Fasten für eine bessere Welt?

Wider den unkritischen Kult um den Verzicht!

von Petra Kurle

Seit Aschermittwoch ist es wieder soweit: Die Fastenzeit hat begonnen. 40 Tage lang sollen sich Christen dieser Welt im Verzicht üben. Wer aber beim Thema Fasten ausschließlich an religiöse Praxis denkt, liegt falsch. So erfreut sich mittlerweile der „bewusste Verzicht“ auch in nichtreligiösen Kreisen immer größerer Beliebtheit. Betrachtet man jedoch die Möglichkeiten, welche der heutige Stand der Produktivität bietet und vergegenwärtigt sich, in welchem Maß diese für die Mehrheit der Menschen ungenutzt bleiben, kann man die heutige Gesellschaft mit Fug und Recht als eine auf Verzicht basierende bezeichnen. Eine Positionierung gerade gegen den Verzicht wäre daher viel eher von Nöten.

„Nur durch Verzicht kann die Zukunft noch gerettet werden“. Darin sind sich linksalternative KonsumkritikerInnen und konservative WirtschaftswissenschaftlerInnen einig. Immerhin leben wir in einer Überflussgesellschaft mit „wattierte(r) Nonstop-Rundumversorgung“ (Niko Peach). Wie sonst ist zu erklären, dass mehr Lebensmittel im Abfalleimer landen als verknuspert werden? Nur wer zu viel besitzt, sich also zu viel gönnt, verschwendet auch zu viel, so die konsumkritische Antwort. Wirtschaftliche und ökologische Missstände seien die Folge. Das Augenmerk liegt auf dem (un)moralischen Handeln Einzelner, strukturelle, systemisch bedingte Verschwendung gerät erst gar nicht ins Blickfeld. Der Kapitalismus als solcher bleibt unangetastet, weil nicht verstanden. Die Lösung scheint einfach: Man soll es eben nur nicht übertreiben bzw. sich mit weniger zufrieden geben.

Neben dem Hang zu einfachen Antworten bedient die zunehmende Beliebtheit des Fastens aber vor allem ein ideologisches Bedürfnis. Da der Kapitalismus, so die gängige Meinung, nur wegen menschlicher Gier nicht funktioniert, kann einem das Fasten dabei helfen, sich diese persönliche Schwäche einzugestehen und gleichzeitig ein guter Mensch zu werden, der „nicht mehr schuld ist“. Selbstredend ist es gut und vernünftig, möglichst wenig Lebensmittel wegzuwerfen. Und das tägliche Hamsterrad des „arbeiten, arbeiten, kaufen, kaufen“, in das uns die kapitalistische Verwertungslogik zwängt, schafft alles andere als eine lust- und genussreiche, befreite und humane Gesellschaft. Doch wenn Erzbischof Becker anlässlich der letztjährigen Fastenzeit meinte „Manchmal erkennen wir erst dann, wenn wir auf eine Sache ausdrücklich verzichten, wie ‚gefangen‘ uns dieses oder jenes hält: beispielsweise bestimmte Speisen und Getränke, aber auch übermäßiger Fernseh- oder Internetkonsum oder ganz einfach das unkontrollierte Ausgeben von Geld mit der Absicht, alles und jedes haben zu wollen“, so ging es ihm weder um ein lust- und genussreiches Leben für alle Menschen noch um die Kritik an Verhältnissen, die dies verhindern. Es ging ihm um den Kern seines religiösen Geschäfts: den Menschen ihre Sünden vorhalten und sie zum demütigen Büßen anhalten. Dass es speziell beim christlichen Fastenkult noch nie um etwas anderes ging, wird schon daran ersichtlich, dass ihn die Kirche schon immer allen Menschen und unter allen Umständen angepriesen hat, egal, ob sie reich oder arm sind, ob gerade Krise herrscht oder nicht. Ihr eigentliches Motiv verriet erst kürzlich wieder Papst Franziskus, der seine Anhänger anlässlich der Fastenzeit 2014 wie folgt aufklärte: „Vergessen wir nicht, dass wahre Armut schmerzt: Ein Verzicht, der diesen Aspekt der Buße nicht einschließt, wäre bedeutungslos. Ich misstraue dem Almosen, das nichts kostet und nicht schmerzt. … Wenn Jesus uns dazu aufruft, sein ‚leichtes Joch‘ auf uns zu nehmen, dann fordert er uns damit auf, uns mit dieser seiner ‚reichen Armut‘ und seinem ‚armen Reichtum‘ zu bereichern…“ Und um auch ja nicht missverstanden zu werden, fügte er hinzu, dass es „nur ein einziges wahres Elend gibt: nicht als Kinder Gottes und als Brüder und Schwestern Christi zu leben“. Auch Jesus wusste: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“ (Mt 19,24; Mk 10,25; Lk 18,25). Nicht Lebenslust, Genuss und Freude werden hier propagiert, sondern Leid und Armut auf ekelhafte Weise verklärt.

Doch die Vorstellung, dass „der Mensch an sich“ schlecht sei und reumütige Buße tun müsse, ist auch in säkularisierter Form weit verbreitet. Sie findet Genugtuung und Selbstbestätigung im „konsumkritischen“ Plastik-Fasten, Auto-Fasten, Verpackungs-Fasten, Billigklamotten-Fasten oder welches persönliche, verschwenderische und schädliche Verhalten einem eben gerade einfällt. Und so freut Mann/Frau sich so auch riesig darüber, dass neuerdings in den Drogeriemärkten auch kleine Plastiktüten Geld kosten. Doch grundsätzlich und für sich genommen durchaus sympathische Handlungen, die von einer Verzichts- und Demutsideologie getrieben sind, haben eher schädliche Wirkung. Sie kratzen nur an der Oberfläche, sprechen „den Menschen“ schuldig und lassen das „große Ganze“ der kapitalistischen Verwertungszwänge außer Acht. Man könnte daher von einer Art Ablasshandel in religiösen wie auch in nichtreligiösen Kreisen sprechen. Immerhin setzt Mann/Frau sich doch kritisch mit sich und seiner/ihrer Umwelt auseinander und beruhigt damit sein/ihr schlechtes Gewissen. Schließlich, so die dem zugrundeliegende Überzeugung, lebten „wir alle“ doch „über unsere Verhältnisse“.

Dabei wäre eine Welt ohne Mangel, Leid und Armut doch nicht nur weitaus wünschenswerter, sie wäre auch machbar. Genau genommen wird gerade heute überall Verzicht geübt, obwohl dies bei sinnvoller Organisation der Gesellschaft überhaupt nicht nötig wäre. Millionen Menschen sterben jährlich an erzwungenem Fasten, also an Hunger. Versuchen sie dem Hungertod durch Flucht zu entgehen, endet dies nicht selten mit dem Ertrinken, beispielsweise vor Europas Küste. Weltweit müssen Menschen massenhaft auf angemessene medizinische Versorgung verzichten (und das in besonders drastischer Weise, siehe Griechenland, auch in der EU). In den noch wohlhabenden Zentren kapitalistischer Verwertung verzichten Lohnarbeiter mangels Arbeitszeitverkürzung immer mehr auf frei verfügbare Zeit oder üben Lohnverzicht. Arbeitslose sind sowieso mangels Kaufkraft zum Verzicht gezwungen. Und das liegt eben nicht daran, dass wieder das Brot im Brotkasten verschimmelt oder Mensch zu „gierig“ ist, sondern daran, dass im Kapitalismus nur kaufkräftige Bedürfnisse befriedigt werden. Da mag die Produktivkraftentwicklung noch so viel Chancen auf ein gutes Leben für alle Menschen bereithalten, die fortwährende Produktion „abstrakten Reichtums“ bleibt das Allerheiligste des Kapitalismus. Wenn Lebensmittel nun einmal nur eine gewisse Haltbarkeit besitzen, es aber wirtschaftlich sinnvoller ist, zu viel davon zu produzieren, als Gefahr zu laufen, kaufkräftige Nachfrage nicht bedienen zu können, liegt die hauptsächliche Ursache der heutigen Lebensmittelverschwendung nun einmal nicht bei den „schlechten Menschen“.

Eine am guten Leben für alle orientierte Gesellschaft, die den technischen Fortschritt sinnvoll nutzt, könnte den Verzicht auf ein Minimum reduzieren und den Ressourcenverbrauch ökologisch verträglich gestalten. Dies alles wäre heute möglich – ohne Berufung auf höhere Wesen, ohne Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft und ohne Sünden- und Leidenskult. Das enorme Potential des wissenschaftlich-technischen Fortschritts kann ein gutes Leben für alle Menschen ermöglichen. Vorausgesetzt, wir scheren uns nicht mehr um das Allerheiligste des Kapitalismus. Wer jedoch, wie der Papst, darauf hofft, wir mögen „der teuflischen Versuchung widerstehen, die uns glauben macht, wir könnten uns selbst und die Welt ganz alleine retten“, dessen Ziel ist nicht eine bessere Welt, sondern die Selbstkasteiung des Menschen. Es ist das alte Spiel von Schuld, Unterwerfung und Vergebung, das da gespielt wird – gleich, ob im Bischofsornat oder in Birkenstock-Latschen.