Bester Mann

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 670 am 31. Januar 2024)

Manche Medien halten den Gewerkschaftsboss für den Teufel in Menschengestalt – vielleicht weil er trotz übelster Verleumdungen nie eingeknickt ist. In Stuttgart demonstrierte Claus Weselsky, warum er ein Vorbild für den Arbeitskampf ist.

Für die „Welt“ ist Claus Weselsky neuerdings „eine Art Greta Thunberg mit Schnurrbart“: Weil er genau wie die Klimakleber den Verkehr lahmlegt. Gemessen am Niveau, das sonst so in der Springer-Presse vorherrscht, ist das wahrscheinlich nicht nur der cleverste Witz, den sie sich in den vergangenen Jahren einfallen ließen. Es ist auch verblüffend nett gegenüber dem Interessenvertreter der Arbeitnehmer:innen. Normalerweise wird er aus dieser publizistischen Ecke mit weitaus übleren Schmutzkampagnen überzogen.

Als die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) im vergangenen Jahr schon einmal streikte, suggerierte die „Bild“-Zeitung eine Mitschuld an einem Autounfall, bei dem sich mehrere Schüler verletzten und ein 18-Jähriger starb: „Weil der Nahverkehr streikte, nahmen sie den Wagen …“, heißt es über die Betroffenen, und eine Anwältin darf erklären: „Der Streik hatte in diesem Fall tödliche Folgen.“ Trauriger Höhepunkt in der Verleumdungsoffensive ist aber vermutlich ein Tweet, den Günter Klein 2015 abgesetzt hat. Der Chefreporter Sport beim „Münchner Merkur“ würde „den Herrn Weselsky ja gerne mal einem Waterboarding unterziehen“. Um diese Zeit war der Ton besonders rau. In direkter Anlehnung an Hitler nannte die „Börse am Sonntag“ den Gewerkschaftsboss den GröLaZ, den größten Lokführer aller Zeiten, und meinte, dieser ähnle bei seinen Auftritten immer mehr jenem „großen Diktator“ aus Charlie Chaplins gleichnamigem Schwarzweißfilm von 1940.

„Ein Kerl, den alle Menschen hassen, Der muß was sein!“, dichtete Goethe. Und in der Tat: Wer den Kerl einmal live erlebt, stellt schnell fest, dass ihm gar keine Hörner aus dem Kopf wachsen. Zu Gast in Stuttgart bejubeln streikende Lokführer:innen den Arbeitgeberschreck wie einen Helden. Vergangenen Donnerstag zieht der Demoblock mit Trillerpfeifen und Ratschen durch die Innenstadt, angeführt von Weselsky: rosige Wangen, aufrechter Gang. Immer wieder grinst er verschmitzt und sagt Dinge wie: „Alle wissen doch genau: Wenn wir nicht streiken, fährt die Eisenbahn auch nicht pünktlich.“ Vereinzelt gibt es Applaus vom Straßenrand. Ein älterer Mann mit Schäferhund ist allerdings verärgert und murmelt immer wieder aufgebracht: „Staatsfeinde sind das. Ich tät die alle einsperren.“

Weselskys Auftritt in der Landeshauptstadt fällt in die längste Arbeitsniederlegung von Lokführer:innen, seit 1994 aus Reichs- und Bundesbahn die Deutsche Bahn AG wurde. Neben Lohnerhöhungen kämpft die GDL vor allem um die Einführung der 35-Stunden-Woche. Aber aufgepasst! „Ab sechs Tagen Bahnstreik wird es heikel“, kommentierte kürzlich ein pikierter Autor im „Tagesspiegel“. „Dann wächst die Gefahr, dass Fabriken das Material ausgeht. Die volkswirtschaftlichen Schäden nehmen zu.“ Arbeitgebernahe Institute behaupten zwar wirklich, dass ein einzelner Tag Bahnstreik zwei- bis dreistellige Millionenbeträge an Schäden verursacht, und sich mit größerer Dauer Kosten multiplizieren können. Dass aber der sechste Tag dabei besonders heikel wäre, ist nicht einmal pseudowissenschaftlich untermauert.

Der „Tagesspiegel“ fährt allerdings fort, Weselsky kenne diese Zusammenhänge genau. „Vor einigen Wochen versprach er daher, es bei drei bis fünf Tage langen Streiks zu belassen. Nun überschreitet er diese Grenze.“ Dieses destruktive Verhalten gefährde „nicht nur die kritische Infrastruktur Eisenbahn und Deutschlands Industrie. Der Schaden ist viel größer: Der Gewerkschaftsboss rührt am Grundverständnis dieser Republik als Konsensmaschine“. Vermutlich ist sogar Europa in Gefahr? Die Forderung lautet jedenfalls: „Ulrich Silberbach, der Vorsitzende des Beamtenbunds, kann Weselsky nicht länger gewähren lassen.“

Immerhin kann sich die DB ihr Management leisten

Der Beamtenbund (DBB) ist ein Dachverband unter anderem von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und auch der GDL. Bei Tarifverhandlungen sitzt der DBB daher mit am Tisch. Doch zumindest Silberbachs Kollege, Kai Rosenberger, denkt überhaupt nicht daran, zu intervenieren. Der Vorsitzende des DBB Baden-Württemberg steht in Stuttgart zusammen mit Weselsky auf der Bühne am Schlossplatz und ruft: „Wir freuen uns sehr über diesen Vorstoß zur Arbeitszeitverkürzung und kämpfen Seite an Seite mit den Kolleginnen und Kollegen!“ Schuld am Streik sei nämlich in erster Linie die Sturheit des Bahn-Managements, die gewerkschaftliche Forderungen grundsätzlich als unbezahlbar abkanzelt, aber sich die „unvorstellbar hohen Gehälter und Boni“ der Chefetage leistet. „Die nehmen lieber Streiks in Kauf, die mehrere hundert Millionen Euro kosten, statt das Geld in ihre Beschäftigten zu investieren“, sagt Rosenberger. „Das ist auch unverschämt gegenüber Steuerzahlern.“

Tom Adler, seit 40 Jahren IG-Metall-Mitglied, früher Betriebsrat bei Daimler in Untertürkheim und zwölf Jahre für die Linke im Stuttgarter Gemeinderat, hält ein Grußwort für das Aktionsbündnis gegen S21 – und erklärt, die Lokführerinnen und Lokführer seien diejenigen, die den schwer beschädigten Bahnbetrieb überhaupt noch am Laufen hielten. In der Arbeitswelt werde den Beschäftigten selten etwas geschenkt. So hätte die IG Metall vor vielen Jahren beinahe sieben Wochen streiken müssen, um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche zu erkämpfen, die in der westdeutschen Metallindustrie schon lange Normalität sei. Also weitermachen! „Eure Unbeugsamkeit wirkt auch motivierend an der Basis anderer Gewerkschaften“, ruft Adler den Demonstrierenden zu.

Dann ist Weselsky dran und wird mit begeisterten „Clausi! Clausi! Clausi!“-Rufen empfangen. Er wettert gegen „Nieten in Nadelstreifen“ und „Luschen in Limousinen“, die nix von Eisenbahn verstehen, aber sich für teuer Geld von Chauffeuren herumkutschieren lassen. „Wir schämen uns für ein Management, das die Kundschaft mit 62 Prozent Pünktlichkeit beglückt und sich die eigenen Taschen vollstopft.“ Nachdem offenbar genug Geld da war, dass Bahn-Manager:innen im vergangenen Jahr ihr Grundgehalt um 14 Prozent aufstocken konnten, folgten zum Jahresende üppige Millionen-Boni, weil zwar manche Ziele verfehlt, andere dafür aber übererfüllt worden wären.

Er selbst, sagt Weselsky, lege pro Jahr 70.000 Kilometer auf der Schiene zurück. „Ich weiß also, was für Zumutungen das Bahnfahren mit sich bringt.“ Die Schuld an den miserablen Zuständen verortet er aber nicht bei dem Personal, das die Loks führt. Sondern beim inkompetenten Missmanagement, das den Laden heruntergewirtschaftet hat. „Viele Kunden ärgern sich: unpünktlich, unzuverlässig und jetzt dieser Streik?“, sagt er. „Aber wir von der GDL müssen uns nicht schämen, nicht ein einziges Mitglied.“ Diese Zustände hätten andere zu verantworten.

Arbeitskampf ist keine Bettelei

Weselsky macht auch kein Geheimnis daraus, dass er von bestimmten Teilen der deutschen Medienlandschaft nicht besonders viel hält. „Versteht mich nicht falsch, es gibt auch positive Beispiele. Aber eben auch einen Schmuddel-Journalismus, der Arbeitgeberthesen ungeprüft verbreitet und Gewerkschafter verunglimpft. Das ist unanständig.“ Kritisiert wurde der 64-Jährige schon, weil er Sachse ist, Dialekt redet und einen Bart hat. Vor allem aber, weil er vom Streikrecht Gebrauch macht wie wenig andere in der Republik und weil er frech genug ist, nicht einzuknicken, wenn ein neoliberaler Obrigkeits-Journalismus herumplärrt und Horrorszenarien an die Wand malt. „Ich habe da schon viel ausgehalten“, sagt Weselsky mit einigem Stolz. „Und glauben Sie mir, das werde ich auch bei diesem Streik.“

Letztlich legte die GDL ihre Arbeit doch nur für fünf Tage nieder, es ist also gerade so nicht heikel geworden. Ab dem 5. Februar soll wieder mit DB-Personalvorstand Martin Seiler verhandelt werden, mit der Absicht, bis Anfang März eine Einigung zu erzielen. Bemerkenswert ist, dass zumindest in Teilen der Presse mehr Sympathien für den Streik durchscheinen als beim Tarifkampf 2014, als Weselsky in der Publizistik die wahrscheinlich zweitverhassteste Figur nach dem griechischen Finanzminister war. „Herr Weselsky ist Gewerkschaftsführer, kein Bittsteller!“, ist hingegen kürzlich im „Stern“ zu lesen gewesen, wo dankenswerterweise darauf hingewiesen wird, dass Gehälter und Arbeitsbedingungen nicht erbettelt werden müssen. Und in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb Kathrin Werner sogar einen Kommentar mit dem Titel „Es lebe Claus Weselsky!“

Die Springer-Blätter bleiben freilich ihrer Linie treu. Wahrscheinlich um hart arbeitende Menschen gegen hart arbeitende Menschen aufzuhetzen, titelte die „Bild“-Zeitung: „Das passiert, wenn WIR sechs Tage streiken.“ Eine Kinderärztin könnte dann keine Patienten mehr behandeln, die Tiere eines Landwirts müssten hungern, ein Kanalreiniger warnt vor einer Rattenplage. Unbestritten ist, dass all diese Berufe einen wichtigen Beitrag für eine funktionierende Gesellschaft leisten – und eine angemessene Entlohnung verdient hätten. Allen Unterbezahlten und zu wenig Wertgeschätzten wäre ein Interessenvertreter wie Claus Weselsky zu wünschen.

Ein Betrieb, zwei Gewerkschaften

Bis zur Reform ab 1993 waren die Tarifverhandlung bei der Bahn an den öffentlichen Dienst angedockt. Lokführer:innen, Fahrdienstleiter:innen und Service-Personal wurden bis dahin verbeamtet und hatten kein Streikrecht. Dann erfolgte die politisch motivierte Umstellung auf eine privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft, die Deutsche Bahn AG. Dort führen nun zwei Gewerkschaften Tarifverhandlungen: die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die aus Transnet und der Verkehrsgewerkschaft GDBA hervorgegangen ist und Beschäftigte aller Berufe vertreten will, und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL).

Ab 2001 öffnete sich die GDL für das gesamte Fahrpersonal der Bahn, was der EVG keine Freudenschreie entlockte. Die GDL, seit 2008 unter dem Vorsitz von Claus Weselsky, gilt als die konfliktfreudigere der beiden Gewerkschaften. Und so hat sie mit dem Bahnkonkurrenten Abellio Anfang dieses Jahres den Einstieg in die 35-Stunden-Woche bereits ausgehandelt – ohne Streik.

Die DB AG dagegen muss per Streik zu besseren Angeboten gezwungen werden. Danny Grosshans, stellvertretender Vorsitzender der GDL Südwest, war jüngst Redner auf der 693. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 und wies darauf hin, dass die Gewerkschaft in den laufenden Tarifverhandlungen bereits Zugeständnisse gemacht habe. Als Minimalkompromiss („weniger ist nicht drin“) für Eisenbahner:innen im Schichtdienst nennt er: Erhöhung des Entgelts um zwei Mal 210 Euro für alle, zwei Mal fünf Prozent Erhöhung der Zulagen, stufenweise Absenkung der Arbeitszeit bis 2028 von 38 auf 35 Stunden pro Woche, 5-Tage-Woche mit zwei freien Tagen. Seine Rede ist hier nachzulesen. Vom 5. Februar bis 3. März wollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite nun wieder verhandeln. (min)