Mit Plan oder im Chaos?

Vielleicht braucht es ein Fukushima für den Verkehr

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 640 am 5. Juli 2023)

Stephan Krull wünscht sich eine Halbierung der Menge an Autos in Deutschland. Denn eine Verkehrswende müsse viel grundlegender ansetzen als beim Austausch von Verbrennungsmotoren durch elektrische Antriebe, sagt der Ex-VW-Betriebsrat.

Er ist das erste Mal in Schwäbisch Hall, erzählt Stephan Krull, und eigentlich hätte er sich die Stadt gerne genauer angeschaut. Dafür blieb ihm keine Gelegenheit. Seinen Plan, schon gegen Mittag anzukommen, vereitelte die Deutsche Bahn. Mit vielen Stunden Verspätung und nach hochkomplizierten Umleitungen hat es der Gewerkschafter aus Hamburg gerade noch rechtzeitig zu seinem Vortrag geschafft. Der startet um 20 Uhr im Club Alpha 60 und die Ereignisse rund um Krulls Ankunft passen gut zu den Inhalten, die er vorträgt: „Solche Reisen zeigen, warum eine Verkehrswende nötig ist.“

Krull war 16 Jahre lang Betriebsrat bei VW und im Vorstand der IG-Metall-Geschäftsstelle Wolfsburg. Er ist also bestens vertraut mit den Mechanismen der Interessenvertretung für Beschäftigte, hat daran mitgewirkt, bei VW 6-Stunden-Schichten einzuführen und sagt über die Bedürfnisse der Arbeiterschaft, dass es im wesentlichen darum gehe, sich selbst und seinen Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Was laut Krull auch eine gewisse Offenheit für Umweltschutz bedeute, teils Einsicht in die Notwendigkeit einer ökologischen Transformation – aber eben auch und vielleicht sogar vor allem: Sichere Beschäftigung, die materiell keine Einbußen zum Ist-Zustand bedeute.

Das Konfliktfeld, das Krull an diesem Abend beleuchtet: Eine gewaltige Industrie mit ungewisser Zukunft, von der etliche Existenzen abhängen. Allein die „Big Three“, also VW, Daimler und BMW kamen 2022 auf einen Jahresumsatz von 570 Milliarden Euro, in der Bundesrepublik hängen 460.000 Arbeitsplätze direkt von den Autoproduzenten ab, hinzu kommen weitere 310.000 bei den Zulieferbetrieben. Diese Größenordnungen hindern den Gewerkschafter aber nicht daran zu betonen, dass eine Verkehrswende nicht nur eine Antriebswende seien dürfe: „Das Auto ist ein Anachronismus, zumindest so, wie wir es heute kennen.“

„Harte Brüche, die ich mir kaum ausmalen will“

Wegen der immensen Ineffizienz würde Krull zufolge „kein Unternehmer der Welt“ seine Maschinen 23 Stunden am Tag still stehen lassen. Das Durchschnittsauto in Deutschland würde aber nur eine Stunde lang genutzt und sogar dann blieben die meisten Sitzplätze leer (nach Angaben des Umweltbundesamtes fahren statistisch 1,42 Personen je Pkw mit). Er sieht also eigentlich gar keinen Bedarf für die 55 Millionen Autos, die gegenwärtig auf den Straßen der Bundesrepublik verkehren. Teilen würde vieles leichter machen. Und: „Es müssen einfach weniger Autos werden“, sagt Krull – und da helfe auch kein Umstieg auf elektrische Antriebe. Er rechnet vor: Gemessen am aktuellen Durchschnittsverbrauch würden nur zehn Millionen E-Autos in Deutschland etwa zehn Prozent des gesamten Energiebedarfs verschlingen. Während erst im vergangenen Winter über Energieknappheit bis hin zum angeblich drohenden Blackout diskutiert wurde, und der Ausbau der Erneuerbaren noch immer viel zu schleppend vorangeht.

Daher würde sich Krull freuen, wenn sich mehr Machthaber:innen für eine zügige Halbierung der Automenge aussprechen würden. Sein Eindruck aber ist: Die Politik meint es nicht ernst mit der Verkehrswende. Die Unternehmen wollen eine Verkehrswende nur dort, wo sie ihre Profite nicht bedroht. Und die Rolle der Gewerkschaften ist ambivalent. Allerdings habe sich bei der Beschäftigtensicht in den vergangenen Jahren viel getan, meint Krull. So wären viele Menschen früher mordsmäßig stolz gewesen, beim Daimler zu schaffen. Heute sei dieser Produzentenstolz nicht mehr so verbreitet, seit dem Abgasskandal würden einige in den Werken sogar Scham empfinden, in aller Regel ohne ihr Wissen an diesem Betrug mitgewirkt zu haben.

„Insofern“, sagt Krull, „könnten sich viele gut vorstellen, woanders zu arbeiten. Der Lohn muss dann halt auch stimmen, das ist ein Knackpunkt.“ Dennoch plädiert er entschieden dafür, die Konversion der Autoproduktion jetzt anzugehen. Denn mit Blick auf die Zukunft „drohen harte Brüche, die ich mir heute kaum ausmalen will“. Ihm zufolge gebe es nur zwei Optionen: Entweder einen strukturierten nachhaltigen Umbau der Industrie hin zu einer weniger individuellen Mobilität und mehr öffentlichem Verkehr – oder eine Transformation vorangetrieben durch Chaos und Desaster, wenn der Klimawandel noch stärker eskaliert, geopolitische Spannungen weiter zunehmen und das China-Geschäft deutscher Hersteller vielleicht nicht mehr ganz so golden läuft wie in den vergangenen Jahren.


Vielleicht braucht es ein Fukushima für den Verkehr

Aktuell spricht viel für die Desaster-Variante. „Die Regierung hält ihre Klimaschutzgesetze nicht ein, das Bundesverfassungsgericht fordert auf, nachzubessern, aber die Regierung hält sich nicht daran.“ So befreite das Kanzleramt etwa Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) in diesem April von der Pflicht, ein Sofortprogramm mit Maßnahmen vorzulegen, wie die Ziele zur Treibhausgas-Reduktion im Verkehrssektor erreicht werden sollen. Nachdem diese im vergangenen Jahr wieder einmal verfehlt wurden.

Trotz düsterer Rahmenbedingungen bleibt Krull einigermaßen zuversichtlich. „Für den Atomausstieg hat es erst Fukushima gebraucht“, vielleicht brauche es für die Verkehrswende erst noch eine vergleichbare Katastrophe. Aber er verweist darauf, dass der Kohleausstieg vorangetrieben werde, obwohl auch von dieser Branche etliche Arbeitsplätze abhingen. Und er betont, dass mit einer Wende von der Pkw-Produktion hin zu mehr Bussen und Bahnen auch im ländlichen Raum so viele neue Jobs entstehen könnten, dass sie den Verlust an anderer Stelle vielleicht sogar überkompensieren. Im Sammelband „Spurwechsel. Konzepte für eine neue Mobilität“, an dem Krull mitgewirkt hat, hätten sie das durchgerechnet.

Eine Idee, die er ausführt: Mit den vielen Subventionen für die großen Autobauer ließe sich seiner Meinung nach Sinnvolleres anstellen. Etwa indem mit massiver staatlicher Unterstützung nachhaltige Produktionsanlagen für Busse und Bahnen aufgebaut werden, zum Beispiel in strukturschwachen Räumen wie Stendal oder Dessau.

Wichtigste Voraussetzung für eine nachhaltigere Verkehrspolitik sei allerdings ein gesellschaftlicher Konsens, dass weniger Autos besser sind als mehr. Und da wird es happig: Nicht nur lieben viele Deutsche ihre Blechkisten. Es wird auch nicht ganz klar, wie die Gesellschaft von diesem Konsens überzeugt werden soll. Bei der Veranstaltung in Schwäbisch Hall wurde gut diskutiert. Der Andrang aber war sehr überschaubar. Kooperiert haben die Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg, der AK Debatte des Club Alpha 60, die IG Metall Schwäbisch Hall, der DGB Schwäbisch Hall, die Naturfreunde Schwäbisch Hall und das Netzwerk Ökosozialismus. Pro Mitveranstalter sind rechnerisch etwa drei Personen erschienen, ein junger Mensch wurde im fast ausschließlich männlichen Publikum nicht gesichtet.


Epilog: Die Bahn schlägt wieder zu

Die Rückfahrt nach Stuttgart führt über Heilbronn, und die knapp bemessene Umstiegszeit von nur fünf Minuten trieb mir, dem Autor, bereits im Vorfeld die Schweißperlen auf die Stirn. Zumal es sich um die letzte Verbindung des Tages handelte, der nächste Zug nach Stuttgart würde erst in den frühen Morgenstunden fahren. Eine etwas zu gutherzige Kollegin hatte mich im Vorfeld zu beschwichtigen versucht: Bei der letzten Verbindung würde der Zug im Fall einer Verspätung ganz bestimmt warten.

Hat er nicht. Der Zug, in dem ich sitze, kommt um 23:58 Uhr in Heilbronn an. Der Zug, in dem ich gerne sitzen würde, ist um 23:57 Uhr abgefahren. Die eine Minute Wartezeit war der Bahn zu viel, womöglich aus Stolz, dass endlich mal eine Verbindung pünktlich ist. Und so muss der hochverschuldete Konzern, wie es in solchen Fällen geregelt ist, die Kosten für die einzige Alternative, um zu dieser Zeit noch heim nach Stuttgart zu kommen, übernehmen. Nämlich 120 Euro für ein Taxi.

Während der Taxifahrer weit nach Mitternacht mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Straßen rast, lerne ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich zu schätzen, dass es auf deutschen Autobahnen kein Tempolimit gibt – und denke nun, im Alter von 28 Jahren, darüber nach, vielleicht doch noch einen Führerschein zu machen. Für die Verkehrswende ist es nicht gut, dass die Bahn immer schlechter wird.