Schicksalsjahre

Recherche gegen Rechts – AfD in der Lausitz

von Minh Schredle

Keine Zusammenarbeit mit der AfD? In Teilen der Republik hat die rechtsextreme Partei so viele Sitze in Gremien, dass diese sich durch eine Komplettblockade selbst lahmlegen würden. Der Journalist Andreas Kirschke berichtet seit 23 Jahren aus den Kreisen Görlitz und Hoyerswerda in Ost-Sachsen. Gegenüber Kontext zieht er Bilanz.

Das Volkshaus in Weißwasser, sagt Lokaljournalist und Anwohner Andreas Kirschke, stehe wie kein zweites Gebäude für die Geschichte der Stadt im Landkreis Görlitz. Die war bis ins späte 19. Jahrhundert noch ein Dorf, 1866 lebten hier laut den amtlichen Dokumenten 572 Menschen. Der Aufschwung kam mit der Eisenbahn. Seit 1867 verkehren Züge zwischen Berlin und Görlitz, der neue Bahnhof ganz in der Nähe bedeutet für Weißwasser rasantes Wachstum. Dank einer ergiebigen Rohstoffbasis mit Sand, Holz und vor allem Kohle lockt der Ort Geschäftsleute wie Wilhelm Gelsdorf an, die Migration bringt Wohlstand. Vom ersten Glasschmelzofen im Jahr 1872 dauert es nur wenige Jahrzehnte, bis aus dem Dorf nicht nur eine Stadt, sondern der größte Glasstandort weltweit geworden ist. Um 1925 zählt die örtliche Gewerkschaft 4.000 Mitglieder, deren Monatsbeiträge den Bau des Volkshauses finanzieren. Es wird zum kulturellen Herz der Stadt.

Doch dieses Herz, beschreibt Kirschke, schlägt seit Mai 2004 nicht mehr: Da musste das Gebäude wegen baulicher Mängel geräumt werden. Seither steht es leer und verkommt. Die Glasindustrie in Weißwasser ist nach der Wiedervereinigung zusammengebrochen, heute gibt es nur noch ein einziges Werk in der Stadt, die Bevölkerung hat sich seit 1990 mehr als halbiert auf aktuell 15.000 Einwohner:innen. Überlegungen und Ambitionen, das alte Volkshaus wieder in Schuss zu bringen, gab es in der Kommunalpolitik immer mal wieder – ohne so recht voranzukommen, auch weil Bemühungen um Fördermittel ins Leere liefen. 2021 haben dann drei Jugendliche das alte Haus in Brand gesetzt und damit die Sanierungskosten weiter in die Höhe getrieben. Daraufhin wurde es in der Politik erst einmal still um das Thema.

Nun soll es aber einen erneuten Versuch geben, die Ruine zu beleben. In diesem Juni hat der Stadtrat einen Grundsatzbeschluss zur Sanierung gefasst, berichtet Kirschke, der die Debatte um das Volkshaus seit vielen Jahren mitverfolgt. Laut dem Antrag könnten hier wieder Hochzeiten, Jugendweihen und Tanzabende stattfinden, das Gebäude soll zum Innovations-, Kultur- und Verwaltungszentrum werden. Zugestimmt haben 14 von 22 Stadträten. Gestellt hat den Antrag die AfD. Sie ist mit sieben Sitzen die stärkste Fraktion, hätte alleine aber keine Mehrheit.

Wie Papier aus Eberswalde, Chemiefasern aus Schwarza oder Kunstblumen aus Sebnitz, so steht auch das Glas aus Weißwasser für einen verdorrten Industriezweig, der in seiner Blütephase weltweit nachgefragte Ware herstellte – und jetzt, nach dem Niedergang, eine in ihrem Produzentenstolz gekränkte Arbeiterschaft hinterlassen hat. Doch Kirschke warnt davor, den Osten Deutschlands einseitig unter Niedergang zu verbuchen: Um den Braunkohle-Ausstieg bis 2038 zu überstehen, fließen aktuell Milliarden in die Lausitz, mit denen eine Transformation bewerkstelligt werden soll. Allein für den Landkreis Görlitz im äußersten Osten Sachsens, zu dem auch Weißwasser gehört, sind 520 Millionen Euro an Fördermitteln eingeplant. Mit diesen Strukturwandel-Geldern, erklärt Kirschke, soll auch das Volkshaus ertüchtigt werden.

Der Lokaljournalist betont, dass noch völlig unklar ist, ob dieses Vorhaben glückt, eine Finanzierungszusage gibt es nicht. Aber allein, dass die demokratischen Kräfte dieses symbolträchtige Thema haben brach liegen lassen, hält er für strategisch ungeschickt. Denn so haben sie eine Lücke gelassen, in der sich die AfD als Kümmerer inszenieren kann. „Den Antrag zur Sanierung – ein Thema, das ganz vielen hier unter den Nägeln brennt – hätte ja auch eine andere Fraktion stellen können“, sagt er. „Aber sie sehen zu und staunen.“

Zersplitterte Parlamente

Kirschke ist in der Region aufgewachsen, hat im Volkshaus seinen Tanzschulabschluss gefeiert, in Leipzig studiert, war nach der Wende kurz im Westen und ist nach drei Jahren zurückgekehrt, im Juli 2002. Das war das Jahr, in dem er sich als Journalist selbstständig gemacht hat. Seit nunmehr 23 Jahren berichtet er aus den Stadträten von Hoyerswerda, Wittichenau und Weißwasser, den Gemeinderäten von Lohsa, Boxberg, Trebendorf, Schleife und Groß Düben und dem Görlitzer Kreistag. Die AfD, stellt Kirschke fest, bestimme die Tagespolitik längst mit. Und regelmäßig stimmen demokratische Fraktionen ihren Anträgen zu. Nicht nur bei der Sanierung des Volkshauses, sondern etwa auch, wenn es darum geht, kommunale Grundstücke zu verkaufen oder die Aufgaben der Verwaltung neu zu strukturieren.

Teils erscheinen die Forderungen der AfD sinnfrei, ahnungslos, mitunter sind sie schlicht rechtswidrig. Aber gefährlich wird es dort, wo die demokratischen Kräfte sich nicht um Anliegen kümmern, die viele umtreiben, und wo die Partei Leerstellen füllen kann. Das gilt auch für die Sitzungen selbst: Denn nach Kirschkes Beobachtungen kämen die AfDler  fast immer vollzählig. Da hätten andere Parteien teils weniger Disziplin. Und gerade, wo Abstimmungen knapp sind, kann das den entscheidenden Unterschied machen.

Die Mehrheitsfindung gestaltet sich in vielen Gremien ohnehin schon deshalb kompliziert, weil die AfD – teils mit großem Abstand – die stärkste Fraktion stellt. Etwa im Kreistag von Görlitz, in dem auch der in Weißwasser geborene AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla sitzt. Seine Partei hat hier 31 Mandate, die CDU 20, die Freien Wähler 13, das Bündnis Sahra Wagenknecht sieben. Ein einsamer SPDler bildet eine Fraktion mit drei Grünen, die Linke ist mit drei Abgeordneten zu klein für eine Fraktion und hat den Status einer Gruppe inne. Die starke Zersplitterung erschwert die konstruktive Zusammenarbeit.

Lichtblick Hoyerswerda

Dabei stehen gerade entscheidende Weichenstellungen für die Region an der deutsch-polnischen Grenze an. Die Lausitz setze „europaweit Maßstäbe für einen erfolgreichen Strukturwandel“, erklärte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) im September, und die Region zeige eindrucksvoll, „dass Transformation gelingen kann, wenn alle Beteiligten vom Bund, über das Land und die Kommunen bis hin zu Unternehmen und Zivilgesellschaft an einem Strang ziehen“. Bislang nämlich sei es gelungen, in der Lausitz mehr neue Jobs zu schaffen, als durch den Kohleausstieg verloren gegangen sind.

Kirschke zieht eine differenzierte Bilanz: Es gebe auch Bergbau-Orte, die leer ausgegangen seien, weil sie keine sinnvollen Förderanträge gestellt hätten. Was aber in Hoyerswerda – etwa 35 Kilometer von Weißwasser entfernt – geschehe, sei ein Lichtblick für die Region.

Seit rassistische Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 für internationale Schlagzeilen sorgten, habe sich laut Kirschke viel in der Stadt getan: Angefangen beim drastischen Bevölkerungsschwund von damals 70.000 auf heute 30.000 Einwohner:innen. Unter den Verbliebenen seien aber viele, die rechtsextreme Gewalt sehr ernst nehmen, um die Aufarbeitung von 1991 bemüht seien und zum Beispiel ermöglicht hätten, dass sich vor zwei Jahren eine Ausstellung in der Stadt mit der Perspektive der Opfer befasst hat. „Da sind viele Engagierte mit dabei.“ Und daneben gibt es laut Kirschke einige zukunftsgerichtete Projekte, die der Stadt eine wirtschaftliche Perspektive geben.

Da wäre etwa der Stadtteil Schwarzkollm, in dem ein sogenanntes Smart Mobility Lab entsteht. Zum Richtfest im Oktober erschien Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und lobte: „Hier sind Macher am Werk“, wie Kirschke in einem seiner Artikel zitiert. 300 neue Arbeitsplätze sollen hier künftig Drohnen „von Zentimeter kleinen Flugobjekten bis hin zu fünf Tonnen schweren Flug-Taxis“ entwickeln und automatisiertes Fahren vorantreiben. Und zwar mit zukunftsweisendem Energiekonzept. Kirschke berichtet, das Gebäude solle ab 2027 zu 75 Prozent durch selbst erzeugte Energie versorgt werden: “Dafür werden eine großflächige Photovoltaik-Anlage, Geothermie, ein Elektrolyseur zur Wasserstoff-Produktion und ein Blockheizkraftwerk mit Batterie- und Feststoff-Speichern kombiniert.”
 

Noch sauberer will das 2009 gegründete Energie-Unternehmen Yados in der fünf Kilometer entfernten Gemeinde Nardt arbeiten. Anfang November eröffnete es seine „grüne Fabrik“: mit 1.500 Solar-Modulen auf dem Hallendach, die Strom für Wärmepumpen liefern und so ganzjährig eine emissionsfreie Wärmeversorgung im Inneren sicherstellen sollen. „Kombiniert ist die neue Kreislauf-Energieversorgung mit einem hocheffizienten Blockheizkraftwerk, das mit erneuerbarem Ökogas betrieben wird“, schreibt Kirschke – und zitiert den Yados-Geschäftsführer Frank Stiehler: „Wir wollen Vorbild sein – für andere Firmen, für Kommunen und für Institutionen. Nachhaltigkeit ist ein Wettbewerbs-Vorteil.“ In dem Artikel kommt auch Jan-Hendrik Goldbeck, geschäftsführender Gesellschafter der zuständigen Baufirma, zu Wort: „Wir sollten mehr Lausitz wagen.“ Zu lernen gäbe es jedenfalls so manches von einer Region, die die beiden Pole von Prosperität und Prekarität durchlebt hat und eine notwendige Transformation mit einem vorausschauenden Konzept angeht. Vielleicht auch, weil die schmerzhafte Erfahrung noch präsent ist, dass es keine Garantie gibt, einen Weltmarkt für immer anzuführen.

Vom Dorf zum Tagebau zum Baggersee

„Hoyerswerda ist ein Lichtblick“, wiederholt Kirschke. In Bautzen beispielsweise sei die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus schon schwieriger. Dann schiebt er eilig hinterher, dass seine Meinung nur eine unter vielen sei. Aber seiner Wahrnehmung nach braue sich da etwas zusammen. „Und im Vergleich zu 1991 ist das schon eine andere Situation.“ Die Nazis von früher seien leichter erkennbar gewesen „mit ihren Glatzköpfen und Springerstiefeln. Heute sind es eher Schlips und Hosenträger, schwerer zu durchschauen.“ Er lobt eine Reportage des RBB, erschienen im Juli: „Jung.Rechts.Radikal – Neonazis in der Lausitz“. Die habe „den Finger in die Wunde gelegt“ und zeige, wie queere Menschen angegriffen werden. Oder Leute, die sich für Demokratie und Bildung einsetzen. „Und die Täter werden immer jünger“, sagt Kirschke besorgt.

Die AfD will er nicht verharmlosen. „Aber die traurige Realität ist, dass wir hier Gruppen wie die Freien Sachsen haben, die noch viel schlimmer sind.“ Einer von vielen Faktoren, die ihn beunruhigen, ist dabei, wie sich militante Neonazis oft nicht mehr äußerlich abgrenzen durch Thor-Steinar-Jacken oder andere Erkennungszeichen einer Gegenkultur, sondern dass die Grenzen zwischen Rechtsextremismus und Mainstream verschwimmen und sich das auch im Erscheinungsbild niederschlägt. Nicht nur im Osten.

Die Erfahrungen aus der Lausitz lehren ihn, dass auf jede Höhe Tiefen und auf jede Tiefe Höhen folgen. Vorausschauende Politik kann manche Woge glätten. Kirschke würde nicht sagen, dass die ökonomische Lage der einzige Faktor ist, von dem rechtsextreme Gesinnung abhängt – aber dass eine solide Grundversorgung wichtig ist, um umgänglich zu bleiben. In Kirschkes Heimat Weißwasser ist das große Strukturwandelprojekt die Gelsdorfhütte, benannt nach dem Glaspionier: Das Industriedenkmal beheimatete einst das älteste Glaswerk der Stadt und ist heute eine Ruine, die die „Lausitzer Rundschau“ einen „Schandfleck“ schimpft. Wenn es nach Plan läuft, entsteht hier ein modernes Mischgebiet mit Wohnungen und Arbeitsplätzen, seitens der Sächsischen Agentur für Strukturentwicklung heißt es zudem, die „Ansiedlung einer überregional bedeutsamen Behörde“ sei vorgesehen.

Ein weiteres Projekt, das Kirschke Lust auf Zukunft macht, ist die Ausweitung der Lausitzer Seenplatte. Denn nachdem die Braunkohle-Tagebaue gewaltige Krater in die Natur gerissen haben, sehen die mit Wasser gefüllt gleich wieder freundlicher aus. Das kleine Dorf Scheibe im Kreis Hoyerswerda, das 1980 im Namen der fossilen Energie weggebaggert wurde, ist heute ein Badesee. „Vielleicht wird das hier mal ein richtiger Tourismushotspot“, freut sich Kirschke. Noch ist der Ausgang offen – die entscheidenden Jahre sind jetzt.
 

[Zuerst erschienen in Kontext:Wochenzeitung Nr. 765 am 06.11.2025]