Die Krankenhausversorgung steht vor etlichen Herausforderungen
Minh Schredle im Gespräch mit Kalle Kunkel
Die Anfang des Jahres in Kraft getretene Reform bricht kaum mit den neoliberalen Grundsätzen, die die Misere mitverursachen. Die „Jungle World“ sprach mit dem Soziologen Kalle Kunkel über die Probleme im Gesundheitswesen, aber auch über einige arbeitspolitische Fortschritte, die in den vergangenen Jahren erzielt wurden.
Die Kritik am Vergütungssystem der Fallpauschalen ist mittlerweile nicht mehr zu ignorieren. Wie hängt dieses System mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens zusammen?
Die Fallpauschalen bedeuten, dass Krankenhäuser je nach Behandlungsform einen festen Standardsatz abrechnen können – was einen finanziellen Anreiz schafft, lukrative Behandlungen vorzuziehen, auch wenn sie nicht immer das Beste im Sinne des Patientenwohls sind. In der linken Theorietradition wird das oft unter den Schlagworten Inwertsetzung oder Landnahme verhandelt. Gemeint ist damit, dass der Wachstumszwang der Wirtschaft immer neue Expansionsfelder braucht und das Gesundheitswesen durch die Einführung der Fallpauschalen kapitalistisch besser bewirtschaftbar geworden ist. Das ist auch nicht falsch.
Aber?
Ich halte es für das Verständnis dieser Prozesse für zentral, „Ökonomisierung“ als eminent politischen Prozess zu begreifen, und zwar im Sinne dessen, was der neoliberale Ökonom Friedrich Hayek als „Entthronung der Politik“ bezeichnet hat. Die Vermarktlichung des Gesundheitswesens ist dabei Teil eines langfristigen Staatsumbaus, bei dem sich die Politik verstärkt aus der Daseinsfürsorge zurückzieht und sie Marktmechanismen überlässt.
Dadurch treten an die Stelle von planerischen Gestaltungsmöglichkeiten politisch hergestellte wirtschaftliche Zwänge. Das führt mitunter auch dazu, dass sich die politisch Verantwortlichen gar nicht mehr in der Verantwortung sehen. Bei den gewerkschaftlichen Kämpfen und Tarifauseinandersetzungen, an denen ich beteiligt war, war es daher ganz wesentlich, dass es immer auch eine politische Begleitkampagne gab, um die lokal adressierbaren politisch Verantwortlichen daran zu erinnern, dass das etwas ist, worauf sie Einfluss nehmen können.
Wie sehen denn die Einflussmöglichkeiten konkret aus?
Die sind tatsächlich begrenzt, weil es zum Beispiel auf der Landesebene sehr schwierig ist, überhaupt auf Krankenhausstrukturen und Krankenhausfinanzierung einzuwirken. Aber dass die Spielräume begrenzt sind, geht eben auch auf eine politische Entscheidung zurück. Zum Beispiel hat man 2020 auf Bundesebene eine Veränderung in der Krankenhausfinanzierung beschlossen, durch die ein bestimmter Teil, nämlich die Pflege am Bett, aus diesem Fallpauschalensystem herausgenommen wurde. Dadurch sind überhaupt erst wieder Spielräume entstanden. Im Gesundheitswesen läuft die Ökonomisierung am Ende auf einen Abbau von Kapazitäten hinaus. Zum Beispiel, weil es sich nicht rechnet, eine große Zahl von Betten lange Zeit unbelegt zu lassen.
Während der Covid-19-Pandemie wurden die problematischen Folgen dieser Ökonomisierung besonders deutlich, als der Bedarf an Krankenhausversorgung plötzlich in die Höhe geschnellt ist.
Solche Situationen sind selten, aber sie kommen immer wieder vor: Auf einmal gibt es einen sehr großen Bedarf an Versorgung. Und bei Covid-19 kam noch dazu, dass parallel andere Behandlungen heruntergefahren werden mussten, um die Patienten keinem unnötigen Infektionsrisiko auszusetzen. Dabei hat sich sehr deutlich gezeigt, wie wichtig eine Krankenhausinfrastruktur ist, die im regulären Betrieb nicht bis an ihre Grenzen ausgelastet ist und dadurch in Ausnahmesituationen handlungsfähig bleibt. Diese Einsicht hat die weitere politische Debatte durchaus mitgeprägt.
Aber sie hat sich nicht durchgesetzt?
Es ist den neoliberalen Fraktionen trotzdem wieder gelungen, ihre Vorstellungen davon durchzusetzen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Das Fallpauschalensystem ist ein bisschen zurückgedrängt worden, aber die Finanzierungsformen, die stattdessen etabliert werden, sind immer noch so gestrickt, dass sie ökonomischen Druck auf die Krankenhäuser ausüben.
Was wäre die Alternative gewesen?
Unter anderm die Gewerkschaften hatten zum Beispiel eine Rückkehr zur Selbstkostendeckung gefordert. Was im Kern heißt, dass den Krankenhäusern bezahlt wird, was sie tatsächlich ausgegeben haben. Was aber jetzt tatsächlich etabliert wird, sind sogenannte Vorhaltepauschalen. Grob gesagt ist den Einrichtungen dabei vorab klar, wie viel Geld sie am Ende des Jahres bekommen, und de facto entsteht so wieder ein Anreiz, möglichst wenig auszugeben und nach Kürzungspotentialen zu suchen, damit etwas übrig bleibt.
Ist absehbar, wie sich das auf die Versorgung auswirken wird?
Die Folgen werden für die Bevölkerung im ganzen Bundesgebiet in den nächsten Jahren zu spüren sein. Es wird zu etwas kommen, was man kalte Strukturbereinigung nennen kann. Das heißt, es werden jetzt neue wirtschaftliche Kriterien eingeführt, die dazu führen werden, dass einige der Krankenhäuser, die im Bedarfsplan der Bundesländer vorgesehen sind und von denen man eigentlich sagen würde, dass sie notwendig sind, nicht mehr lukrativ sein werden und schließen müssen. Hier stehen enorme Konflikte an, insbesondere in den ländlicheren Regionen.
Die Pflege gilt als Arbeitsbereich, in dem nur mit Skrupel gestreikt wird, aus Sorge um das Wohl der Patientinnen und Patienten. Ist das so?
Es ist schwer, ein allgemeines Bild zu zeichnen, weil die Branche sehr zerklüftet ist. Was sich aber sagen lässt: Insbesondere an den größeren Häusern – den Krankenhauskonzernen und vor allem an den Universitätskliniken – hat sich im Pflegesektor über die vergangenen Jahre eine neue Form von Klassenbewusstsein entwickelt; die gewerkschaftliche Organisierung war insgesamt niedrig, wächst aber. Die Frage nach der Verantwortlichkeit für die Patientinnen und Patienten wird mittlerweile anders betrachtet: Verantwortung beschränkt sich nicht nur darauf, wie sich eine einzelne Pflegekraft verhält. Verstärkt setzt sich die Sichtweise durch, dass es sogar eine Art Pflicht ist, zu protestieren und etwas an der Situation zu ändern, weil es unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kaum noch möglich ist, gute Pflege zu gewährleisten. Und auch bezüglich der Schwierigkeit mit der Verantwortung für die Patientenversorgung während des Arbeitskampfs hat sich mittlerweile viel getan.
Inwiefern?
Bei Streiks in Krankenhäusern gibt es inzwischen sogenannte Notdienstvereinbarungen. Die sind dafür da, dass Versorgungsleistungen – insbesondere lebenswichtige – sichergestellt bleiben. Diese Vereinbarungen werden zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft ausgehandelt. Das war früher nicht so, da mussten die Notdienste oft auf dem Niveau der normalen Wochenendversorgung arbeiten und der Arbeitgeber war eigentlich zu gar nichts verpflichtet.
An der Berliner Charité wurde in den vergangenen Jahren aber eine neue Art von Notdienstvereinbarung entwickelt. Darin verpflichtete sich Verdi, die Streiks langfristig anzukündigen, und der Arbeitgeber Charité verpflichtete sich, die Zahl der Patient:innen in dem Zeitraum zu reduzieren. Denn dort wo keine Patient:innen sind, können Streiks auch keine Patienten gefährden. Das ist schon ein game changer gewesen, diese Art von Verantwortungsumkehr zu vollziehen.
Sind Notstandvereinbarungen über die Charité hinaus erfolgreich?
Sie führen öfters zu großen Konflikten und es kommt immer häufiger vor, dass Arbeitgeber sich weigern, Notdienstvereinbarungen abzuschließen. Dann wird zum Teil auch ohne die Vereinbarung gestreikt, auch wenn das bei manchen zu Skrupeln führt. Insgesamt würde ich aber schon sagen, dass es grundsätzliche Veränderungen gegeben hat, wie das Berufsethos in der Pflege gedacht wird – mit dem Kerngedanken, dass sich die Verpflichtung gegenüber dem Patienten nicht nur auf die eigene Handlungsfähigkeit beschränkt, sondern auch beinhaltet, im Kollektiv für eine bessere Versorgung zu kämpfen.
Mit dem demographischen Wandel, der angespannten Haushaltslage und dem akuten Personalnotstand im Pflegesektor steht der besseren Versorgung vor einiges im Weg…
Das stimmt, aber man sollte deshalb nicht aufgeben. Bis vor einigen Jahren hatten wir in der Pflege die Situation, dass es sich um klassische Burn-out-Berufe handelte, die gleichzeitig sehr schlecht entlohnt wurden. Zumindest beim Geld hat es in den vergangenen fünf bis zehn Jahren eine spürbare Verbesserung gegeben. Aber unglaublich anstrengend sind die Berufe immer noch. Und der größere Bedarf an Versorgung durch den demographischen Wandel wird erst noch so richtig durchschlagen. Eigentlich müsste man überproportional viele Menschen für diesen Beruf gewinnen und ausbilden. Aber das Berufsbild ist nicht besonders attraktiv und der Pflegesektor ist immer noch eine Branche, aus der Menschen oft bereits nach ein paar Jahren wieder aussteigen.
Wenn diese Tendenz anhält, dann gehen wir auf wirklich düstere Zeiten zu. Das heißt aber nicht, dass wir diese Entwicklung einfach nur still und stumm zur Kenntnis nehmen müssen. Es spricht vielmehr dafür, sich zu wehren.
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Kalle Kunkel ist Historiker und Soziologe. 2015 organisierte er als Gewerkschaftssekretär beim Verdi-Landesbezirk Berlin-Brandenburg die Streiks zur tariflichen Personalbemessung an der Charité mit. Im Mai 2025 erschien sein Buch „Langer Atem – keine Geduld mehr“ über tarifpolitische Konflikte in Krankenhäusern.
Interview: Minh Schredle
[zuerst erschienen in Jungle World 2025/37 v. 11.September 2025]