Verschwörungstheorien – Eine einfache Welterklärung?

Zur Funktion von Verschwörungstheorien

von Johann Jacoby

Beachte auch den Radiobeitrag vom 25. März 2011 – Anhören oder Download

Ohne Zweifel gibt es Absprachen von Personen, die zur Erreichung ihrer gemeinsamen Interessen zuungunsten der Interessen anderer zusammenarbeiten und dabei ihre Interessen und Vorhaben nicht öffentlich machen beziehungsweise tatsächlich substantiell damit beschäftigt sind, ihre Vorhaben zu verheimlichen. Es gibt also Verschwörungen, und Theorien über solche Verschwörungen sind auch für sich genommen zunächst nicht anrüchig, problematisch oder per se reaktionär. Die Theorien müssen auch nicht gefährlich sein.

Die prototypischen, großen Verschwörungstheorien hingegen, wie sie von den sogenannten „Truthern“, „Infokriegern“ u. a. vor allem im Internet unter sehr wenig Aufwand, aber auch in traditionellen Medien (wie z. B. im Kopp-Verlag in Rottenburg am Neckar) unterhalten und verbreitet werden, können jedoch getrost als hanebüchen und irregeleitet bezeichnet werden. Es ist wichtig, dieses Urteil nicht (alleine) darauf zu gründen, dass viele der Behauptungen von „Indizien“, „Beweisen“ und „Belegen“ für die abstrusen Verschwörungsphantasien schlicht falsch sind. Wer je versucht hat, jemandem auszureden, dass der Präsident der Vereinigten Staaten in Wirklichkeit eine außerirdische Echse sei, oder dass Israel in Labors die Vogelgrippe gezüchtet habe, um Nichtjuden zu schaden, weiß, um es mit Freud zu sagen, dass am Ende den Wahn nicht erkennt, wer in selbst teilt. Sich einzulassen auf die minutiöse Diskussion von Details, die Verschwörungstheoretiker auf irgendeiner Webseite geraunt gehört und nun als unumstößliche Fakten in ihr Netz von selbstbestätigenden Phantasmen eingebaut haben, ist alles andere als erbaulich und auch wenig zielführend.

Deswegen sollte man mal eine abgewandelte Form der Lieblingsfrage in verschwörungstheoretischen Diskursen stellen. Diese Lieblingsfrage, „Wem nützt es?“ („Cui bono?“) führt in der wahnhaft falschen Kryptologik des Konspirationismus schnurstracks zu denen, die angeblich alles zu verantworten und eingefädelt hätten. Man kann aber mal fragen: Welchem menschlichen Bedürfnis nützt es, dunkle, sehr, mächtige Personengruppen zu phantasieren und denen ihr klandestines Treiben beständig nachweisen zu wollen (und in der selbstbetrügerischen, selbstherrlichen Selbstwahrnehmung dabei auch überaus erfolgreich zu sein)? Was hat man denn davon, so etwas herauszubekommen? Mal angenommen, es stimmte?

Eine Perspektive darauf, die sehr verbreitet ist, besagt, dass Verschwörungstheorien die Wahrnehmung und Erklärung der Welt vereinfachten. Die Einsicht, dass die Welt, in der wir leben, eine komplizierte ist, in der Dinge geschehen, die ein Einzelner gar nicht alle verstehen oder überblicken kann und in der diese einzelnen Ereignisse auch noch miteinander in noch komplizierteren Beziehungen stehen und so weitere komplizierte Ereignisse und Zusammenhänge produzieren, ist nicht gerade einfach oder angenehm. Dazu kommt noch: Viele der Ereignisse widersprechen unseren eigenen Interessen. Es fällt schwer, mit Gleichmut zu ertragen, dass viele Dinge geschehen, die wir nicht verstehen, geschweige denn, auf die wir im Sinne unserer Interessen Einfluss haben könnten. Gemäß diesem ersten Erklärungsansatz erlaubten Verschwörungstheorien es also, das Gefühl zu haben, Einiges zumindest besser zu verstehen und zu durchschauen, und linderten so die Kränkung, im Grunde genommen sich in dieser komplizierten Welt nicht so recht auszukennen oder sie nicht intellektuell durchdringen zu können. Da ist sicher etwas dran.

Allerdings zeigen zwei Überlegungen, dass das nicht ausschliessliche Funktion von Verschwörungsdenken sein kann. Erstens:

  • Verschwörungstheorien sind in aller Regel sogar noch komplizierter als die Erklärung von Zuständen und Ereignissen, die als die nicht verschwörungstheoretische gilt. Denn am Ende müssen Verschwörungstheorien stets beides erklären:

  1. was angeblich tatsächlich passiert ist und dazu noch,

  2. wie es den Verschwörern gelingen konnte, das alles zunächst geheim zu halten und stattdessen eine Inszenierung zu produzieren, die alles so aussehen lässt, als sei es eben so, wie die angeblichen Lügen der Verschwörer und der ihnen angeblich hörigen und gehörigen Medien, des Staats, und der Wirtschaft…. es als plausibel erscheinen lassen. Denn schließlich sind die überzeugten Konspirationisten sich sicher, dass sie besondere Informationen aufgedeckt haben über unsagbar weitreichende Ereignisse und Machenschaften, die ansonsten aber erfolgreich vor „der Masse“ angeblich geheimgehalten und vertuscht werden.

Die Komplexität von Verschwörungstheorien und die Unüberschaubarkeit dessen, was sie beschreiben, ist also keineswegs geringer als die von Konspirationisten behauptete sogenannte Scheinrealität und die Lügen, die „der Masse“ aufgetischt würden. Verschwörungsphantasien können daher nicht als funktionales Ergebnis des einfachen und an und für sich genommen harmlosen, ja vernünftigen Wunsches und des Bestrebens, kompliziertere Dinge besser verstehen zu können, verstanden werden.

Eine zweite Überlegung spricht dagegen, dass Verschwörungstheorien alleine die Funktion hätten, eine einfachere Welt zu beschreiben, in der sich die Menschen sicherer fühlten:

  • Verschwörungstheorien sind oft noch haarsträubender und beunruhigender als die nicht verschwörungstheoretische Weltsicht. Das Interesse an angeblicher Erkenntnis und am Verstehen der Welt scheint doch eher getrieben zu sein davon, dass sich Konspirationisten als besonders raffiniert und kompetent wähnen können, weil sie eben diese Komplexität und Vielschichtigkeit beherrschen und durchschauen. Dass sie hingegen ruhiger schlafen könnten, weil sie durch ihre Verschwörungsphantasie eine einfachere und besser überschaubare Erklärung gefunden hätten, dürfte nicht zutreffend sein – auch angesichts der Nähe extremer Formen des Konspirationismus zum klinischen Phänomen des Verfolgungswahns, der alles andere tut als Menschen zu beruhigen oder ihnen ein schöneres, ruhigeres Leben zu ermöglichen. Es ist einfach unplausibel, dass Verschwörungstheorien beruhigen dadurch, dass sie gruselige und beängstigende Erklärungen liefern, in denen dunkle, verschlagene und skrupellose Gestalten – und eben sehr häufig ganze Bevölkerungsgruppen solcher Gestalten – mit sehr viel Macht und ungeheuren Ressourcen allerhand Unbill über die Nichtverschwörer brächten, diese darüber hinaus nach Strich und Faden belögen und alles vertuschten und bekämpften, was ihrer unlauteren Vorteilssuche auf anderer Leute Kosten entgegenstünde.

Verschwörungstheorien tun das Gegenteil von Beruhigen und den Wunsch nach einfacher Erklärung befriedigen. Sie beunruhigen. Die Unruhe führt dann auch zur zweiten Perspektive: Die Unruhe, die Verschwörungstheorien hervorrufen, ist nicht etwa ein „Fehler“ im Verschwörungsdenken – in dem Sinne, dass dadurch der eigentliche Zweck der Beruhigung durch besseres Verstehen verfehlt würde –, sondern verweist auf ein Versprechen, das vor allem globale Verschwörungstheorien in sich tragen: Verschwörungstheorien versprechen nicht so sehr einen psychologischen positiven Nutzen für das Individuum, das sie unterhält, sondern – in Abwesenheit von anderen Hemmungen – fast zwangsläufig handfeste Folgen für Dritte. Hinter dem Phantasma der Verschwörung und ihrer eingebildeten Aufdeckung durch Konspirationisten leuchtet die Hoffnung hervor, handeln zu können; gegen diejenigen, die das Böse und Unrecht in die Welt brächten, vorgehen; sich in der Gewissheit der moralischen Überlegenheit gegen die dunklen Machenschaften aufbäumen; ihren Urhebern ein für alle Mal das Handwerk legen zu können. Genau das taten beispielsweise die Deutschen, als sie sich ganz im Sinne einer Revolution der sich als Unterdrückte und Benachteiligte Wähnenden gegen die eingebildet „in Wirklichkeit“ Herrschenden und zersetzenden Juden in ihrer eigenen Wahrnehmung „wehrten“ und dem Ziel, alle Juden zu vernichten, sehr nahe kamen. Dabei machte es auch keinen Unterschied mehr, ob es sich um eine deutschnationale, assimilierte und getaufte, sehr gebildete Jüdin aus dem Großbürgertum handelte, die lediglich durch die Nürnberger Rassegesetze qua „Blut“ als Jüdin zu identifizieren war, oder um einen frommen, wenig gebildeten Bauernsohn aus einer ländlichen Gegend in Ostpolen. Denn der Wahn der jüdischen Welt-Verschwörung war so weit entwickelt und im Denken eingeschweißt, dass die verschwörungstheoretische Erklärung beinhaltete, dass es sich bei soviel Bosheit und Verschlagenheit, die man den Juden andichtete, um ein biologisches – damit als stabil und nicht veränderbar angesehenes – Merkmal handeln musste. So erscheinen die im Wahn als Verschwörer phantasierten nicht nur als eine Anzahl von Individuen, die ihren Interessen nachgehen, sondern als eine regelrecht wesenshaft notwendig getriebene Gruppe, gegen die man sich auch nur wirksam als Gruppe wehren könne.

Während im ersten, vorhin skizzierten Erklärungsansatz vor allem das Bedürfnis oder der Wunsch danach, die Welt verstehen zu können, im Vordergrund stand – oder zumindest der Wunsch danach, sich die Illusion machen zu können, dass man sie verstehe –, steht in diesem zweiten Ansatz das Bedürfnis danach, handeln und sich wehren zu können, im Vordergrund – wie falsch der Begriff des Wehrens dabei in spezifischen Konstellationen auch sein mag.

Das antimoderne Moment des Konspirationismus (also nicht nur des Fürplausibelhaltens einer ganz speziellen Verschwörung, sondern einer welterklärungsorientierten Verschwörungsideologie) wird so auf verschiedene Art verständlich. Die moderne Gesellschaft fordert letztlich Verschwörungsdenken heraus. Sie ist gekennzeichnet durch:

  • Beziehungen der Menschen untereinander, die zunehmend den Schein der Unmittelbarkeit verlieren,

  • die Erkenntnis, dass die Menschen sich mehr und mehr als selbstbewusstes Individuum einer Welt gegenüber sehen, die aber komplex und undurchdringlich erscheint

  • und die Ahnung, dass sie, als Individuum, am Ende nichts anderes sind als eine Ware materieller oder immaterieller Art für die jeweils anderen, also keinen Wert besitzen über den, den Sie im Tausch, im Sich-verkaufen, realisieren können.

Verschwörungstheorien bieten einen scheinbaren Ausweg, in dem sie nicht notwendigerweise einfachere und verständlicher erscheinende Erklärungen bereitstellen, sondern, indem sie eine Pseudoerklärung bereitstellen, die dem Individuum in Aussicht stellt, sich rechtschaffen, mit vollkommener Legitimation und vor allem im Verein mit anderen Mitgliedern einer Gemeinschaft (die ebenso halluziniert ist, wie die Gemeinschaft der projiziert Verschwörenden) wehren zu können gegen die Nutzlosigkeit und fehlende Kontrolle über ihr Leben.

Dabei geschieht nur allzu oft etwas, was als Projektion bezeichnet wird: Die Verschwörungtheoretisierenden schreiben den angeblichen Verschwörern genau das zu, was sie eigentlich selbst gerne hätten: grosse Macht, die Möglichkeit, heimlich, aber wirksam andere zu unterdrücken, umfassenden Einfluss zu haben auf Ereignisse und Zustände in der Welt und dabei so raffiniert vorzugehen, dass es die anderen nicht merken und nicht ihrerseits zur eingebildeten Notwehr schreiten könnten.