Widersprüchliches aus der Friedensbewegung
von Lothar Galow-Bergemann, erschienen in Contraste Oktober 2006
„Es war so schön im Jahr 2003“ heißt es mit Bezug auf die Massendemos gegen den Irakkrieg. „Endlich konnten sich die Menschen als ‚Europäer’ besser fühlen, besser als ‚die Amerikaner’. Es etablierte sich so etwas wie ein Mainstream-Antiamerikanismus.“ Nanu, der Leser reibt sich die Augen. Hat er wirklich ein Buch aus der Friedensbewegung vor sich? Er hat. Tobias Pflüger, der für die PDS im EU-Parlament sitzt, wird diese Bemerkung vermutlich noch manchen Ärger im eigenen Lager bescheren, gilt dort doch gemeinhin allein schon die Behauptung der Existenz von Antiamerikanismus als Sakrileg.
Offensichtlich gibt es auch in der Friedens- und Antiglobalisierungsbewegung ein paar Leute, deren Weltbild etwas mehr Komplexität verträgt als das Mantra vom Kampf der bösen USA und ihrer durchtriebenen Konzerne gegen die „friedliebenden Völker“. Die Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI), die sich seit nunmehr zehn Jahren besonders in der Analyse deutscher und europäischer Militär- und Großmachtpolitik einen Namen gemacht hat, gehört dazu. Mit dem Band „Weltmacht EUropa, Auf dem Weg in weltweite Kriege“ hat sie jetzt einen recht umfassenden Überblick über Geschichte, Gegenwart und zu befürchtende Zukunft dieser imperialistischen Herausforderung an die (noch) alleinige globale Supermacht vorgelegt.
Ob die (bisher) gescheiterte Verfassung, die Politik der EU in allen Weltregionen, ihre Flüchtlingspolitik, die Konzentration der europäischen Rüstungsindustrie und die Entwicklung europäischer „Verteidigungs“doktrinen oder Rivalität und Kooperation mit den USA und die spezifisch deutschen Rolle bei alledem – es gibt kaum ein Thema, das die 19 AutorInnen nicht behandeln und mit einer Fülle von Fakten unterlegen. Herausgekommen ist ein äußerst nützliches Handbuch für den politischen Alltagsgebrauch, dem bedauerlicherweise ein Stichwortverzeichnis fehlt.
Kapitalismusanalyse ist die Sache des Bandes nicht. Für die meisten AutorInnen stellt sich der moderne Kapitalismus als eine Veranstaltung hinterhältiger neoliberaler Strategen dar. Trotzdem können die Texte Einsichten befördern. Z.B. die, dass die Vorstellung eines „ideellen Gesamtimperialismus unter der alleinigen Führung der USA“ (Robert Kurz) auf wackligen Füssen steht. Die Entwicklung von ebenbürtigen Satellitensystemen und Großraumtransportflugzeugen, die Aufstellung eigener europäischer „battlegroups“ für den weltweiten Einsatz, die nicht von den USA kontrollierbar sind, jährliche Rüstungsausgaben von über 200 Mrd $ und der immer offener erhobene Anspruch, Weltmacht werden zu wollen, führen die Einschätzung vom „europäischen Papiertiger“ ad absurdum. Besonders aufschlussreich, was Arno Neuber über den beiderseitigen Protektionismus schreibt: in den USA werden Vorkehrungen gegen eine mögliche Abhängigkeit von europäischen Rüstungsimporten getroffen. So verhält sich keiner, der es mit irgendwelchen Zwergen zu tun hat. Es hat sich ein Gestrüpp von Kooperation und Konfrontation herausgebildet: Zwar erfordert das Spiel namens globaler Kapitalismus immer mehr gemeinsame Anstrengungen aller Akteure, damit es überhaupt noch gespielt werden kann, aber deswegen hat noch lange keiner den Wunsch aufgegeben, Sieger zu sein. So trifft wohl eher die Prognose von Clintons ehemaligem Sicherheitsberater Charles Kupchan zu: „Die EU ist ein aufsteigendes Machtzentrum, das den Westen in einen amerikanischen und einen europäischen Teil trennen wird.“ Und Uli Cremer ist leider zuzustimmen – „wenn die EU als globale Militärmacht neben die USA träte, wären eher mehr kriegerische Konflikte zu befürchten.“
Wer nun bei der Lektüre gehofft hatte, auf weitere Beispiele komplexeren Denkens zu stoßen, wird allerdings enttäuscht. Dass es neben dem westlichen Imperialismus möglicherweise noch mehr Menschenfeindliches auf der Welt geben könnte, scheint außerhalb des Vorstellungsvermögens der meisten AutorInnen zu liegen. Gegenüber der weltweiten Konjunktur der zentralen kapitalistischen Krisenideologie, des Antisemitismus, herrscht glatte Ignoranz. Zwar schafft es Andrè Bank wenigstens einmal vom „antisemitischen Präsidenten Ahmadinedschad“ zu reden, aber nur um zu betonen, die iranische Atompolitik werde ja eh von Chamenei bestimmt – bei dem, wen wundert’s, das Adjektiv schon wieder fehlt. Das passt zu der Meldung, dass sich eine der AutorInnen, Claudia Haydt, auf dem diesjährigen Kongress der Bundeskoordination Internationalismus (Buko) mit der Bemerkung hervorgetan hat: „Ich weiß nicht, ob Ahmadinedschad wirklich Antisemit ist.“ (jungle world, 31.5.06) Banks Beitrag ist überhaupt einer der schwächsten des Buches. Immerhin konzediert er – das ist neu aus einer Ecke, in der früher Loblieder auf Arafat üblich waren – dass die EU mit ihren Hilfsgeldern für den Rais zur Etablierung eines autoritären Regimes und zu innerpalästinensischen Militarisierung beigetragen hat. Ansonsten keine Überraschung. Der antisemitische Terror fällt ihm noch nicht einmal dann ein, wenn er die zentralen Konfliktfelder in „Nahost“ aufzählt und ausgerechnet die Militärhilfe für Israel, das ohne militärische Überlegenheit über diejenigen, die es von Anfang an ausradieren wollten keinen Tag existiert hätte, ist ihm ein Dorn im Auge.
Die meisten AutorInnen reden vom „Terror“ nur in Anführungszeichen, einzig für Christoph Marischka sind „die USA vermutlich tatsächlich Zielscheibe des internationalen Terrorismus“ und dürften „halbwegs glaubwürdig eine Bedrohung durch Atomwaffen konstruieren können“. Der Terror wird durchgängig als irgendwie logische „Folge von Armut“ erklärt, als ob sich saudische Milliardärssöhnchen vom Dhijad abwenden würden, wenn nur erst überall fair gehandelter Kaffee getrunken wird. Uwe Reinecke vom Bundesausschuss Friedensratschlag schießt den Vogel ab. Für ihn gibt es den Terrorismus gar nicht, er ist „imaginär“. Am 11.9.01 gab es „Ereignisse“ und wenn Menschen vor Terroranschlägen Angst haben, so beweist das, „dass die Propaganda funktioniert“. Die (selbstredend nicht zu rechtfertigende) Tötung des Brasilianers Menendez durch die Londoner Polizei am 22.7.2005 ist ihm lediglich „dramatische Spitze der allgemeinen staatlichen Hetzjagdstimmung“. Dass ihr ein Terroranschlag mit dutzenden Toten vorherging und dass die Polizei Hinweise auf weitere Anschläge hatte, teilt der famose Friedensfreund seinen LeserInnen erst gar nicht mit. Vielleicht hat er es aber auch nur vergessen. Solcherlei Realitätsverlust teilen bekanntlich nicht wenige.
Hat man sich die Augen zu früh gerieben? Am Ende jedenfalls riecht es allzu bekannt nach Dumpfbacke. Schade eigentlich. Denn das Buch ist, kritisch gelesen, durchaus eine Hilfe für alle, die einiges von dem besser verstehen wollen, was sich heute an der Oberfläche der krisengeschüttelten kapitalistischen Welt abspielt. Ob man es aber in Tübingen beim nächsten Band schaffen wird, den Antisemitismus zur Kenntnis zu nehmen oder sich nicht eher doch für das „Missverständnis“ in Sachen Antiamerikanismus entschuldigt – wir werden sehen.
Tobias Pflüger/Jürgen Wagner (Hrsg.), Weltmacht EUropa Auf dem Weg in weltweite Kriege, VSA Verlag Hamburg, 338 S., ISBN 3-89965-183-9, 19,80€