Die deutsche Ideologie lebt fort.
Auch unter Linken, die Hetze gegen Spekulanten und Antizionismus für fortschrittlich halten.
Eine Flugschrift aus Anlass des 3. Oktober 2013
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„Zusammen einzigartig“ findet sich Deutschland und feiert seinen „Tag der Deutschen Einheit“. Wie sollte sich dieses Land auch anders feiern? Ein „Tag der Deutschen Freiheit“ wäre ja auch nicht besser. Schon ein Blick auf die Nationalhymne verrät das. Dort nimmt die Freiheit bekanntlich den letzten Platz hinter der „Einigkeit“ und dem „Recht“ ein. Doch was soll’s, es ist ja sowieso nicht die Freiheit des Individuums gemeint, sondern diejenige des „deutschen Vaterlands“.
postnationalsozialistische volksgemeinschaft
Das Faible der Deutschen für ihre Einheit hat Tradition. Schon im zweiten Satz seines Bestsellers jammerte ein deutscher Hoffnungsträger anno 1925 über die „Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung“ ihm als „Lebensaufgabe“ erschien. 13 Jahre später erscholl Jubel von beiden Ufern des Inn. Der Führer hatte Österreich heim ins Reich geholt und konnte sich fortan anderen Aufgaben widmen. Wenn es später nicht mehr ganz nach Plan lief, so nicht wegen der Deutschen, die sich mit Shoah und Vernichtungskrieg schließlich redlich Mühe gegeben hatten, sondern wegen der Alliierten, die ihrem Treiben, wenn auch reichlich spät, ein Ende setzten. Die Deutschen besannen sich daraufhin alter Tugenden und jammerten mal wieder um die Einheit, die ihnen unverständlicherweise geraubt worden war.
Das „einig deutsche Vaterland“, im Osten von Parteifunktionären besungen, schmachtete „dreigeteilt“ auf Landkarten, mit denen Oberstudiendirektoren westdeutsche Klassenzimmer schmückten. Doch bald gab es auch wieder Grund zur Freude in Nachkriegsdeutschland. Wir sind wieder wer – und zwar das, was uns zusteht, nämlich Weltmeister, klopfte man sich 1954 auf Schulter und Schenkel. Ein knappes Jahrzehnt nachdem ihnen das blutige Handwerk gelegt worden war, grölten die Wehrmachtsverbrecher ihr „Deutschland, Deutschland über alles!“ durch das Stadion von Bern.
innenansichten einer „geläuterten nation“
Aber heute schwört man doch ständig „Nie wieder“ und in Berlin steht sogar ein Holocaust-Mahnmal. Doch im Gewand der Demut kommt alte Überheblichkeit daher. „Andere Völker beneiden uns um dieses Mahnmal.“ Für diesen perversen Satz wurde Eberhard Jäckel, ein führender Historiker dieses Landes, nicht etwa mit Tomaten beworfen, sondern von der wohlanständigen Mitte der Gesellschaft mit rauschendem Beifall bedacht (Ansprache zur fünfjährigen Jubiläumsfeier des Holocaust-Mahnmals, 10.05.2005). Diese vorbildliche Trauerarbeit soll uns erst mal einer nachmachen. So, und jetzt dürfen wir wieder stolz sein auf Deutschland. Und über Bombennächte und Vertreibung jammern. „Die Nazis“ findet man ganz schlimm, will aber keineswegs wahrhaben, dass es die Deutschen waren, deren übergroße Mehrheit die Verbrechen aktiv tätig und wohlwollend duldend beging. Je länger die NS-Zeit zurückliegt, um so lieber sonnt man sich im Lichte der verdammt wenigen, die Widerstand geleistet haben.
Doch in Wirklichkeit lebt der Nationalsozialismus in dieser angeblich so geläuterten Nation fort. Der Satz: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform“ wird lediglich von 49,7 % der Deutschen völlig abgelehnt. „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert“ nur von 48,9%. „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ gerade noch von 34,1% und „Wir sollten endlich wieder mehr Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“ kaum noch überraschend von lediglich 15,9%. (Universität Leipzig, kumulierte Stichprobe 2002-2012 www.uni-leipzig.de/pm2013-rechtsextremismus.pdf) Der verbreitete Hass auf Menschen, die „uns Deutschen“ angeblich „auf der Tasche liegen“, seien es Hartz-IV-Empfänger, Griechen, Muslime oder andere manifestiert sich in der Unterstützung von 56% der Deutschen für die ekligen Thesen eines Thilo Sarrazin, der von Menschen spricht, die getreu der unreflektierten kapitalistischen Logik „ökonomisch überflüssig sind“ und „ständig kleine Kopftuchmädchen produzieren“ (Handelsblatt, 6.9.2010). Kein Wunder, dass eine neonazistische Mörderbande jahrelang unentdeckt blieb. In solcher Umgebung schwimmen die Täter wie Fische im Wasser. Auch herrscht das Ressentiment bei weitem nicht nur „unten“, bei „den Bildungsfernen“. Abwertung von Langzeitarbeitslosen, Forderung von Etabliertenvorrechten und Antisemitismus sind in der höchsten Einkommensgruppe sogar noch stärker verbreitet als in der niedrigsten (vgl. Heitmeyer 2012, 28).
nirgendwo antisemiten?
Wie wenig der Nationalsozialismus entgegen allen Beteuerungen aufgearbeitet ist, zeigt sich nirgends deutlicher als im völligen Unverständnis des Antisemitismus. Nichts davon ist begriffen, dass er falscher und gefährlicher Antikapitalismus ist, der sich ein Ränkespiel der „betrügerischen Raffgier“ gegen die „ehrliche Arbeit“ einbildet, zwischen „gutem“ Kapital und „schlechtem“ Finanzkapital unterscheidet und ernsthaft glaubt, dass eine kleine Minderheit „das Geld regiert“. Exakt diese Meinung aber grassiert seit Beginn der Krise 2008 in der ganzen Gesellschaft. Im Hass auf „die gierigen Bankster und Spekulanten“ lebt erneut unreflektierter Pseudo-Antikapitalismus auf, der keine Ahnung von der subjektlosen Herrschaft des Kapitals hat. In diesem Schoß schlummert das Pogrom.
Regelrecht obszön ist die deutsche Selbstgerechtigkeit gegenüber Israel. Meint man doch, ausgerechnet aus der Shoah mehr gelernt zu haben als „die Juden“. Zwei Drittel der Deutschen halten den jüdischen Staat für die größte Gefährdung des Weltfriedens (SZ, 25.10.2010), aber Antisemit ist natürlich keiner von ihnen. Ob ein halbseniler Dichter und Denker in irrer Verdrehung unterstellt, Israel wolle den Iran auslöschen oder ein verschwörungsdepperter Spiegel-Kolumnist „die ganze Welt am Gängelband“ des israelischen Regierungschefs wähnt – stets raunt ein Oh, wie mutig, der traut sich zu sagen, was man ja nicht sagen darf durch das Land, in dem man „Israelkritik“ für ein unveräußerliches Menschenrecht hält. Vom „Nahostkonflikt“ hat man keine Ahnung, kennt aber den Schuldigen. Wer weiß schon, dass es nie einen Staat Palästina gab oder dass 78% des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina schon seit 90 Jahren arabisch sind? Wer nimmt schon die täglichen Vernichtungsdrohungen gegen Israel und seine Bewohner_innen zur Kenntnis geschweige denn ernst? Wie viele Nie wieder-Schwörende haben begriffen, dass Jüd_innen nie wieder Opfer sein wollen? Dass Israel eine jüdische Notwehrmaßnahme in einer Welt voller Antisemitismus ist? Dass es aus gutem Grund bis an die Zähne bewaffnet ist und der „Völkergemeinschaft“ misstraut? Wer ärgert sich über die umfangreichen deutschen Handelsbeziehungen zum iranischen Gottesstaat? Solche Petitessen bewegen fast niemanden. Doch wer das Wort „Siedlungspolitik“ aufsagen kann, gilt als Nahostexpert_in. Dass es bei der verbreiteten „Israelkritik“ in Wirklichkeit nicht um die eine oder andere Politik, sondern um Antisemitismus geht, wird auch deutlich, wenn drei Viertel der Deutschen den Satz „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ nicht völlig ablehnen (Decker, Kiess, Brähler, 2012).
was zu bemerken wäre
Der Nationalsozialismus war mehr als nur Faschismus. Shoah und Vernichtungskrieg sind das singuläre Werk der nationalsozialistischen deutschen Volksgemeinschaft. Wer, wie viele Linke, auch 70 Jahre nach der Shoah noch in der bequemen Vorstellung von den bösen Herrschenden und dem guten Volk lebt, hat den Antisemitismus bis heute nicht verstanden. Der ist nämlich weder ein „Instrument der Herrschenden“ noch eine Unterart des Rassismus. Er ist das voll entfaltete regressiv-antikapitalistische Ressentiment, das im Vernichtungswahn gegen die vermeintlich Schuldigen kulminiert. Er kann innerhalb kürzester Zeit die ganze Gesellschaft erfassen und sein barbarisches Potential entfalten. Im Mai 1928 erhielt die NSDAP ganze 2,6 % der Stimmen. Keine 14 Jahre später beschloss die Wannseekonferenz die „Endlösung der Judenfrage“. Das „Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz, das sich weder Marktwirtschaftsgläubige noch Arbeiterklassenfans wirklich erklären können, entsprang dem Wunsch der deutschen Volksgemeinschaft, „die Gierigen“ im Namen der „ehrlich Arbeitenden“ aus der Welt zu schaffen. Und wer den Antisemitismus nicht versteht, hat Israel schon gar nicht verstanden. Folglich wetteifern manche Linke mit Nazis und Islamisten um die Dämonisierung des jüdischen Staates.
Gut, wenn Linke gegen Nazis demonstrieren. Gut, wenn sie gegen Rassismus und für das Bleiberecht von Flüchtlingen eintreten. Da haben sie wesentlich mehr kapiert als große Teile der Mehrheitsgesellschaft. Doch der Glaube, Antifaschismus sei automatisch frei von Antisemitismus, ist Mainstream pur. Nicht nur die „Rote Fahne“ der KPD vor 1933, die Kampagnen gegen „zionistische Verschwörer“ im ehemaligen Ostblock und die personalisierende Pseudokritik der RAF samt ihrer Kumpanei mit palästinensischen Terroristen haben das Gegenteil bewiesen. Viele Linke tun es immer noch.
Gegen Nazis und gegen „gierige Spekulanten“ sein ist wie gegen Gift sein und es verbreiten. Gegen Nazis und gegen Israel sein ist wie gegen Giftgas sein und Gasmasken ablehnen. Nazis kann man umso besser bekämpfen, je weniger Gemeinsamkeiten man mit ihnen hat.
Literatur:
Was ist Antisemitismus? Anmerkungen zur Wahnwelt des unreflektierten Antikapitalismus
Was ist Antiamerikanismus? Anmerkungen zur grassierenden Selbstgerechtigkeit
Was ist Antizionismus? Anmerkungen zum Hass auf den Juden unter den Staaten
Was ist Antiimperialismus? Anmerkungen zum Niedergang der Linken
Olaf Kistenmacher, Klassenkämpfer wider Willen. Die KPD und der Antisemitismus in der Weimarer Republik, Jungle World 14.07.2011
Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) Deutsche Zustände: Folge 10. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012
Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar. Die Mitte im Umbruch: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, 2012
Eine Flugschrift von emanzipation&frieden – anti-capitalism revisited
September 2013
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