Wie im Kapitalismus

Das Konzept der Arbeitszeitrechnung stellt keine Alternative zum Kapitalismus dar

In einer nach dem Konzept der Arbeitszeitrechnung organisierten Gesellschaft bliebe der Austausch von Arbeitsleistungen das zentrale Prinzip der gesellschaftlichen Vermittlung. Einen Ausweg aus den Zwängen der warenproduzierenden Gesellschaft böte das nicht.

von Julian Bierwirth

(zuerst erschienen in Jungle World vom 22.6.2023)

Mit der verstärkten Hinwendung zur Ökonomiekritik in linken Debatten rückt auch die Frage, wie eine postkapitalistische Gesellschaft organisiert sein könnte, wieder in den Mittelpunkt. Felix Klopotek, Christian Hofmann und Philip Broistedt haben das Konzept einer Arbeitszeitrechnung (AZR) ins Gespräch gebracht, das die Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) vorgelegt hatte. Das Modell, das 1930 in der Schrift »Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung« dargestellt wurde, erweist sich jedoch als kaum geeignet, um vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Situation und heutiger linker Kämpfe eine emanzipatorische Perspektive zu skizzieren.

Es ist ein zentrales Charakteristikum des Kapitalismus, dass er die Menschen voneinander trennt und sie als »vereinzelte Individuen« (Marx) ihr Überleben sichern müssen. Daraus ergibt sich der merkwürdige Widerspruch, dass die Menschen sich vergesellschaften, indem sie ihre privaten Interessen verfolgen. Sie tun das aber, indem sie ihre privaten Arbeitsprodukte als Waren miteinander in Beziehung setzen. Aus diesem Grund kommt der Arbeit eine so zentrale Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft zu: Sie ist das Prinzip der gesellschaftlichen Vermittlung.

Auf diesen Umstand weisen auch Broistedt und Hofmann hin. Für sie liegt das Problem jedoch lediglich darin, dass die Menschen die Erzeugnisse ihrer Privatarbeiten »auf dem Markt« austauschen müssen. Die Vermittlung über die Arbeit halten sie, ebenso wie Felix Klopotek, für selbstverständlich. Sie möchten »die verschiedenen Arbeiten nicht vermittelt über Markt und Geld in Beziehung« setzen, »sondern durch den unmittelbaren Maßstab der geleisteten Arbeitszeit«. Die historisch-spezifische gesellschaftliche Beziehungsform, die für den Kapitalismus grundlegend ist, soll also gerade nicht abgeschafft, sondern noch einmal (praktisch wie ideologisch) bestärkt werden.

Dass die GIK auf diese Idee verfallen ist, ist wenig verwunderlich. Auch die Arbeiter:innenbewegung, der sie entstammte, hatte sich ganz überwiegend nicht gegen das Prinzip der Arbeit gewandt, sondern dieses sogar zum Standpunkt der Emanzipation erklärt. Am Kapitalismus wurde gerade kritisiert, dass er die »Religion der Arbeit« (Paul Lafargue) nicht ernst genug nehme, weil die bürgerliche Klasse auf Kosten des Proletariats lebe. »Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein«, schreibt Lenin in »Staat und Revolution« über den Sozialismus. In diesem Fahrwasser schwimmt auch die GIK.

Doch die Vorstellung der GIK war nicht nur aus ideologischen Gründen naheliegend. Sie entsprach auch den materiellen Grundlagen der seinerzeitigen kapitalistischen Produktionsweise. Diese beruhte tatsächlich großenteils noch auf der Verausgabung unmittelbarer Arbeit am einzelnen Produkt. Heutzutage hingegen hat man es mit einer völlig anderen Situation zu tun. Mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung der Produktion kam es zu einer Neuzusammensetzung der gesellschaftlichen Arbeit. Die Anwendung des Wissens auf die Produktion und die allgemeinen Arbeiten stehen heutzutage im Vordergrund; die Vorstellung einer exakten Zurechenbarkeit von Arbeitsleistungen auf einzelne Produkte ist daher auch praktisch längst vom Kapitalismus überholt.

Mit der Arbeitszeitrechnung sollen die Menschen die Normen, denen sie sich unterwerfen sollen, zuvor miteinander aushandeln und das Maß der kollektiven Selbstunterwerfung demokratisch beschließen. Darauf verweisen auch Unternehmensstrategien, die seit den achtziger Jahren entwickelt wurden. Weil in den Betrieben die Arbeitsbereiche wuchsen, die nicht mehr direkt den je einzelnen produzierten Waren zugerechnet werden konnten (IT-Abteilungen, Marketing, interne Dienstleitungen, betriebliche Infrastruktur, Fort- und Weiterbildung etc.), wurde das bisher gültige Prinzip der Leistungsmessung untergraben. Um dem entgegenzuwirken, wurden sogenannte Profitcenter gegründet, um den einzelnen Betriebsteilen »Eigenverantwortung« im Sinne der betriebswirtschaftlichen Rationalität aufzuzwingen. Die dafür erfundenen Kriterien orientieren sich aber nicht an zurechenbaren Arbeitszeiten für bestimmte Produkte, sondern an marktorientierten Maßstäben wie Umsatz, Gewinn und Kostenreduktion. Nun sollen ausgerechnet diese mit dem Neoliberalismus durchgesetzten und vom emanzipatorischen Teil der Arbeiter:innenbewegung stets bekämpften betriebswirtschaftlichen Marktsteuerungsmechanismen zum Ausgangspunkt einer »People’s Republic of Walmart« umdefiniert werden, wie der Titel eines vielbeachteten Buches von Leigh Phillips und Michal Rozworski lautet.

Wenn dann in den bisherigen Beiträgen darauf verwiesen wird, dass aufgrund der verallgemeinerten Arbeitszeiterfassung in kapitalistischen Betrieben die Umstellung auf dieses »neue« Prinzip (das sich dann als gar nicht so neu entpuppt) gar nicht so schwer zu machen sei, verweist das auf das Kernproblem des Ansatzes. Das hatte schon die GIK formuliert, als sie über die AZR schrieb: »Im Grunde genommen geschieht also genau das Gleiche wie im Kapitalismus.«

Diese Aussage gilt aber umso mehr, als die AZR im Grunde all jene Tätigkeiten ausblendet, die auch in der kapitalistischen Gesellschaft Gesellschaft die Grundlage der Warenproduktion bilden, ohne sich selbst in Waren zu vergegenständlichen. Heide Lutosch hat zu Recht in Anlehnung an die Gender- und Arbeitswissenschaftlerin Gabriele Winker darauf hingewiesen, dass schon jetzt weit über die Hälfte (64 Prozent) der gesamten gesellschaftlich Arbeit in Deutschland in den Care-Bereich fallen, der Großteil davon in Form nicht entlohnter Arbeit. Dass diese Tätigkeiten sich nur sehr schwer in den Kosmos der Warenproduktion integrieren lassen, lässt sich aus den feministischen Debatten der achtziger und neunziger Jahre lernen. Die Tätigkeiten in diesem Bereich zeichnen sich durch die direkte Beziehung mit Menschen aus, vergegenständlichen sich also nicht und sperren sich daher gegen die umstandslose Integration in die Wertverwertung. Denn diese ist um das Prinzip der abstrakten Zeitmessung organisiert, während Care-Tätigkeiten sich an den Bedürfnissen der beteiligten Menschen orientieren oder das zumindest sollten.

Deshalb wäre es auch gar nicht möglich, diese Tätigkeiten umstandslos in die AZR zu integrieren. Weil sie nicht die Bearbeitung toter Gegenstände beinhalten, sondern die Interaktion mit lebenden Menschen, wird hier noch deutlicher als sonst, dass die Arbeitszeit nur einen äußerst beschränkten Maßstab zur Planung von gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten darstellt.

Dieser Zusammenhang verweist auf das zentrale Problem der Arbeitszeitrechnung. Sie basiert auf einem »gesamtgesellschaftlich anerkannten, von allen handhabbarem System kommunizierender Kennzahlen«, das die vielfältigen stofflichen Notwendigkeiten, die bei der gesellschaftlichen Planung der Produktion zu beachten wären, auf eine gemeinsame, abstrakte Maßzahl reduziert. So wird die Arbeit zu einem Universalprinzip aufgeblasen, etwas, das überhaupt nur im Kapitalismus existiert und das dessen Beschränktheit begründet.

Eine weiteres Problem kommt hinzu. Die Vertreter:innen der AZR begreifen den Kapitalismus als ein System, das sich über Klassenherrschaft und Markt organisiert. Um dieses System zu überwinden, sollen das Privateigentum an Produktionsmitteln und das Geld abgeschafft werden. Die zentrale Rolle, die in der kapitalistischen Gesellschaft die Vermittlung über die geleistete Arbeitszeit einnimmt, soll hingegen erhalten bleiben.

Auf diese Weise konzipieren diese Ansätze die kapitalistische Ökonomie als zweigeteilte. Auf der einen Seite steht die Arbeit, geleistet von fleißigen Proletarier:innen, die man ganz umstandslos und problemfrei direkt messen kann. Und auf der anderen Seite steht das Geld, das von dieser Zeitmessung strikt unterschieden werden muss und das am Ende gar verzinst wird und sich gegenüber der Gesellschaft verselbständigt. Das – und nicht etwa die Utopie einer Gesellschaft ohne Ware und Tausch – ist Ausdruck einer romantischen Haltung, in der die schlechten Seiten des Kapitalismus im Geld vergegenständlicht werden und die proletarische Arbeit als Verwirklichung der Menschenrechte erscheint.

So entpuppt sich dann die vermeintliche Abschaffung des Geldes als ein Missverständnis. Im real existierenden Kapitalismus soll das Geld die Widersprüche zwischen den privaten Betriebseinheiten und der gesellschaftlichen Allgemeinheit ausgleichen. Im Modell der AZR hingegen wird das Geld aus der Gleichung herausgenommen und durch ein schwer verständliches System aus Institutionen, Gremien und Ausschüssen bis hin zu einer »öffentlichen Buchhaltung« (GIK) ersetzt. Hier soll nun ausgehandelt werden, »was als gesamtgesellschaftliche Arbeit gewertet wird, wie die Intensität der Arbeitsstunde definiert wird oder wie die Formen der dazu notwendigen Selbstkontrolle aussehen sollen« (Broistedt/Hofmann). Was bedeutet das? Die Menschen sollen die Normen, denen sie sich unterwerfen sollen, zuvor miteinander aushandeln und das Maß der kollektiven Selbstunterwerfung demokratisch beschließen.

Die Widersprüche der Warenproduktion, der Arbeits- und Leistungskonkurrenz werden auf diese Weise nur auf einer anderen Ebene reproduziert, aber in keiner Weise aufgehoben. Und nicht nur das: Die Vorstellung einer AZR passt zudem in keiner Weise zu den Kämpfen, mit denen sich Menschen heutzutage gegen die Folgen der kapitalistischen Zeitökonomie wehren. Egal ob die Kämpfe gegen die Erderwärmung, für die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne, des öffentlichen Verkehrs und der Energieversorgung oder die feministischen Kämpfe gegen die Objektivierung von Frauen – immer geht es darum, sich aus der Logik der Verdinglichung und der Kostenrechnung zu befreien. Wer diese Kämpfe ernst nehmen will, wird mit der Arbeitszeitrechnung nicht viel weiterkommen.