Radikal, Was sonst?

Proteste für Sozialpolitik und Klimaschutz müssen Druck auf die Regierung sowie Konzerne ausüben und den Rechten die Tour vermasseln.

Kommentar von Lothar Galow-Bergemann

erschienen in Jungle World 32/2022 vom 11. August 2022

Dass sich eine Krise von ungekannter Größenordnung zusammenbraut, pfeifen die sprichwörtlichen Spatzen von den Dächern. Angst vor Inflation, kalten Wohnungen, sinkendem Lebensstandard und Verlust des Arbeitsplatzes greift um sich. Sie fällt auf einen Nährboden, der seit Jahren gut bereitet wurde. Schon heutzutage sind dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zufolge etwa 13,8 Millionen Menschen in Deutschland arm; sie haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Im nächsten Herbst und Winter dürfte so ziemlich alles zusammenkommen: Wut, Angst, Verzweiflung, Kriegsfurcht sowie Armut. Und die nächste Coronawelle steht auch noch an.

Angesichts dessen bietet die Ampelkoalition ein äußerst schlechtes Bild. Während große staatliche Ausgabenprogramme für Soziales und Klimaschutz nötig wären, hält sie das desaströse Regime der sogenannten Schuldenbremse hoch. Während die Profitraten von Energie- und Rüstungskonzernen in die Höhe schießen, kann sie sich noch nicht einmal auf eine Übergewinnsteuer einigen, mit der wenigstens einiges Dringendes zu refinanzieren wäre. Anstatt die gestiegenen Energiepreise mit staatlichen Zuschüssen an die Unternehmen zu begleiten, plant sie eine sogenannte Gasumlage, die den Endverbraucherinnen und -verbrauchern im Herbst exorbitante Rechnungen ins Haus flattern lassen und die verständliche Empörung weiter anheizen dürfte.

Breite gesellschaftliche Krisenproteste für vernünftige klima- und sozialpolitische Forderungen sind das Gebot der Stunde. Gelingt es nicht, sie zu initiieren, könnte sich eine hochgefährliche Dynamik entwickeln. Denn Rechte und Faschisten wittern die Chance, den »Volkszorn« in ihrem Sinne zu lenken und ihre Umsturzpläne voranzutreiben. Beobachtet man die Debatten in der AfD und einschlägigen Kanälen, spürt man, dass sie ihre Stunde gekommen wähnen. Schließlich hat sich in der Migrationskrise und der Covid-19-Pandemie gezeigt, wie anfällig große Teile der Bevölkerung für Verschwörungserzählungen und platte Parolen sind.

Die Lage hat auch eine brisante internationale Dimension, die nicht von der innenpolitischen zu trennen ist. Der russische Präsident Wladimir Putin sowie seine Freunde und Versteher haben derzeit leichtes Spiel: Man müsse nur die Pipeline Nord Stream 2 in Betrieb nehmen, die Ukraine vergessen und die Sanktionen gegen Russland aufheben, dann werde schon alles wieder gut, heißt es. Ob der AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer oder Linkspartei-Ikone Sahra Wagenknecht – je näher die kalte Jahreszeit rückt, umso lauter wird diese schlichte Botschaft verkündet. Und umso besser kommt sie an. Die Unterstützung für die Ukraine bröckelt bereits, obwohl es noch warm in den Wohnzimmern ist.

Doch nicht das Ende der Sanktionen ist zu fordern, sondern das Ende der »Schuldenbremse«. Und dazu eine Deckelung der Energiepreise und eine strengere Regulierung der Mieten, ein Verbot von Gas- und Stromsperren, die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um mindestens 50 Prozent sowie ein kostenloser ÖPNV. Mit der Vergesellschaftung von Gesundheitswesen und Energieversorgung müssen Konsequenzen aus dem Totalversagen des Markts gezogen werden. Der Energieverbrauch ist konträr zur herrschenden Debatte zu thematisieren. Wie abwegig die wachsende Unterstützung für eine Laufzeitverlängerung bei den Atomkraftwerken ist, demonstriert Putins Drohung mit dem atomaren Super-Gau in ukrainischen Reaktoren.

Und wie viel Energie verbraucht eine Produktionsweise, die die Welt mit Bergen von Plastik, Autos und Schnickschnack ruiniert? Was der Klimaschutz sowieso verlangt, machen der Krieg und seine Folgen noch drängender. Daimler, VW, BASF et al. müssen dauerhaft die Produktion drosseln und nach vernünftigen Kriterien organisieren. Und damit das nicht die Lohnabhängigen trifft, ist kurzfristig massenhaftes Kurzarbeitergeld zu fordern.

Selbstverständlich würde all das auch die Staatsverschuldung in die Höhe treiben. Ja, und? Wer eine soziale, ökologische und politische Katastrophe verhindern will, muss sowieso mit der kapitalistischen Logik und ihrem Denken von der »Finanzierbarkeit« brechen.