschaftlers Maxim Flößer kam kürzlich zu dem Befund, dass das Fehlen von Lokalzeitungen das Erstarken populistischer Kräfte begünstigt. So spielen die Bundestagsparteien im Fichtenauer Rathaus bislang zwar keine Rolle – die 14 Sitze im Gemeinderat teilen sich die Freie Wählervereinigung und die Fichtenauer Bürgerliste. Bei der Landtagswahl 2021 kam die AfD im Ort allerdings auf 18,2 Prozent der abgegebenen Stimmen, was deutlich über dem Landesdurchschnitt lag (9,7 Prozent). „Wenn ich lesen kann, dass der Metzger in meinem Ort sein Angebot erweitert oder die lokale Fußballmannschaft, bei der meine Tochter oder mein Sohn kickt, erfolgreich ist, dann stärkt das das Gefühl von Zusammenhalt“, erklärte Flößer vergangene Woche im Interview mit dem „Zeitungsverlag Waiblingen“. Wo die Öffentlichkeit aber uninformiert bleibt, beispielsweise nicht erklärt bekommt, warum gerade eine Straße gesperrt wird, befördert das Unverständnis und Missgunst. Bürgermeisterin Schmidt-Wagemann meint ebenfalls, dass sachliche Berichterstattung dazu beitragen könnte, Gemüter zu beruhigen.

Scholz spricht von „demokratischer Notwendigkeit“

„Uns beim Journalistenverband wundert es nicht, dass die Demokratie vor allem dort in Gefahr gerät, wo es keine Medien mehr vor Ort gibt“, kommentiert Markus Pfalzgraf, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbands Baden-Württemberg. Er sieht daher Politik und Medienhäuser in der Pflicht, sicherzustellen, „dass es Qualitätsjournalismus auch auf lokaler und regionaler Ebene gibt“. Immerhin entscheide sich gerade vor der eigenen Haustür, wie groß das Vertrauen in die Demokratie ist.

„Eine vielfältige journalistische Landschaft und Qualitätsjournalismus sind nach Überzeugung der Landesregierung von zentraler Bedeutung für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs“, bekräftigt Rudi Hoogvliet, grüner Staatssekretär für Medienpolitik in Baden-Württemberg. Gegenüber Kontext benennt er „die Gefahr, dass die Diskussionskultur nachhaltig Schaden nimmt“, wenn „sich die Meinungsbildung aus dem öffentlichen in den digitalen Raum globaler Plattformen zurückzieht“.

Denn die „Debattenkultur im Netz und die auf Aufmerksamkeitsmaximierung getrimmten Algorithmen fördern die Polarisierung in der Gesellschaft“, sagt Hoogvliet. Baden-Württemberg wolle gegensteuern, indem seit 2020 regionale Fernsehveranstalter finanziell gefördert werden und auch der nichtkommerzielle Lokalfunk Zuwendungen von der Landesanstalt für Kommunikation erhält.

Auf Bundesebene ist der Lokaljournalismus ebenfalls Thema. „Davon brauchen wir mehr und nicht weniger“, sagt die grüne Medienstaatsministerin Claudia Roth auf Anfrage von Kontext. Mit Blick auf die aktuellen Studienergebnisse erklärt sie, dass die regionale Berichterstattung „auch aufgrund steigender Kosten für Papier, Zustellung und Energie mehr Unterstützung braucht“. Ein wichtiger Schritt dabei sei aus ihrer Sicht eine weitere Absenkung der Mehrwertsteuer auf Presseprodukte, für die sie sich innerhalb der Bundesregierung einsetze. Ein Sprecher von Roth regt zudem an, insbesondere im Bereich der lokalen Berichterstattung über Kooperationen mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nachzudenken, etwa durch „gemeinsame Rechercheverbunde, von denen beide Seiten – auch angesichts des häufig kritisierten Konkurrenzverhältnisses – profitieren könnten“.

In der Politik ist das Problem nicht erst seit gestern bekannt. So veranstaltet die Bundeszentrale für politische Bildung einmal pro Jahr das „Forum Lokaljournalismus“, auf dem der zunehmende ökonomische Druck auf qualitativ hochwertige Nachrichten regelmäßig thematisiert wird. 2013 redete hier Olaf Scholz (SPD), damals noch als Erster Bürgermeister von Hamburg. „Ohne die journalistische Vermittlung von Informationen, ohne das kritische Nachfragen und das bissige Kommentieren wären wir kaum in der Lage, uns mit all den Dingen auseinanderzusetzen, die uns als Gesellschaft gemeinsam bewegen müssen“, sagte er damals und nannte hochwertige Berichterstattung eine „demokratische Notwendigkeit“. Während aber „der gesellschaftliche Wert journalistischer Angebote nach wie vor unbestritten“ sei, „sieht es mit der Frage nach dem wirtschaftlichen Wert des Journalismus, seiner Verkaufbarkeit, schon schwieriger aus“.

Lokaljournalismus ist prekär

Doch ähnlich wie beim Klimawandel ist ein Problembewusstsein noch nicht mit konkreten Lösungsansätzen gleichzusetzen. Der vielen Beteuerungen ungeachtet, wonach Journalismus für funktionierende Demokratien unverzichtbar ist, schwindet die Pressevielfalt. Lokalzeitungen werden geschlossen oder von großen Medienkonzernen aufgekauft und ausgedünnt. Ambitionierte, neu gegründete Projekte wie das gemeinnützige Online-Magazin „Karla“, das aus Konstanz berichten wollte, stehen vor großen Herausforderungen. Dort wollten sie auf keinen Fall „Selbstausbeutung“ betreiben, sondern „faire Löhne“ für professionellen Journalismus bezahlen, betonte Mitgründer Michael Lünstroth gegenüber Kontext. Die Konsequenz war, dass das Magazin nach nur einem Jahr vor dem Aus stand.

Tatsächlich ist die Beschäftigung in der Branche oftmals prekär. Nach Angaben des Berufsverbands Freischreiber gab es, Stand 2020, „in einem der wichtigsten Ressorts unserer Branche für rund ein Viertel der freien Journalist:innen kein Honorar, sondern ein Taschengeld, von dem sie nicht leben können“. Denn über ein Viertel der freien Lokaljournalist:innen würden laut einer Befragung maximal zehn Euro brutto pro Stunde verdienen.

Über die vergangenen Jahre haben sich viele Probleme in dieser systemrelevanten Branche weiter verschärft. Entsprechend unzufrieden zeigen sich Interessenverbände mit den bisherigen Maßnahmen der Politik. Einmal wäre da der Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV), in dem sich 318 Medienmarken und knapp 2.800 Online-Angebote organisieren. Sprecherin Anja Pasquay hebt gegenüber Kontext hervor: „Die Inhalte, die für die Diskussionskultur wie für die Demokratie in unserem Land konstitutiv sind, gibt es nicht umsonst.“ Umso wichtiger sei die gesamtgesellschaftliche Einsicht, dass qualitative Nachrichten Zeit und Geld kosten: „Unser Publikum muss bereit sein, für hochwertige digitale Inhalte zu bezahlen. Jede Zahlungsbereitschaft wird allerdings aktuell konterkariert von einem Überangebot kostenloser Texte, die beispielsweise die öffentlich-rechtlichen Sender zur Verfügung stellen.“ Die gebührenfinanzierte Konkurrenz durch ARD, ZDF und Co. ist privatwirtschaftlichen Medien, die durch Produktverkäufe überleben, seit jeher ein Dorn im Auge.

In den USA ist die Presseförderung weiter

Pasquay spricht sich „nachdrücklich für eine sachgerechte Förderung der Presse“ aus. So stünden Zeitungen für eine „für das demokratische Gemeinwesen unverzichtbare Meinungsbildung“. Es könne „nicht sein, dass dies durch eine Mehrwertsteuer belastet wird. Sprich: keine Steuer auf freie Meinung!“

Neben dem Branchenriesen BDZV stellt auch das 2021 gegründete Forum Gemeinnütziger Journalismus Forderungen an die Politik. Unter Verweis auf den „weitgehenden Zusammenbruch der klassischen Lokalmedien“ in den USA führt das Forum staatliche Stipendien an, mit denen die Berichterstattung aus kalifornischen „Nachrichtenwüsten“ gefördert wird. Der Staat Illinois solle zudem „verpflichtend die Hälfte seiner Werbeausgaben in lokalen Community-Medien schalten und diese steuerlich begünstigen“. Die Erfahrungswerte aus den USA würden klarmachen: „Lokalnachrichten sind nur von lokalem Interesse für ein begrenztes Publikum. Viel zu gering für eine auf möglichst vielen Klicks basierende Vermarktung. Digitale Strategie und eine profunde lokale Berichterstattung finden selten zusammen.“

Die Antworten liegen daher laut Forum „jenseits des Marktes“, zum Beispiel beim Non-Profit-Journalismus. Um diesen zu unterstützen, tue sich in Deutschland viel zu wenig. Dem Forum zufolge gebe es „keine medienpolitische Antwort auf die fortschreitende Krise im Lokalen“. Nun stehe auch die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung verankerte Rechtssicherheit für gemeinnützige Angebote auf der Kippe. Von denen gibt es ohnehin nur eine Handvoll in der Bundesrepublik. Nach aktuellem Stand haben Finanzämter Auslegungsspielräume, um diesen Status womöglich wieder abzuerkennen. Dem Forum zufolge sei es nun „höchste Zeit, neue Chancen für lokale journalistische Projekte zu schaffen“.