Hartz IV heißt bald Bürgergeld
Von Minh Schredle
(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 599 am 21. September 2022)
Mit hanebüchenen Behauptungen über Hartz IV hetzen Medien wie die “Bild”-Zeitung die Armen gegen die Ärmsten auf. Auch das neue Bürgergeld ändert nichts daran, dass Erwerbslose einem zynischen Disziplinierungs- und Zwangssystem ausgesetzt bleiben, das schikaniert statt zu helfen.
Arbeitsethos und Armutsverachtung haben hierzulande eine lange Tradition. Ein mustergültiges Exempel findet sich in den “Reden an die deutsche Nation”. In dem 1808 erschienenen Werk belehrt der Philosoph und Erzieher Johann Gottlieb Fichte: “Man erkundige sich nur näher nach den Personen, die durch ehrloses Betragen sich auszeichnen! Immer wird man finden, dass sie nicht arbeiten gelernt haben oder die Arbeit scheuen.” Bei anderer Gelegenheit formulierte Fichte die Blaupause für einen neoliberalen Glaubenssatz. “Jeder muss von seiner Arbeit leben können, heißt der aufgestellte Grundsatz. Das Lebenkönnen ist sonach durch die Arbeit bedingt, und es gibt kein solches Recht, wo die Bedingung nicht erfüllt worden.” In geistiger Kontinuität dazu verteidigte der ehemalige Bundesarbeits- und -sozialminister Franz Müntefering (SPD) die Hartz-IV-Reformen 2006 gegen interne Kritik seiner Partei auf einer Fraktionssitzung: “Wer arbeitet, soll etwas zu essen haben, wer nicht arbeitet, braucht nichts zu essen.”
Dass die Drohung durchaus ernst gemeint war, zeigte die Sanktionspraxis gegen Erwerbslose, durch die existenzsichernde Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher:innen 14 Jahre lang auf Null gekürzt werden konnten – ehe das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 5. November 2021 feststellte, dass sich ein solches Vorgehen nicht mit dem Grundgesetz vereinen lässt.
Zwar billigten die Richter:innen in Karlsruhe, dass der Gesetzgeber “erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen” könne. Bei Kürzungen “existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen”. Unverhältnismäßig erschienen dem Gericht daher Sanktionen, die den als Grundsicherung konzipierten Regelsatz um mehr als 30 Prozent reduzierten. Zudem bemängelten die Richter:innen, dass zum Zeitpunkt des Urteils keine wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit der Sanktionspraxis vorlag.
Sanktionen wirken – aber nicht wie beabsichtigt
Auch ohne wissenschaftlich gestützte Erkenntnisse war das Bundesverfassungsgericht allerdings überzeugt: Eine “Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen”, da sich der Gesetzgeber auf die plausible Annahme “einer abschreckenden ex ante-Wirkung” (also Vorab-Wirkung) stützen könne. Doch nicht immer ist das Bauchgefühl berechtigt. So wurde am 12. September dieses Jahres die erste und bislang einzige Studie zum Effekt der Hartz-IV-Kürzungen präsentiert. “Sanktionen haben eine Wirkung”, kommentiert Helena Steinhaus das Ergebnis, “aber nicht die beabsichtigte.”
Der Verein Sanktionsfrei, dem die Sozialaktivistin Steinhaus vorsitzt, hat das Berliner Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung mit der Untersuchung “HartzPlus” beauftragt. Über den Zeitraum von drei Jahren, von Februar 2019 bis Februar 2022, wurden die 585 an der Studie teilnehmenden Hartz-IV-Bezieher:innen in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine bekam zugesagt, bei allen Sanktionen einen bedingungslosen finanziellen Ausgleich aus der Vereinskasse von Sanktionsfrei zu erhalten; die andere erhielt keinerlei Kompensation. Im Ergebnis sei laut Steinhaus festzustellen, dass Sanktionen “keinen positiven Effekt auf die Kooperationsbereitschaft” hätten, dass sie nicht dabei helfen würden, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, sondern “im Gegenteil: Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung”. Allein die Androhung, das Existenzminimum zu kürzen, “verstärkt bei den Betroffenen ein Gefühl von Ausweglosigkeit und Isolation und kann auch Krankheiten verursachen”.
Eine anonymisierte Person, die an der Studie teilgenommen hat, schildert ihre Erlebnisse: “Mir geht es nicht gut mit dem Druck, der vom Jobcenter ausgeübt wird, mit den Drohungen, die da auch teilweise kommen, mir geht es mit alledem überhaupt nicht gut. Und, ich versuche das mit psychotherapeutischer Hilfe aufzufangen.” Zwar gibt es auch Hartz-IV-Bezieher:innen, die die Arbeit der Job-Center als Hilfe empfinden. Allerdings berichten die befragten Personen laut Studie “häufiger über einschränkende als über unterstützende Erfahrungen” und dass sie sich der Behörde “in hohem Maße ausgeliefert” fühlen würden. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss: “Das psychosoziale Wohlbefinden wird durch das System ‘Hartz IV’ beeinträchtigt und das ganz unabhängig davon, ob Sanktionen erfolgen oder diese finanziell ausgeglichen werden.”
“Tiefschwarze Rohrstockpädagogik”
Vor dem Hintergrund von Sanktionen, die ihr Ziel einer Wiedereingliederung in die Arbeitswelt verfehlen, erscheint der Umgang mit Erwerbslosen in der Bundesrepublik weniger als Unterstützung denn als Schikane. Kürzungen des Existenzminimums bezeichnet Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, als “tiefschwarze Rohrstockpädagogik”, die abgeschafft gehöre. Der Soziallobbyist hatte vor dem Kabinettsbeschluss der Bundesregierung zum Bürgergeld betont, es gehe “ganz grundsätzlich um die Frage, wie geht diese Gesellschaft, dieser ungeheuer reiche Staat, mit seinen Ärmsten um”. Und dabei müsse klar sein: “Wenn die Bundesregierung jetzt beim Label Bürgergeld zu kurz springt, werden für viele Jahre alle Chancen vertan sein, zu einer echten Reform zu kommen.”
Die inzwischen bekannt gewordenen Eckpunkte zum Bürgergeld zeigen, dass die Gelegenheit zu einem wesentlich menschlicheren Umgang mit Erwerbslosen und armen Menschen ungenutzt blieb. Statt der bisherigen 449 Euro pro Monat für Alleinlebende soll es 502 Euro geben. Laut Schneider müssten es schon jetzt 678 Euro sein, um menschenwürdig an der Gesellschaft teilhaben zu können. Und nun? Abgesehen von ein paar kosmetischen Korrekturen handelt es sich bei der aktuellen “Reform” von Hartz-IV nur um die Umbenennung eines zynischen Disziplinierungs- und Zwangssystems. Die Sanktionspraxis soll dabei geringfügig entschärft werden, im Prinzip wird aber daran festgehalten – auch wenn sich die SPD laut “Tagesschau” erhofft: In der Vertrauenszeit, also den ersten sechs Monaten der Leistungsbezüge, “sollen Sanktionen aber wirklich die Ausnahme bleiben”.
Allein, dass bis zum Jahresende und dem Inkrafttreten des Bürgergelds die Hartz-IV-Sanktionen vorübergehend ausgesetzt werden, sorgt mitunter für große Empörung und allerlei Hobbypädagogen schalten sich in die Debatte ein. Zum Beispiel Ulrich Walwei. Er ist Vize-Direktor des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (eine Dienststelle der Arbeitsagentur) und bemängelt laut “Focus online”, mit der “sanktionsfreien Zahlung von Leistungen würden sämtliche Arbeits- und Bildungsanreize ‘verloren gehen'”. Eine Jobcenter-Mitarbeiterin spricht im Interview mit der “Süddeutschen Zeitung” von einer “Katastrophe”, weil sie befürchtet, dass “uns die Hartz-IV-Empfänger bald auf dem Kopf herumtanzen”. Und die “Bild”-Zeitung tut, was sie am liebsten tut – sie spielt die Armen gegen die noch Ärmeren aus: Unter dem Titel “Wer arbeitet, ist künftig der Dumme” präsentiert sie eine hanebüchene Milchmädchenrechnung, die belegen soll, warum sich sich das Aufstehen für einen Berliner Maler künftig “NICHT mehr” lohnt (der medienkritische “Bildblog” hat den Fall umfangreich aufgearbeitet und gegengerechnet).
Dem Bild des faulen Schmarotzers, der sich mit Bierdosen bewaffnet den Arsch auf dem Sofa fett sitzt, steht in der Realität das von Menschen entgegen, die für ihre Lebensumstände meist tiefe Scham empfinden und gerne wieder arbeiten würden. Wie Soziallobbyist Schneider betont, würden bei aktuell 47 Prozent der Hartz-IV-Bezieher:innen die Einnahmen nicht die Ausgaben decken, das Loch in der Kasse müssten sie beispielsweise mit Essensspenden überbrücken. Die Tafeln berichten, wie der Andrang immer größer wird. Und der wissenschaftliche Beirat des Landwirtschaftsministeriums schreibt in einem Gutachten von 2020 sogar explizit: “Die derzeitige Grundsicherung reicht ohne weitere Unterstützungsressourcen nicht aus, um eine gesundheitsförderliche Ernährung zu realisieren.” Und weiter: “Auch in Deutschland gibt es armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger.”
Geflüchtete und Armutsrentner:innen mit einbezogen sind es insgesamt um die sieben Millionen Menschen in der Bundesrepublik, die vom Staat Bezüge für eine “soziale Grundsicherung” erhalten. Ulrich Schneider kritisiert dabei die Berechnungsgrundlage, mit der die Regelbedarfe ermittelt werden. Als Maßstab gelten die Ausgaben der einkommensärmsten 15 Prozent, von denen schließlich alles abgezogen wird, was der Gesetzgeber als “nicht regelbedarfsrelevant, da nicht der Existenzsicherung dienend” definiert. Kein Geld gibt es zum Beispiel für Zimmerpflanzen, Schnittblumen, Haustiere, Gartenpfege, Tabakwaren, Restaurantbesuche, Eisdielen, Imbissbuden, Lieferservice, Tabakwaren oder alkoholische Getränke, die in der Berechnung – man beachte die Wortwahl des Gesetzestextes – pauschal durch Mineralwasser “substituiert” werden.
Der Klassenkampf von oben
Während die mit großer Anstrengung kleingerechneten Regelsätze an und für sich knapp bemessen sind, erhöht sich der Druck aktuell massiv. Denn die Stromkosten müssen von Bezieher:innen der Grundsicherung selbst gestemmt werden, die aktuellen Preissteigerungsraten sind im aktuellen Regelsatz nicht berücksichtigt und die Agentur für Arbeit betont klipp und klar: “Bitte beachten Sie, dass das Jobcenter keine Nachzahlungen für Strom übernimmt.” Und auch “eine Flatrate zum Heizen für Bedürftige – wie derzeit häufig kolportiert –, die gibt es gar nicht”, informiert “Zeit online”. Denn auch bei den vom Jobcenter übernommenen Heizkosten gibt es eine Obergrenze, die sich nicht am Verbrauch, sondern allein an den Kosten orientiert.
Mitten in der Klimakrise erwirtschaften fossile Unternehmen Milliardengewinne, während Zusatzkosten für verteuerte Gasimporte auf eine angeschlagene Bevölkerung abgewälzt werden. Die Republik befindet sich auf direktem Weg in die soziale Katastrophe.
Wer als hart arbeitender Mensch im Niedriglohnsektor gerade so viel verdient, dass er oder sie keine Sozialleistungen erhält, wer durch dramatisch steigende Inflation und Mietpreisexplosionen zunehmend unter Druck gerät, ärgert sich womöglich über seine Steuerlast und erwerbslose Sozialhilfe-Empfänger:innen. Doch dabei sollte nicht aus dem Blick geraten, dass schon seit geraumer Zeit ein brutaler Klassenkampf von oben stattfindet.
Seit Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, gab es nicht eine Steuerreform, die zu Lasten der Reichen ausgefallen wäre: Der Staat verzichtet auf eine Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer ist eine Lachnummer, Einnahmen aus Kapitalerträgen werden niedriger besteuert als echte Arbeit. Der soziale Wohnungsbau wurde zugunsten privater Renditen auf dem Immobilienmarkt aufgegeben. Die Daseinsvorsorge bei der Alten- und Krankenpflege ist eine Investitionsoption, bei der zweistellige Renditen winken, wobei die Betreuungsqualität massiv unter der Profitlogik leidet. Und während Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) das Land für den “besten Niedriglohnsektor” Europas lobt, immer größere Bevölkerungsteile sich keine Ersparnisse mehr leisten können, unter großer Anstrengung auf die Altersarmut hinarbeiten und Vollzeitbeschäftigung längst kein Garant mehr ist, nicht im Elend zu verenden, kann sich die Börsenwelt – Corona-Krise und Ukraine-Krieg hin oder her – über einen krassen Rekord freuen: “Nach zwei Jahren Pandemie wollen börsennotierte Unternehmen so viel Geld an Aktionäre ausschütten wie nie: insgesamt 50 Prozent mehr als im Vorjahr”, berichtet aktuell die “Tagesschau”. Das bedeutet, es fließen 70 Milliarden Euro als Dividende, um die große Leistung zu honorieren, Aktien zu besitzen.
Minh Schredle ist Redakteur der Kontext: Wochenzeitung und schreibt u.a. für Jungle World und Emanzipation und Frieden