Vielleicht seid ihr ja komisch

Beobachtungen auf dem “Leben.Würde”-Kongress

Von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 604 am 26. Oktober 2022)

In Schwäbisch Gmünd vernetzten sich Ende Oktober 450 rechtsklerikale Abtreibungsgegner:innen. Ein SPD-Mann war auch dabei und entdeckte nichts Unanständiges. Das ist bitter.

Die gleiche Art von Selbstvertrauen, die ermöglicht, einen Glauben als Gewissheit auszugeben, lässt sich in den eröffnenden Worten von Alexandra Linder erkennen: Die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht begrüßt die Anwesenden zu einem “historischen Ereignis”, da es in den letzten 40 Jahren keinen so großen Kongress der “Lebensschutz”-Bewegung gegeben habe. Tagungsort ist das Zentrum “Schönblick”, das mit dem Slogan “Herz trifft Himmel” wirbt und idyllisch am Rand des Taubenwalds in Schwäbisch Gmünd liegt.

Eingefunden unter dem Motto “Leben.Würde” haben sich nach Angaben der Veranstalter 450 Interessierte. Das Großereignis verpasst hat der Schirmherr Stefan Oster, da der Bischof von Passau, wie die Moderatorin mitteilt, “im Auftrag des Herrn” gerade an anderer Stelle benötigt wird. Überliefert ist allerdings Osters Aussage, “dass ausgelebte sexuelle Praxis ihren genuinen und letztlich einzig legitimen Ort in einer Ehe zwischen genau einem Mann und einer Frau hat”. Alles andere würde nach seiner Kenntnis der Heiligen Schrift “entweder als Unzucht oder als Ehebruch bewertet” – und zwar “einschließlich der Ansage von zum Teil sehr dramatischen Konsequenzen für diejenigen, die sich darauf einlassen.”

Mit dabei ist dafür die zweite Schirmherrin, Christine Lieberknecht (CDU) – die als ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen verdeutlicht, dass die “Lebensschutz”-Bewegung ein paar einflussreiche Mitstreiter:innen hat. Die unantastbare Menschenwürde, lautet die geteilte Argumentation der Kongressteilnehmer:innen, greife vom Zeitpunkt der Empfängnis bis zum letzten Atemzug. Kategorisch abgelehnt werden daher nicht nur Abtreibungen, sondern auch assistierte Sterbehilfe.

Genau genommen ist der “Lebensschutz” allerdings eher als “Menschenschutz” zu verstehen – und greift zum Beispiel nicht, wo sich dem Wunder der Zeugung entsprungenes Fleisch zu einer saftigen Roulade oder leckerem Wurstsalat verarbeiten lässt. (Tiere essen sie ja auch in der Bibel.) Auch die Natur wird von den Referent:innen zwar gerne bemüht, um daraus angebliche Ordnungen abzuleiten. Trotzdem werden Fragen der Umweltzerstörung oder des Klimaschutzes auf dem dreitägigen Kongress konsequent ausgeklammert.

Über die Krone der Schöpfung und welche ihrer Lebensentwürfe als legitim gebilligt werden, darüber referierte jedoch eine breite Schar von Personen aus teils sogar unterschiedlichen Perspektiven.

Wer hat hier etwas gegen die Liebe?

Auf dem Podium sitzt Sandra Sinder, die in der Schwangerschaftskonfliktberatung bei der Aktion Lebensrecht für Alle (AlfA) arbeitet und Empathiefähigkeit als “grundlegende Basiskompetenz” für ihren Job benennt. Sie hält es für ein “Ammenmärchen”, wenn bei Frauen in emotional so aufrüttelnden Zuständen von Selbstbestimmung geredet wird: “Die geht gegen Null”, etwa wenn der Partner Druck macht. Ihre persönliche Meinung, beteuert sie, habe in den Beratungsgesprächen nichts verloren. Auf dem Podium gibt sie diese dennoch preis: “Für eine Frau ist es grundsätzlich immer besser, das Kind zu bekommen.” Das Dilemma lasse sich herunterbrechen auf einen Konflikt zwischen Angst und Liebe. Und da entscheide sie sich für die Liebe.

Dass das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung kippte, wird von einigen Kongressbeteiligten als Einfallstor für Euthanasie interpretiert. Cornelia Kaminski, Bundesvorsitzende von AlfA, präsentiert eine bemerkenswerte Gedankenfolge: Wenn sie einmal im hohen Alter ins Krankenhaus kommt und eigentlich nur ein bisschen Flüssigkeitsmangel hat, sich dann aber ein Arzt denkt, so frisch sieht die ja nicht mehr aus, werden vielleicht alle Stecker und Schläuche gezogen. Kaminski meint, wir würden “gerade alle ein bisschen neidisch auf die Entwicklungen in den USA” schauen. Und Paul Cullen, Vorsitzender von “Ärzte für das Leben”, ergänzt, dass im europäischen Raum die größten Fortschritte beim “Lebensschutz” aktuell in Ungarn und Polen zu beobachten seien.

Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz erklärt, dass der Mensch in Totalitarismen als knetbare Masse behandelt werden solle, aber immer ein von natürlichen Ordnungen bestimmtes Wesen bleibe, das sich nicht nach Belieben verbiegen lasse. Ein Bezug zum konsequenten Scheitern von (in Deutschland verbotenen) Konversionstherapien, die Homos zu Heteros machen sollen, drängt sich auf, wird von der Referentin aber nicht hergestellt.

Dafür lernen wir, dass Rosen nicht darüber nachdenken, ob sie vielleicht ein Veilchen sind und sich kein Schmetterling für eine Wespe hält. Homosexueller Gruppensex bei Delfinen bleibt hingegen ebenso unerwähnt wie polyamouröse Anglerfische oder ein regenbogenfarbener Rosen-Schmuck-Lippfisch, der im Lauf seines Lebens vom Weibchen zum Männlein wird – um an dieser Stelle gar nicht erst von Zwitter-Schnecken oder gar von dem als “Blob” bekannten Schleimpilz anzufangen … mit seinen 720 Geschlechtern.

Wer sich nicht wehrt, endet am Herd

Der gesellschaftliche Gegenpol zum Publikum im “Schönblick” hat sich am frühen Samstagmittag auf dem Gmünder Marktplatz versammelt, vor dem Rathaus mit einem schillernden Stadtwappen, das ein Einhorn ziert. Viele Demonstrantinnen, darunter auch Mütter, fordern per Plakat, fremde Meinungen aus ihrem Uterus herauszuhalten. Eine Rednerin erklärt: “Wir lassen uns von rückständigen Antifeministen nicht zu Gebährmaschinen degradieren und wenden uns gegen den Rollback zur autoritären Gesellschaft.” Eine Parole: “Wer sich nicht wehrt, endet am Herd.” Und noch eine: “Lieber schwul und lebensfroh als christlich, rechts und hetero.”

Der Journalist Lucius Teidelbaum hat 2018 ein Buch über die christliche Rechte in Deutschland veröffentlicht und schickte ein Grußwort, das verlesen wird. Darin stuft er den “Leben.Würde”-Kongress als “vermutlich wichtigstes Vernetzungstreffen rechtsklerikaler Abtreibungsgegner:innen der letzten zehn Jahre” ein. Der Austragungsort sei dabei kein Zufall, da es im “Schönblick” häufiger Veranstaltung gebe, die ein ähnliches Publikum ansprechen.

Teidelbaum fasst über die “Lebensschützer” zusammen: “Aus einem fundamentalistischen Bibel-Verständnis wird abgeleitet, dass ab der Befruchtung der Eizelle Leben existieren würde. Ein Schwangerschaftsabbruch wird deswegen mit Mord gleichgesetzt. Intern wird dieses Verständnis auch so kommuniziert, nur nach außen tritt man inzwischen anders auf.”

Junge Frauen sind auch dabei

Tatsächlich ist das Auftreten im Umgang mit der Presse bemerkenswert freundlich. Manche im “Schönblick” tun sich allerdings schwer, ihre Homophobie zu verschleiern. Andere versuchen es gar nicht. Der Stuttgarter Hartmut Steeb etwa, einst Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz, ist stolz darauf, dass er zehn Kinder gezeugt hat, von denen nicht eines schwul geworden sei. Für sein langjähriges Engagement bedankten sich seine Mitstreiter:innen auf dem Kongress mit Karten für die Stuttgarter Bach-Tage – wobei Steeb die Texte wahrscheinlich besser kenne als der Komponist, da es sich ja um Psalme handelt. (Dafür hatte Bach 20 Kinder – von denen allerdings die Hälfte vor dem dritten Lebensjahr starb.)

Der ehemalige baden-württembergische SPD-Bundestagsabgeordnete Robert Antretter, Jahrgang 1939, bekennt sich ebenfalls zum “Lebensschutz” und sagt auf dem Podium, er habe in den Vorträgen nichts gehört, was er als anstößig empfinde. Seine Einschätzung: Er könne “ruhig sterben, wenn ich weiß, dass die Republik von Jüngeren und Älteren geleitet wird, die wissen, was droht, wenn man die Demokratie aufs Spiel setzt.”

Zusammen mit Antretter auf der Bühne sitzt die junge Ärztin Julia Maria Kim vom Vorstand “Ärzte für das Leben”, die sich für die Zukunft wünscht, “dass wir die Familie als Keimzelle der Gesellschaft stärken, aber auch, dass wir werdende Mütter in schwierigen Lagen dabei unterstützen, dass sie eines Tages ihr Kind in den Händen halten und sagen können: Das war die beste Entscheidung meines Lebens.”

Der “Lebensschutz” exotisiert sich selbst

Die Ethnologin Michi Knecht hat sich in ihrer 2006 erschienenen Dissertation mit der Geschichte der “Lebensschutz”-Bewegung auseinandergesetzt und betont, die “Lebensschützer” würden “häufig als eine versponnene, radikale Minderheit vornehmlich älterer Männer vor- und dargestellt, die mit den beschleunigten Veränderungen der Gegenwart nicht Schritt halten können”. Dabei gebe es zwar durchaus die “real existierenden, notorischen Exzentriker der Bewegung”, beispielsweise einen Pfarrer, der einen Fötus in Kunstharz gegossen hat und damit auf Demonstrationen herumläuft. Allerdings würde in diesem Bild der Einfluss der “Lebensschutz”-Bewegung auf Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht unterschätzt, das in Urteilen bereits mehrfach die Wortwahl von der Abtreibung als “Tötung ungeborenen Lebens” aufgegriffen hat.

Plausibler als die Interpretation der Bewegung als “nicht wirklich ernstzunehmendes, letztes Aufflammen religiöser Traditionen” sei laut Knecht die Annahme, “dass die Positionen und Inhalte, die die ‘Lebensrecht’-Bewegung vertritt, zum Teil entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung und Behauptung, tatsächlich so exotisch nicht sind, sondern auf Zustimmung oder zumindest Anerkennung, Anschlussfähigkeit und Verständnis in weiten Kreisen treffen”. Immerhin sind Abtreibungen in der Bundesrepublik nach wie vor nicht legal, sondern bleiben nur unter bestimmten Voraussetzungen straffrei.

Unübersehbar auf dem Kongress ist allerdings auch, wie tief das Verschwörungsdenken in der “Lebensschutz”-Bewegung verwurzelt ist. Bei Flurgesprächen ist das Geraune von einem Tag X dauerpräsent. Laut Referent Jörg Benedict stehen wir nicht nur wirtschaftlich, sondern insbesondere kulturell und moralisch vor einem “Great Reset”. Und Mediziner Paul Cullen, an der Kongress-Leitung beteiligt, formulierte 2016 ein paar besonders steile Thesen: “Unsere Gegner haben das gesamte polit-mediale Establishment, fast die gesamte Unterhaltungsindustrie und die Dinosaurier-Medien auf ihrer Seite. Dazu noch große Teile der Wirtschaft, mächtige Finanzinteressen wie die Soros-Stiftung, (…), die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, große Teile der Kirchen und nicht zuletzt das Bildungssystem.” Illustriert ist das mit einem Bild des jüdischen Milliardärs George Soros, hier bezeichnet als “Spekulant und Strippenzieher”, verbunden mit dem Hinweis, dass die “Abtreibungs- und Euthanasie-Lobby” von “mächtigen Finanzinteressen” unterstützt werde. Da heißt es klipp und klar: “Unser Ziel ist es also nicht, unseren Gegner zu überzeugen, sondern ihn zu besiegen.”

Wer lustig ist, gewinnt

Am Ende seiner Ausführungen hat Cullen noch einen strategischen Ratschlag parat: “Unsere schärfste Waffe, mit der der Gegner am wenigsten anzufangen weiß, ist unsere gute Laune und unser Humor.” Was die “Lebensschützer” lustig finden, verdeutlicht der Auftritt von Birgit Kelle, die unter Johlen und Feixen des Publikums als “Gästin” angekündigt wurde. Größere Bekanntheit erlangte Kelle, als sie zur Aufschrei-Debatte einen Essay unter dem Titel “Dann mach doch die Bluse zu” beisteuerte. Dass der Deutsche Buchpreis aktuell das erste Mal an eine non-binäre Person verliehen worden ist, kommentierte sie mit: “Das nächste Mal aber bitte endlich an eine lesbische People of Color, die das Buch mit ihrem eigenen Menstruationsblut geschrieben hat.”

Wer heute “nicht genug Opferpunkte sammeln” kann, ist Kelle zufolge unten raus. Als CDU-Mitglied verwehrt sie sich energisch dagegen, als politische Rechtsaußen verunglimpft zu werden – was sie allerdings nicht davon abhält, als Referentin bei FPÖ-Veranstaltungen aufzutreten. Auf Twitter lobt sie eine Rede der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni, in der diese vermutet, dass Familie, Glaube und Liebe zur Nation zerstört werden sollen, weil sie Identitäten definieren – und damit seien sie der Feind derjenigen, die uns zu “perfekten Konsumsklaven” der Finanzspekulateure umformen wollen. Wir aber, sagt Meloni, würden unsere Wurzeln und unsere Freiheit verteidigen.