Der Dank für die Ernte

Ausländische Saisonarbeiter werden in Deutschland oft um ihren Lohn betrogen

von Minh Schredle

Eine Viertelmillion Saisonarbeiter:innen arbeiten jedes Jahr auf ­deutschen Äckern. Das Arbeitsrecht wird dabei systematisch umgangen. Der jüngste Bericht der Initiative Faire Landarbeit legt einen Schwerpunkt auf die Wucherpreise, die viele Saison­arbeiter:innen für Unterkunft und Verpflegung zahlen müssen.

Der Münchner Bezirk Altstadt-Lehel gilt als eine der exklusivsten Wohngegenden der Republik. Wer hier zur Miete lebt, muss laut Immobilenscout 24 durchschnittlich 24,13 Euro pro Quadratmeter zahlen. Es gibt aber durchaus Möglichkeiten, in Deutschland noch teurer unterzukommen – zum Beispiel in einem Container neben Spargelackern und Erdbeerfeldern. „Wuchermieten für Unterkünfte sind in der Landwirtschaft zur Normalität geworden“, bilanziert die Initiative Faire Landarbeit (IFL) in ihrem jüngst veröffentlichten Jahresbericht für 2024. Demnach arbeiten pro Jahr circa eine Viertelmillion Menschen aus dem Ausland auf deutschen Feldern – und viele von ihnen zahlen dabei Mietpreise von 30 bis 60 Euro pro Quadratmeter.

Die bezogenen Unterkünfte sind jedoch keineswegs luxuriös. In nicht nach Geschlechtern getrennten Mehrbettzimmern kommen der IFL zufolge teils sechs oder zehn, in Extremfällen bis zu 14 Personen unter; die in den Arbeitsstättenregeln vorgeschriebenen sechs Quadratmeter Schlafplatz pro Kopf würden dabei vielfach nicht eingehalten. In einem Fallbeispiel aus Bayern standen 100 Beschäftigten zwei Duschen zur Verfügung. Hinzu kommen vielfach Hygieneprobleme, zum Beispiel wenn der Müll nur sporadisch abgeholt wird und das einen Insektenbefall verursacht. „Unsere Berater:innen begegneten in ihrer Umfrage einzelnen Betriebsleitern, die rassistische Gründe als Vorwand für unzureichende Unterkunftsbedingungen anführten“, heißt es im Jahresbericht. So habe einer behauptet, die Menschen seien doch aus ihren Herkunftsländern „nichts Besseres“ gewohnt und bei ihnen zu Hause sei es „noch schlimmer“.

Die IFL ist ein Bündnis der Gewerkschaft IG Bau und verschiedener gewerkschaftsnaher und kirchlicher Beratungsstellen. Ihre Mitarbeiter:innen nehmen regelmäßig mit Saisonarbeiter:innen auf deutschen Feldern Kontakt auf. Sie klären sie über ihre Rechte auf, vermitteln juristische Beratung und erkundigen sich nach den Arbeitsbedingungen. Der Jahresbericht 2024 basiert auf 40 derartigen Feldbesuchen bundesweit, bei denen etwa 3 100 Saisonarbeiter kontaktiert wurden.

Der IFL-Bericht zitiert einen Arbeiter, der bereits in verschiedenen europäischen Staaten Erfahrung mit prekärer Beschäftigung gesammelt hat, mit den Worten: „Nirgendwo war es so schlimm wie in Deutschland.“ Ein anderer sagte über den Eigentümer des Hofes, auf dem er arbeitete: „Er ließ uns dort schlafen, wo er Tiere hielt.“

Die meisten Saisonbeschäftigen kommen aus EU-Staaten, insbesondere Rumänien, Bulgarien und Polen. Doch verweist Anja Piel aus dem DGB-Bundesvorstand darauf, dass häufiger als früher Drittstaatsangehörige angeworben werden, etwa aus Usbekistan, der Mongolei oder Indien.

Besonders gerne schicken Arbeitgeber Studierende aufs Feld. Denn nach der Verordnung über die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern geht das sozialversicherungsfrei, wenn die Immatrikulation an einer ausländischen Hochschule nachgewiesen werden kann. Die IFL schildert, wie kommerzielle Agenturen eine Vermittlungsgebühr verlangen, die bis zu 600 Euro betragen kann, und zum Teil mit dem Etikett „Work and Travel“ und dem Versprechen kulturellen Austauschs ködern.

Da die Saisonbeschäftigen für eine befristete Zeit aus dem Ausland einreisen und die Vermittlung der Jobs oft sehr kurzfristig erfolgt, werden sie nur in Ausnahmefällen auf dem freien Wohnungsmarkt fündig. Bei ihrer Unterbringung sind sie also in der Regel vollständig vom Arbeitgeber abhängig.

Es gibt gesetzlich vorgeschriebene Sachbezugswerte, die genau vorschreiben, wie viel Geld ein Arbeitgeber für Unterkunft und Verpflegung verlangen darf. Doch eine stichprobenartige Umfrage der IFL in zwölf deutschen Betrieben ergab, dass diese Sachbezugswerte in allen Betrieben überschritten wurden.

Die Abzüge für Unterkunft und Verpflegung seien 2024 um zwei bis drei Euro pro Tag gestiegen. Die IFL vermutet, dass die Arbeitgeber dadurch die Erhöhung des Mindestlohns umgehen wollten. Eine polnische Saisonarbeiterin wird mit den Worten zitiert: „Der Mindestlohn ist gestiegen, also sind auch die Mieten gestiegen.“ Manchmal könnten diese Abzüge bis zu 50 Prozent des Nettolohns betragen, heißt es im IFL-Bericht, so dass der Mindestlohn weit unterschritten werde.

Hinzu kommen juristische Tricks, um die entsprechenden Gesetze zu umgehen, etwa durch die Gründung einer Immobiliengesellschaft. In dieser Konstellation sind Arbeitgeber und Vermieter rechtlich gesehen zwei verschiedene Unternehmen, so dass die Miete de jure nicht vom Lohn abgezogen wird. „Jedes Jahr erfahren wir von neuen Strategien, mit denen die Arbeitgeber die Beschäftigten um ihren Lohn betrügen“, stellt die IFL fest.

In manchen Fällen kehren Saisonbeschäftigte sogar verschuldet in die Heimat zurück. „Die Unterbringungskosten werden auch dann zu einem dringlichen Problem, wenn die Saisonbeschäftigten aufgrund schlechter Witterungsbedingungen tagelang nicht arbeiten können“, schreibt die IFL und verweist auf Starkregen und Überschwemmungen im vergangenen Jahr. Arbeitgeber seien verpflichtet, die Beschäftigten für die Zeit des Arbeitsausfalls zu entlohnen, „was sehr häufig nicht geschieht“.

Zum ersten Mal thematisiert der Bericht für 2024 sexualisierte Gewalt gegen Saisonarbeiterinnen. Kateryna Danilova von der European Migrant Workers Union beschreibt, wie manche Vorarbeiter ihre Machtposition missbrauchen. In der Regel seien die betroffenen Frauen und ihre Familien im Herkunftsland von dem erzielten Einkommen abhängig, sie sprechen kein Deutsch, wissen nicht, an wen sie sich wenden können. „Dann wird ihnen mit Entlassung gedroht, wenn sie nicht mit ihren Vorgesetzten ins Bett gehen.“ Das Ausmaß des Problems ist schwer abzuschätzen. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamts sind 44 Prozent der Saisonbeschäftigten Frauen. Bislang sei es, so Danilova, noch selten, dass sich von sexualisierter Gewalt Betroffene melden, sie geht von einer hohen Dunkelziffer aus – was auch damit zusammenhängen dürfte, wie schwer es ist, vor Gericht erfolgreich zu klagen. So ist im IFL-Bericht zu lesen, dass vergangenes Jahr ein Gerichtsverfahren gegen mehrere Vorarbeiter in einem landwirtschaftlichen Betrieb aus Mangel an Beweisen eingestellt worden sei, obwohl mehrere Beschäftigte physische Gewalt und sexuelle Nötigung beschrieben hätten.

Die IFL verweist darauf, dass Saisonbeschäftigte „überall in Europa in der Regel prekär leben und arbeiten“. Dennoch sei die staatliche Regulierung in einigen Ländern weiter fortgeschritten als in Deutschland. Zum Beispiel in Österreich: Dort darf der Lohnabzug für eine Unterkunft nicht mehr als 39,24 Euro pro Monat betragen. Auch daran halten sich nicht alle Arbeitgeber, dennoch liegen die durchschnittlichen Unterbringungskosten weit unter dem deutschen Niveau.

Hoffnung auf Besserung macht die sogenannte soziale Konditionalität der Gemeinsamen Agrarpolitik. Direktzahlungen der EU an landwirtschaftliche Betriebe sind seit dem 1. Januar dieses Jahres an die Einhaltung des Arbeitsrechts gekoppelt. Bei Verstößen können EU-Subventionen zurückgefordert werden. Das Recht zu Kontrollen hat allerdings nicht die IFL, sondern der Staat – der hierzulande bislang nicht durch Übereifer aufgefallen ist.

[zuerst erschienen in Jungle World 2025/14 v. 3. April 2025]