„Ich bin dann Er“ von Marcus Everding – Regie Rosmarie Vogtenhuber-Freitag, Ausstattung TOTO, Mentorin der Produktion und Autorin von „In Männerkleidern“ Angela Steidele
von Lara Wenzel
Hosenrollen waren im 18. Jahrhundert der letzte Schrei. Während auf der Bühne Sopranistinnen die Arien von Feldherren sangen, verfolgte die Inquisition den Übertritt von Gendergrenzen im Alltag als Unzucht und Sodomie. 1721 fand Catharina Margaretha Linck ihr als letzte Person ihr Ende bei einer Hinrichtung für „Unzucht mit einem Weybe“. In Halberstadt, dem Ort ihres Todes, erinnert ein Sommertheaterstück an die queere Ikone, die als Mann verkleidet ihr Leben selbst in die Hand nahm. Mit viel Energie erzählt Schauspielerin Ronja Donath die wechselhafte Biografie, in der sich Catharina die Identität von Anastasius Lagrantinus Rosenstengel ausdachte, um als Wanderprediger, Soldat und Lehrling das Korsett eines Lebens als Frau zu sprengen. Sogar eine Ehe schließt Anastasius mit Katharina Mühlhahn in Halberstadt. Diese wird ihm jedoch zum Verhängnis, als seine Schwiegermutter seinen selbstgebauten Dildo und ein Horn zum Pinkeln entdeckt und ihn verrät.
Die Inszenierung von Rosmarie Vogtenhuber-Freitag legt sich weder auf eine lesbische noch eine transidente Lesart der Geschichte von Catharina/Anastasius fest und spricht sich für Toleranz in der Gegenwart aus. Zwar droht queeren Menschen in Deutschland keine Hinrichtung mehr, aber die Hasskriminalität gegen Queers nimmt verbunden mit dem Erstarken der Rechten von Jahr zu Jahr zu. Dicht gedrängt sitzt das Publikum in den Holbänken der Martinikirche, deren gotischer Innenraum die Kulisse der frühneuzeitlichen Biografie bildet, und lauscht der unglaublichen Geschichte. Wie eine Entertainerin richtet sich Catharina/Anastasius an die Zuschauer:innen, während sie ihre Etappen aus der Rückschau kommentiert. Zeitgleich spielen die Darsteller:innen in historischen Kostümen Szenen vom Aufwachsen im Waisenhaus, dem Eintritt in eine pietistische Sekte und die Ehe mit einer Frau. Ronja Donath vermittelt als Narratorin zwischen Gegenwart und Vergangenheit, während ihr Double Alice Macura als historische Protagonistin agiert.
So abwechslungsreich die Geschichte um Catharina/Anastasius ist, wirkt doch die historistische Garderobe und die altertümliche Sprache des Stücks von Marcus Everding kostümhaft, gerade weil sie authentisch erscheinen will. Zu weit geht die vermeintliche historische Genauigkeit, wenn eine unliebsame Figur Anastasius vorwirft: „Du feilschst ja wie ein Jud“, und so den antisemitischen Topos des Geldjuden aufgreift. Wenn solche Feindbilder aufgerufen werden, müssen sie kritisch thematisiert werden. Genug Material für ein eigenes Theaterstück böte die bis in die Gegenwart reichende Geschichte des Antisemitismus in Halberstadt allemal.
Leichtigkeit entfaltet sich auf der Bühne, wenn sich Anastasius und Katharina, gespielt von Luisa Jäger, begegnen und verspielt umkreisen. Gebunden an die Gepflogenheiten der Zeit nähern sich die jungen Menschen einander an und bringen in zärtlichen Berührungen Momente queerer Liebe in die Martinikirche. Auch die resolut auftretende Julia Siebenschuh, die in der Rolle von Katharinas Mutter einige Lacher gewinnt, kann das Band zwischen ihnen vorerst nicht zertrennen. Zwar ahnt sie Anastasius Geheimnis, aber ihre Tochter will den Geliebten nicht verraten, bis es zur Gerichtsverhandlung kommt. „Was wird jetzt geschehen?“, fragt der Bürgerchor eindringlich, während die Liebenden verhört werden. Gewaltvoll reißen Richter und Aktuar die Kleider vom vermeintlichen Betrüger und wiederholen die Aussage der Ehefrau, die davon nichts gewusst und nur Schmerzen beim Verkehr gehabt habe. Der Gerichtsprozess schwankt zwischen überraschender Brutalität und Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Strafe. Mit nur 34 Jahren endete schließlich Catharina Lincks Leben mit Enthauptung; hingegen kam Katharina Mühlhahn mit drei Jahren Zwangsarbeit davon.
Die abenteuerliche Erzählung, die hier und da noch einen mutigen Inszenierungseinfall vertragen könnte, appelliert an Toleranz, indem sie zeigt, dass es queeres Leben schon immer gegeben hat. Auch Catharina/Anastasius wusste darum und sagte zum eigenen Todesurteil: „Würde sie auch aus dem Wege geräumet, so bliebe doch dergleichen.“
[zuerst erschienen in Theater der Zeit am 11.7.2024]