Hauptstadt der Liebe. Ein Beitrag zum Valentinstag

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 619 am 8. Februar 2023)

Rechtzeitig zum Valentinstag hat die Diamantenfabrik berechnet, welche deutschen Städte besonders romantisch sind. Stuttgart belegt einen Spitzenplatz, müsste aber eigentlich noch weiter vorne liegen.

Es gibt nicht nur Industrieromantik, sondern auch eine Romantikindustrie. “Den Heiratsantrag machen Sie Ihrer Partnerin natürlich mit einem Diamant-Verlobungsring. Das ist einfach so”, informiert der Juwelenhändler Baunat und zeichnet in einem Blogbeitrag die Erfolgsgeschichte einer Marketingkampagne nach. Demnach beutelte der Börsencrash von 1929 auch die Schmuckproduzenten, weil sich angehende Bräute in diesen schwierigen Zeiten lieber mit Nützlichem als mit Luxus beschenken ließen. Das in London angesiedelte Unternehmen De Beers, heute für etwa ein Drittel der Weltproduktion von Rohdiamanten verantwortlich, konnte dabei nicht tatenlos zusehen und die beauftragte Agentur N.W. Ayer & Son hatte schließlich den rettenden Einfall: Nämlich sentimentale Gefühle geschickter für Werbezwecke zu instrumentalisieren.

“Eine emotionale Bedeutung für Diamanten”, schreibt Baunat, “war ein Wettbewerbsvorteil, den kein anderes Produkt in Anspruch nehmen oder herausfordern konnte.” Bei den Ambitionen wäre daher Bescheidenheit deplatziert: Es galt, “eine Situation zu schaffen, in der sich fast jeder, der einen Antrag macht, gezwungen fühlt, diesen mit einem Diamant-Verlobungsring zu festigen.” Nach dieser aufschlussreichen Erläuterung wie Konsumopfer entstehen, wird offenbar darauf vertraut, dass das Reflexionsvermögen des Publikums nicht mit einem beschlagenen Spiegel konkurrieren kann. Direkt unter dem Artikel findet sich ein Link zum hauseigenen Sortiment an Verlobungsringen, “besetzt mit einem oder” – besser noch! – “mehreren fabelhaften Diamanten”.

Ätherische Emotionen werden zur Grundlage eines stumpfsinnigen Materialismus: Einander etwas wert zu sein, predigt die Industrie, müsse durch eine Zahlungsbereitschaft belegt werden, die gewisse Mindeststandards nicht unterbietet. Je kostspieliger die Investition desto größer der Liebesbeweis. Wie gut es gelingt, für die Verwandlung romantischer Gefühle in Profite Erwartungsdruck aufzubauen, bis gesellschaftliche Konventionen entstehen, zeigt sich hervorragend an dem Datum, zu dem sich anständige Pärchen pflichtschuldig beschenken: Wer wäre nicht enttäuscht, wenn zum Valentinstag nicht wenigstens ein Blumenstrauß rumspringt?

Ursprünglich stand die Romantik für spontane Subjektivität und impulsive Irrationalismen, sie setzte mechanistischen Weltbildern das Unberechenbare der Gefühlsregungen entgegen. Heute kontern Warenhändler, die in dem Begriff eine Vermarktungsgrundlage erkennen, mit Mathematik. Abgestimmt auf die termingebundene Gefühlsduselei am 14. Februar hat das “Schmuck Journal” der Diamond’s Factory die romantischsten Städte Deutschlands in einer Tabelle sortiert. Wie aber gelang es, das romantische Potenzial objektiv zu vermessen? Über die Anzahl der sternenklaren Nächte? Die Stimmenvielfalt des Vogelgezwitschers, den Artenreichtum der Schmetterlingspopulationen oder die Wahrscheinlichkeit, einen ergreifenden Sonnenuntergang zu beobachten? Vielleicht anhand der Florist:innendichte oder mit Hilfe einer Blumenwiesenquote?

Dabei hat München nur ein Automuseum

Die Diamantenfabrik verfuhr schlichter. Ihre vier Metriken sind: Hochzeitsrate pro 1000 Einwohner:innen, Anzahl der Wahrzeichen, Anzahl der gut-bewerteten Restaurants und Anzahl der romantischen Attraktionen (zum Beispiel das explizit genannte BMW-Museum in München). Weil dabei darauf verzichtet wurde, die erhobenen Werte in ein Verhältnis zur Bevölkerung zu setzen, hatten es große Kommunen leichter als kleine. Und so landete auf Platz 1, gekürt als deutsche Stadt der Liebe, ausgerechnet das verlotterte Berlin, mit 81,57 von 100 möglichen Punkten. Stuttgart hingegen schaffte es gerade so noch in die Top 10, leider deutlich hinter München, obwohl es hier ein Daimler- UND ein Porschemuseum gibt. Die erniedrigende Punktzahl von gerade mal 31,50 lässt zudem den Rückschluss zu, dass es in der Hauptstadt der Bundesrepublik 158,95 Prozent romantischer zugehen soll als in der von Baden-Württemberg. Das ist natürlich grotesk.

Wer verstehen will, weswegen Stuttgart eigentlich an die Spitze des Rankings gehört, kommt mit Zahlenfuchserei nicht weit. Es gilt, sich auf die Wortherkunft der Romantik zu besinnen. Das Leitmotiv der Bewegung war das paradoxe Bestreben, der Sehnsucht nach einem unbekannten Ziel Ausdruck zu verleihen, wobei sie das Fragmentarische dem Geschlossenen vorzogen und die meist verklärte Hoffnung auf vage Zukunftsversprechen für den ein oder anderen Irrweg sorgte. Was könnte besser dazu passen als eine unendliche Baustelle im Herzen der Stadt, die auf ein absurdes Projekt (Stuttgart 21) hinarbeitet? Statt der kalten und entzaubernden Vernunft der Aufklärung, als deren Gegenpol sich die Romantik formierte, wird hier der Unsinn als Selbstzweck zelebriert.

Doch dabei hört es nicht auf. In seinem literarischen Gemälde “Wirbelwind der Liebenden” hat sich William Blake 1824 dem tragischen Schicksal von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta gewidmet, das erstmals in der Göttlichen Komödie Erwähnung fand. Nach vollzogenem Ehebruch und dem anschließenden Doppelmord durch einen eifersüchtigen Gatten ließ Dante die ihrer Leidenschaft Erlegenen im zweiten Höllenzirkel schmoren. Bei Blake aber verschmelzen die beiden vereinigten Seelen zu einer Sonne, die gen Himmel aufsteigt. Wahre Romantik trotzt also nicht nur ihrer Umgebung. Gerade dort, wo die Umstände besonders widrig sind, entstehen die belastbarsten Bindungen und die Liebe erstrahlt am leuchtendsten.