Menschenopfer für den Wahnsinn

Rezension zu Katja Hildebrands Roman „Mit der Faust in der Hand“

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 669 am 24. Januar 2024)

Als sich die Wehrmacht bereits aus Brettheim zurückgezogen hatte, ließ die SS noch im April 1945 drei Menschen wegen Wehrkraftzersetzung erhängen. Autorin Katja Hildebrand beschreibt die Tragödie aus der Sicht eines Hitlerjungen, der es nach dem Tod seiner Brüder gar nicht erwarten kann, an die Front zu stürmen.

Braucht es wirklich noch ein Hitler-Buch? Sind nicht schon genügend Seiten über die NS-Zeit gefüllt worden? Diese Fragen stellt sich Katja Hildebrand im Vorwort ihres Romans „Mit der Faust in der Hand“. Und sie fand gute Gründe, der vorhandenen Fülle eine weitere Publikation hinzuzufügen. Einmal wäre da die Feststellung, dass die Brettheimer Tragödie im April 1945, als sich die militärische Niederlage des Dritten Reichs bereits überdeutlich abzeichnete, sogar im Ort selbst erschreckend unbekannt sei. Vor allem aber hat Hildebrand als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen bemerkt, wie wenig Material vorhanden ist, das den Zugang zu Themen wie faschistische Indoktrination für Jugendliche attraktiv macht. Ihren Roman erzählt sie daher aus der Perspektive von Georg, einem Hitlerjungen, der sich mit 15 Jahren freiwillig für den Kampf an der Front meldet.

Grundlage für die Erzählung sind Todesurteile gegen drei Brettheimer Bürger, die nach einem Scheinprozess am 10. April 1945 vollstreckt worden sind. Die stark geschwächte Wehrmacht hatte das Gebiet im Nordosten des heutigen Baden-Württemberg bereits aufgegeben und alle Soldaten abgezogen. Doch die SS verlangte von der Zivilbevölkerung, Blockaden und Sperren gegen die anrückenden Panzer der US-Armee zu errichten, und schickte zur Verteidigung des Dorfes vier minderjährige Hitlerjungen, die mit Panzerfäusten, Granaten und Gewehren bewaffnet waren. Ein Pfarrer erinnerte sich nach dem Kriegsende, dass es „fast noch Kinder“ waren, und „jeder halbwegs vernünftige Mensch wußte, dass der totale Zusammenbruch unmittelbar bevorstand und jeder Widerstand, besonders der von Buben, sinnlos, ja geradezu verrückt war“. Als ein paar Bauern sahen, wie die Jungen Gruben aushoben, aus denen sie die Panzer beschießen wollten, schritten sie ein: Sie entwaffneten die Buben und versenkten ihre Gewehre in einem Teich.

Diese „Wehrkraftzersetzung“ endete tödlich. Der Bauer Friedrich Hanselmann, der sich gegenüber der SS als Verantwortlicher zu erkennen gab, sollte von einem Standgericht hingerichtet werden. Weil sich der Bürgermeister Leonhard Gackstatter und der NSDAP-Ortsgruppenleiter Leonhard Wolfmeyer, die als Beisitzer im Standgericht berufen worden waren, weigerten, das Todesurteil zu unterzeichnen, endeten auch sie am Galgen. Um den Hals des Bauern hing ein Schild: „Ich bin der Verräter Hanselmann.“ Auch Gackstatter und Wolfmeyer wurden gebrandmarkt: „Ich habe mich schützend vor den Verräter gestellt.“ Nur sieben Tage später wurde Brettheim durch Brand- und Splitterbomben zerstört. Die amerikanischen Truppen hatten die Bevölkerung zuvor aufgefordert sich zu ergeben. Doch niemand traute sich, weiße Fahnen zu hissen. Laut der SS war Brettheim bis zuletzt ein „Eckpfeiler der deutschen Verteidigung“.

Schulprojekt trieb Aufarbeitung voran

Dass die Erinnerung an diese verhängnisvollen Tage wachgehalten wird, ist auch Schülerinnen und Schülern zu verdanken. 1982 begann eine Filmgruppe der Oskar-von-Miller-Realschule in Rothenburg ob der Tauber, eine Dokumentation zu drehen, nachdem sie erfahren hatte, dass der Großvater zweier Schüler gehängt worden war. Katja Hildebrand hat dieser Film schwer beeindruckt: „Es bewegte mich zutiefst, die damals noch lebenden Augenzeugen, unter anderem die Tochter des Bürgermeisters Gackstatter, zu sehen und zu hören, wie sie von den Ereignissen im April 1945 berichteten.“

Seit 1992 gibt es in Brettheim, das inzwischen Teil der hohenlohischen Gemeinde Rot ist, auch ein Museum, das sich der Aufarbeitung verpflichtet hat, vorangetrieben von der Landeszentrale für politische Bildung und dem früheren Brettheimer Bürgermeister Friedrich Braun, der zum Zeitpunkt der Geschehnisse selbst im Alter der vier Hitlerjungen war. In der Erinnerungsstätte ist unter anderem eine der Panzerfäuste zu sehen, ausgestellt in einem Aquarium.

Die Idee, den Stoff als Roman zu verarbeiten, ist über etwa fünf Jahre gereift, erzählt Hildebrand. „Historische Erzählungen aus der Region sind ein bisschen mein Steckenpferd“, sagt die Schriftstellerin aus dem Jagsttal, die Ende 2021 auch schon eine Mordserie im Jagstberg des Mittelalters verarbeitete. „Mit der Faust in der Hand“ ist in enger Abstimmung mit der Erinnerungsstätte entstanden, das ist ihr wichtig. „Am Anfang war der Förderverein, der das Museum betreibt, noch skeptisch. Zum Beispiel wollte schon einmal eine Regisseurin Material, um einen Kinofilm zu drehen, aber das haben sie abgelehnt aus Angst, dass da etwas Reißerisches entsteht.“ Ihr gehe es in dem Buch nicht um Skandalisierung, sagt sie. Sondern darum, aus der Innenansicht nachzuzeichnen, weswegen sich Jugendliche für den Faschismus begeistern.

Hildebrand verweist dabei nicht nur auf die Umfragewerte der AfD, sondern auch auf völkische Zeltlager in ihrer Heimat Hohenlohe, in denen bereits Kinder die Blut-und-Boden-Ideologie eingetrichtert wird. Eines ihrer Lieblingsbücher ist „Die Welle“ – „übrigens auch eine tolle Verfilmung mit Jürgen Vogel“ –, weil darin so anschaulich deutlich werde, wohin autoritärer Gehorsam führen kann.

Faszination Panzerfaust

Als hauptberufliche Lehrerin hofft Hildebrand darauf, dass ihr Roman einmal Schullektüre wird. Für die zugrundeliegende Recherche hat sie Feldpost studiert, einige Originaldokumente sind im Wortlaut eingeflossen, Bürgermeister Gackstatter und Lehrer Wolfmeyer sind historische Personen. Doch über die vier Hitlerjungen selbst, die damals entwaffnet wurden, ist nur wenig bekannt. Im Gegensatz zu beispielsweise Klaus Theweleits psychoanalytischen „Männerphantasien“, die mit den autobiographischen Erzählungen ehemaliger Freikorpskämpfer arbeiten, gab es hier keine Tagebücher oder Ähnliches, die einen unmittelbaren Einblick in die Innenansichten ermöglichen. „Also brauchte es Fantasie, um die Leerstellen zu füllen“, sagt Hildebrand. Ihr Protagonist Georg ist also eine fiktive Figur, „aber ich habe mir alle Mühe gegeben, damit sie authentisch ist und dass alles, was ich beschreibe, wirklich so geschehen sein könnte“. Das habe sie etwa von Ex-Bürgermeister Braun prüfen lassen, der bestätigt habe, dass die Beschreibungen seiner Wahrnehmung der damaligen Zeit entsprechen.

Auch bei Georgs Familie handle es sich um repräsentative Biographien. Der Vater leidet als Bauer darunter, dass zwei seiner Söhne eingezogen wurden (der älteste, Martin, ist zu Handlungsbeginn bereits tot) und dem polnischen Arbeiter, der dem Hof zugewiesen wurde, das Bein eitert. Als die Familie schließlich die Nachricht erhält, dass auch ihr Hermann „im Kampf um das Großdeutsche Reich“ gefallen sein, reagieren die Eltern mit Trauer – Georg aber mit Hass: „Für mich stand fest, dass ich meine Brüder rächen würde.“

Georg beschließt, sich für den Kampf an der Front zu melden, ist stolz auf seine Ausbildung an der Panzerfaust, die eine ungemeine Faszination auf ihn ausübt. Viele Erwachsenen hielten den Krieg zwar längst für verloren. „Doch unser Kampfgeist war stärker denn je. Wir wussten, dass es jetzt auf uns ankam. Mit uns rechneten die Amerikaner nicht, und die Panzerfaust war die Wunderwaffe schlechthin. Wir waren mutig, wir waren durchtrainiert, wir waren schlau, und wir waren stark!“ Gedanken an eine Kapitulation hält Georg für dumm. „Schließlich hatten wir gelernt, Panzersperren zu errichten. Sie dienten allein dazu, die feindlichen Panzer in ihrer Weiterfahrt zu behindern. Und wenn der Panzerführer durch die Panzersperre abgelenkt war, konnten wir aus dem Hinterhalt angreifen.“

Für den jugendlichen Geltungsdrang ist es dann allerdings ein schwerer Schlag, dass die kriegsmüden Massen den vier Hitlerjungen trotz Uniformen nur selten zujubeln und sie kaum jemand als die Helden feiern will, für die sie sich halten. Am Ende steht die reale Begebenheit ihrer Entwaffnung durch die Zivilbevölkerung.

Der Roman endet mit den Hinrichtungen von Hanselmann, Gackstatter und Wolfmeyer, die beim Protagonisten Schwindelgefühle auslösen – weil ihn der Bauer am Strick an den eigenen Vater erinnert. „Plötzlich kam es mir vor, als würde ich aus einem bösen Traum erwachen. Was hatten wir nur getan?“

Nachkriegsjustiz verhöhnte die Opfer

Aufschlussreich ist allerdings auch der juristische Umgang mit den Mördern im Nachkriegsdeutschland. Verantwortlich für die Tötungsbefehle waren die SS-Mitglieder Friedrich Gottschalk, Max Simon und Ernst Otto. In erster Instanz, 1955 am Landgericht Ansbach, verhandelte ihr Fall ein Richter, der bereits 1927 der NSDAP beigetreten war. Er entschied sich nicht nur für einen Freispruch, sondern verhöhnte die Opfer in der Verhandlung. „Das Unrecht ist meines Erachtens auch – wenn eines geschehen ist – bei den Brettheimern.“ Hätte man die Hitlerjungen laufen lassen, wäre auch niemand gehängt worden.

Es folgten diverse Revisionen und Berufungen, in deren Verlauf die Angeklagten immer selbstbewusster auftraten. Wie der „Spiegel“ dokumentiert hat, erklärte Standrichter Otto bei seiner Vernehmung 1953 noch: „Ich konnte nicht anders handeln, weil sich SS-Männer im Saal befanden und ihre Waffen auf mich gerichtet hatten.“ Sieben Jahre später nahm er das ausdrücklich zurück und meinte: „Die Urteile waren hart, aber nicht anders möglich.“ Kamerad Gottschalk 1955: „Die Todesurteile gegen Wolfmeyer und Gackstatter waren nicht gerechtfertigt.“ 1960 wurde daraus: „Die Urteile waren hart und tragisch, aber gerecht.“

Die Nazis konnten sich zurecht sicher fühlen. In der abschließenden Verhandlung, ebenfalls vor dem Landgericht Ansbach, heißt es schließlich mit Feststellung vom 23. Juli 1960: Ohne Todesurteile hätten die SS-Männer „pflichtwidrig“ gehandelt, denn durch eine solche „Begünstigung“ der Täter Wolfmeyer und Gackstatter hätte die Gefahr gedroht, „den Wehrwillen der Dorfbevölkerung und damit auch den Wehrwillen des deutschen Volkes zu lähmen und zu zersetzen“.


Katja Hildebrand: „Mit der Faust in der Hand“, selbst publiziert über tredition, 128 Seiten, 18,99 Euro. Für Leser:innen ab 14 Jahren.

Ich setzte mich auf mein Bett und blickte auf die Betten meiner Brüder. Plötzlich sah ich ihn vor mir, meinen Bruder Hermann, wie er sich angekleidet hatte, um loszuziehen. Neidisch war ich im Türrahmen gestanden und hatte ihm zugesehen, wie er seine Uniform anlegte. Die graue Hose, die mich ein wenig an eine Reithose erinnerte, steckte er in die schweren, schwarzen, ledernen Stiefel. Fast andächtig zog Hermann Kleidungsstück für Kleidungsstück an. Wollte er sich vor mir wichtigmachen, als er die Knöpfe der Wehrmachtsjacke betont langsam durch die Knopflöcher schob? Oder war er nachdenklich? Der dunkelgrüne Wehrmachtsadler, der über der rechten Brusttasche stolz seine Schwingen ausbreitete, schien mich auszulachen: „Na, du Pimpf?“ Ich musste schlucken, als mein Bruder mich anblickte. „Sei froh, dass du noch zu jung für die Front bist“, hörte ich ihn sagen. Er hatte es mehr vor sich hingemurmelt, und wahrscheinlich war es gar nicht für meine Ohren bestimmt gewesen. „Wieso sagst du das?“, fragte ich empört. „Bist du denn nicht stolz darauf, für unser Vaterland kämpfen zu dürfen?“ Hermann zuckte mit den Schultern. „Damit es mir so geht wie Martin?“ Als er den Namen unseres älteren Bruders aussprach, spürte ich einen Stich in der Brust. Er fehlte uns allen, aber ich wusste, dass es für Hermann besonders schwer war. Die beiden waren fast wie Zwillinge aufgewachsen, da sie gerade mal ein knappes Jahr auseinander waren.

Auszug aus „Mit der Faust in der Hand“