Das Kapital verlangt Schmerzen

Die Bundesregierung will 30 Milliarden Euro einsparen und stellt zur Diskussion, wie viel Sozialstaat noch bezahlbar sei. Der Arbeitgeberpräsident fordert »schmerzhafte« Maßnahmen.

von Minh Schredle

Die deutschen Wirtschaftsverbände zeigen sich ungeduldig. Anfang Juli kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Interview mit der ARD einen „Herbst der Reformen“ an. Schon am 22. August veröffentlichte Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger noch in der parlamentarischen Sommerpause eine Pressemitteilung. Dulger monierte, er könne keine Reformen, sondern lediglich einen „Herbst der Kommissionen“ erkennen, dabei brauche es nun „teils schmerzhafte, aber notwendige Maßnahmen“. Man dürfe sich „hier nicht wegducken“, es mangele „an Politikern, die die Dinge ansprechen und eine ehrliche Debatte anstoßen“.

Als einzige positive Ausnahme erwähnt Dulger Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU). Diese hatte Ende Juli gemahnt: „Der Kipppunkt rückt immer näher.“ Gemeint war nicht der Klimawandel, sondern die angebliche Belastungsgrenze der deutschen Sicherungssysteme.

Kürzlich hat Reiche einen Beraterkreis eingesetzt, der aus vier neoliberalen bis marktradikalen Ökonom:innen besteht. Mit dabei ist die sogenannte Wirtschaftsweise Veronika Grimm, die sich gerade erst gegen die anstehende Erhöhung des Mindestlohns ausgesprochen hat und nebenbei im Aufsichtsrat von Siemens Energy sitzt. Grimm wurde vergangenen Mai vom Business Insider befragt, ob Deutschland bei Bürokratieabbau und Staatsverschlankung „mehr Musk wagen“ müsse. „Ich würde da eher nach Argentinien schauen“, lautete die Antwort, also auf den autoritär-wirtschaftsliberalen Präsidenten Javier Milei, in dessen Amtszeit die Zahl der Armen in die Höhe geschossen ist (Jungle World 36/2025)

Mileis Kurs erschien sogar Friedrich Merz zu krass: „Was dieser Präsident dort macht, er ruiniert das Land, er tritt wirklich die Menschen mit Füßen“, sagte der damalige Oppositionsführer im Dezember 2024 bei Maischberger. Doch auch Merz sagte kürzlich: „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“

Das erklärte Ziel der schwarz-roten Koalition ist es, im Haushalt 2027 30 Milliarden Euro einzusparen. Mit Blick auf die staatlichen Sozialausgaben sagte Merz: „So wie es jetzt ist, insbesondere im sogenannten Bürgergeld, kann es nicht bleiben und wird es auch nicht bleiben.“

Das Bürgergeld soll ein Existenzminimum absichern, derzeit beziehen es etwa 5,48 Millionen Menschen, etwas weniger als im Vorjahr. Der Regelsatz soll im kommenden Jahr wieder nicht erhöht werden, nachdem es bereits 2025 keine Inflationsanpassung gegeben hatte.

Doch der Union reicht das nicht. Von den derzeit rund 50 Milliarden Euro, die im Jahr für das Bürgergeld ausgegeben werden, sollen fünf eingespart werden, sagte Kanzler Merz vergangene Woche. „Jeder, der arbeiten kann, muss arbeiten gehen, sonst gibt es keine Sozialleistungen“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann am Wochenende der Bild-Zeitung. Wer jegliche Arbeit ablehne, dem müssen alle Leistungen komplett gestrichen werden; „diese Reform wird in diesem Herbst kommen müssen“.

Die Zahl der sogenannten Totalverweigerer, die jede vom Jobcenter als zumutbar eingestufte Arbeit ablehnen, gilt als verschwindend gering. Die Bundesarbeitsagentur schätzte sie für das Jahr 2023 auf 16 000 bundesweit. Der Bundesrechnungshof hat Merz‘ Sparpläne durchgerechnet. Um fünf Milliarden Euro einzusparen, müssten demnach etwa 600 000 Leistungsberechtigte komplett aus dem Bürgergeldbezug herausfallen.

Auch die SPD-Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) befürwortet härtere Sanktionen für Arbeitsunwillige. Sie verwies Linnemann aber – richtigerweise – darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die Gewährleistung eines Existenzminimums verlangt, was bedeutet, dass die bisherigen Sätze kaum noch weiter gekürzt werden können.

Mit einer anderen Aussage hatte Bas zuvor für reichlich Unmut beim Koalitionspartner gesorgt. Dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar wäre, bezeichnete sie Ende August bei der Landeskonferenz der nordrhein-westfälischen Jusos in Gelsenkirchen als „Bullshit“.

Am Montag trat nun SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf nach einer Klausur des SPD-Parteivorstands vor die Medien: „Die klare Botschaft ist: Wir sind reformbereit und reformwillig.“ Dabei würden die Sozialdemokrat:innen sehr intensiv überlegen, wie der Sozialstaat zukunftsfest, zielgenau und zugänglicher werden könne. „Unsere Parteivorsitzenden haben auch jetzt schon weitergehende Gedanken, als die, die im Koalitionsvertrag stehen“, so Klüssendorf. Welche genau das seien, sagte es dann allerdings nicht.

Dabei fällt das Erreichen des Einsparziels der Regierungskoalition im Haushalt in die direkte Zuständigkeit von Finanzminister und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD). Der analysierte nach dem historisch schlechten Abschneiden seiner Partei bei der vergangenen Bundestagswahl: „Uns ist der Charakter der Partei der Arbeit abhanden gekommen.“ Er meinte damit, dass die SPD zu sehr als Partei des Bürgergeldes wahrgenommen werde, und nicht mehr als die „Partei, die für Menschen da ist, die Leistung zeigen“.

Nicht ganz untypisch für einen SPD-Vorsitzenden stellt Klingbeil höhere Steuern für Spitzenverdiener und Vermögende in Aussicht, obwohl das mit der Union wohl kaum zu machen ist. Doch gleichzeitig lobt er Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) und dessen Agenda 2010. „Schröder hat mutige Reformen angepackt“, sagte er vergangene Woche der Zeit, und auch heute brauche man umfassende Reformen.

Letzteres hat auch die FAZ wohlwollend zur Kenntnis genommen. In dem wirtschaftsliberalen Leitmedium macht sich eine gewisse Ungeduld bemerkbar: „Sollte der ‚Herbst der Reformen‘ so kläglich enden, wie es sich abzeichnet“, warnte ein Kommentar, „drohen die Zustimmungsraten für die Koalition noch unter jene 39 Prozent zu fallen, auf die sie schon jetzt in Umfragen zusammengeschmolzen sind.“ Davon werde dann insbesondere die Partei mit der „Alternative“ im Namen profitieren, und „Merz wird dann über kurz oder lang vor der Entscheidung stehen, ob er nach neuen, wechselnden Mehrheiten im Bundestag suchen soll, um die drängendsten Reformen als Kanzler einer Minderheitsregierung durchzusetzen“. Die FAZ buchstabiert es zwar nicht aus, doch das heißt wohl, dass die Union auch um die Stimmen der AfD werben soll.

Zwei Forderungen der Kapitalseite hat die Bundesregierung seit der Sommerpause bereits erfüllt. Zum einen wurde eine Stromsteuerreduzierung für die Industrie beschlossen. Und das Lieferkettengesetz, das in globalisierten Produktionsprozessen zur Wahrung von Menschenrechten beitragen sollte, wurde weitgehend entkernt.

„Die Spielräume sind eng“, schrieb die Zeit vergangene Woche in Sachen Haushaltskonsolidierung. „Unternehmensentlastungen sind bereits beschlossen, sie mindern die Einnahmen und erhöhen die Sparzwänge. Übrig bleiben Steuervergünstigungen, Sozialausgaben und Zuschüsse, die auf den Prüfstand kommen.“ Bis zu fünf Milliarden Euro wären laut dieser journalistischen Regierungsberatung bei der Kulturförderung zu streichen, „auch in der Rentenversicherung, in die der Bund über 120 Milliarden Euro zuschießt, liegt Sparpotential“, ebenso müsste der Zuschuss des Bundes an den Gesundheitsfonds ja nicht ganz so hoch sein: „Er liegt bei 14,5 Milliarden Euro und könnte um ein bis drei Milliarden reduziert werden. Das allerdings würde direkt zu höheren Krankenkassenbeiträgen führen – sozialpolitisch heikel, aber fiskalisch schnell wirksam.“

Womöglich wird das, was Wirtschaftsliberale landauf und landab als schmerzhaft, aber notwendig einschätzen, erst kurz nach den bevorstehenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen umgesetzt werden. Denn die Wahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland gelten als Stimmungstest für die Regierungskoalition. Besonders die SPD muss dort historisch schlechte Ergebnisse in einstigen Kerngebieten befürchten, vor allem im Ruhrgebiet, wo die AfD deutlich zugelegt hat (Jungle World 35/2025)

Dass die Kosten der Krise vor allem auf die ärmeren Teile der Bevölkerung abgewälzt werden, dürfte unstrittig sein. Ministerin Bas fordert zwar, man müsse die “Zumutungen gerecht verteilen“, aber der naheliegende Gedanke, das Geld dort zu holen, wo es welches zu holen gibt, scheint in der Bundesregierung kaum Anhänger zu haben. Eine Vermögenssteuer lehnt die Union strikt ab und Spitzensteuersätze von 56 Prozent, wie es sie in Helmut Kohls Amtszeit noch gegeben hat, fordert heute nicht einmal mehr die SPD.

[zuerst erschienen in Jungle World 2025/37 v. 11.September 2025]