Die ökologische Marktwirtschaft ist eine hoffnungslose Hoffnung: Mit mehr Wachstum führt kein Weg aus der Klima- und Wirtschaftskrise
Von Minh Schredle
Zuerst erschienen in KONTEXT:Wochenzeitung Ausgabe 550 vom 13.10.2021
Die triviale Erkenntnis ist so alt wie Steueroasen in der Karibik: Wachstum hat Grenzen. Diese Binse zu ignorieren, ist leider weit verbreitet – und es bedeutet, den Planeten zu verheizen, damit Fantastillionen zu Fantastilliarden werden.
Sinkende Kindersterblichkeit und steigende Lebenserwartungen, eine Impfstoff-Entwicklung in Rekordgeschwindigkeit, tanzende Roboter und Flachbildfernseher zu Spottpreisen: Es wäre töricht, der Gegenwart ihre Erfolge abzusprechen. Doch mit Blick auf die jüngere Geschichte fallen einige Themenkomplexe auf, bei denen sich gravierende Krisensymptome häufen, und bei denen politische Absichtserklärungen, die Probleme an der Wurzel angehen zu wollen, konsequent scheitern: Der Heimatverlust für Millionen von Menschen, die strukturelle Massenarbeitslosigkeit in immer größeren Teilen der Welt, die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten sogar in den Wohlstandszentren, die globale Verschuldungsdynamik und, am dramatischsten: die eskalierende Klimakatastrophe, die bereits vor über drei Jahrzehnten in den Fokus internationaler Abkommen gerückt ist. Eine Bilanz der Bemühungen: Die weltweiten Emissionen von Treibhausgasen haben sich seitdem verdoppelt und auch die eindringlichsten Warnungen der vereinten Wissenschaft konnten bislang kein grundlegendes Umsteuern herbeiführen.
“Das, was politisch akzeptabel scheint, ist eine ökologische Katastrophe, während das ökologisch Notwendige politisch unmöglich ist.” So formulierten es Mathis Wackernagel und William Rees, die Erfinder des ökologischen Fußabdrucks – und es zeugt vom Ausmaß der Misere, dass das Zitat von 1998 stammt. Nicht nur wird immer mehr CO2 freigesetzt. Es wird auch immer schneller freigesetzt.
Wo unzählige Alarmsignale auf einen Wettlauf mit der Zeit hindeuten, die existenzielle Bedrohung für die menschliche Zivilisation im politisch-medialen Diskurs durchaus wahrgenommen und reflektiert wird, aber (überlebens-)notwendige Handlungen über Dekaden hinweg ausbleiben – da liegt der Schluss einer systemischen Dysfunktionalität nahe. Doch im deutschen Parteienspektrum führt diese Analyse in die Einsamkeit: Im Bundestag setzt derzeit eine ganz große Koalition auf die hoffnungslosen Hoffnungen namens grünes Wachstum und ökologische Marktwirtschaft. Und damit eben nicht auf einen Systemwechsel.
Wollen wir wetten?
Dass auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen kein unendliches Wachstum möglich ist, erscheint als so triviale und logisch naheliegende Folgerung, dass es schon eine Menge Volkswirtschaftslehre braucht, um zur gegenteiligen Überzeugung zu gelangen. Tatsächlich aber vertreten prominente Stimmen, darunter der renommierte Ökonom und Neukeynesianer Joseph Stiglitz, die Auffassung, dass es möglich sei, wirtschaftliches Wachstum dauerhaft von einer stofflichen Grundlage zu entkoppeln. Das Problem an dieser These, von der zahlreiche zentrale Zukunftsfragen abhängen: Sie bleibt den empirischen Beleg schuldig, dass eine Umsetzung in der Praxis möglich ist.
So hat ein Team um die Wissenschaftler Dominik Wiedenhofer und Helmut Haberl im vergangenen Jahr 835 Studien zum Zusammenhang zwischen Wachstum, Emissionen und Ressourcenverbrauch ausgewertet. Und dabei fanden sie “keine überzeugenden Beweise für eine absolute Entkopplung im erforderlichen Umfang”.
Auch das Europäische Umweltbüro hat sich auf Spurensuche begeben – und spricht von einem “Heuhaufen ohne Nadel”. Das Fazit sei gleichermaßen “überwältigend klar wie ernüchternd”: Nicht nur gebe es “keine empirische Evidenz”, dass grünes Wachstum – im Sinne einer permanenten und globalen Entkoppelung vom Ressourcenerbrauch – irgendwo stattfinde. Es erscheine auch, “unwahrscheinlich, dass eine solche Entkopplung in Zukunft geschehen wird”. Die Strategie sei vergleichbar damit, einen Baum mit einem Löffel fällen zu wollen: Wenn überhaupt möglich, handele es sich um ein sehr langwieriges Vorhaben, das aller Voraussicht nach zum Scheitern verurteilt sei. Wachstumsorientierte Konzepte gegen die Klimakrise erschienen somit als “extrem riskante und unverantwortliche Wette”, und auf Entkopplung zu setzen, wirke weniger wie eine Gelegenheit, sondern eher “wie eine Drohung”.
Nun ist die ökologische Kritik an den Grenzen des Wachstums weder neu noch originell. Aber seit sie der Club of Rome schon Anfang der 1970er-Jahre vorgetragen hat, scheinen entsprechende Positionen auf der öffentlichen Bühne tendenziell marginalisiert worden zu sein. Währenddessen spitzt sich ein Prozess der globalen Krisenentfaltung zu, den das Marktwirtschaften mit seinen konkurrenzvermittelten Zwängen hervorbringt – und die nicht nur Umwelt und Natur betreffen. Auch ökonomisch droht ein Kollaps in Form einer gewaltigen Entwertung. Auch dafür gibt es empirische Anzeichen: Denn noch schneller als die Wirtschaft wachsen die Schuldenberge der Welt. Dabei ist der Trend über Jahrzehnte ebenfalls deprimierend eindeutig: Ein Abbau auf globaler Ebene gelingt schlichtweg nicht. Für das erste Quartal im Jahr 2020 meldete die Agentur Reuters einen neuen Allzeit-Rekord, mit einer weltweiten Gesamtverschuldung von über 258.000.000.000.000 Dollar, was 331 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht. Das war noch, bevor die meisten Staaten ihre kostspieligen Rettungspakete zur Überbrückung der Corona-Lockdowns schnürten.
Ähnlich wie bei der Klimakatastrophe ist bei der Schuldenmacherei eine ungebremste Eskalationsdynamik zu beobachten, wobei jeder drohende Crash in der Finanzwelt als Katalysator wirkt. Wie ein Junkie, der immer höhere Dosen einer Substanz braucht, um die gleiche Wirkung zu erzielen, mussten die Staaten zur Stabilisierung bei jedem Krisenschub seit 1997 immer größere Geldmengen ins Finanzsystem spritzen.
Geld spritzen
In der Bundesrepublik sind die Dimensionen besonders dramatisch: Laut einer McKinsey-Studie vom Juni 2020 haben sich die deutschen Konjunkturhilfen allein in den ersten beiden Monaten der Pandemiebekämpfung auf das beinahe Zehnfache dessen summiert, was der Staat in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt zur Bewältigung der damaligen Finanzkrise aufwendete. Als mit Corona der nächste Einschlag kam, hat die Bundesregierung, um allzu dramatische Schäden abzuwenden, sogar Hilfen in “unbegrenzter Höhe” angekündigt.
Wer soll das bezahlen? Das ist eine Frage, die bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen und Haushaltsplanungen virulent werden wird. Und die plausibelste Antwort darauf dürfte lauten: Niemand kann das bezahlen – erst recht nicht, wenn die gewaltigen Investitionskosten für eine ökologische Transformation dazu kommen. Vielleicht mag es einzelnen Nationen gelingen, ihre Schulden zu reduzieren. Dass aber die immense globale Kreditlast durch künftiges Wachstum kompensiert werden kann, wirkt angesichts der skizzierten Entwicklungen kaum plausibel. Und, wenn überhaupt, wäre es wohl nur um den Preis eines endgültigen Klimakollaps denkbar, da eine Entkopplung von der stofflichen Grundlage bekanntermaßen unrealistisch ist.
Derweil hat die weltweit zirkulierende Geldmenge ohnehin längst absurde Dimensionen angenommen. Bereits 2015 hätten die addierten Vermögen und Finanztitel ausgereicht, alle auf dem Planeten käuflich erwerbbaren Dinge zwölf Mal zu kaufen. Sollte ein solcher Versuch gestartet werden, würde auffallen, dass die Rechnung bei weitem nicht aufgeht. Es handelt sich um einen größtenteils fiktiven Reichtum, der hier produziert wurde. Eine ziemlich groteske Pointe: Der Wachstumswahn verheizt den Planeten, damit Fantastillionen zu Fantastilliarden werden. Und wenn Staaten sich und andere Sparzwängen unterwerfen, als wäre das Geld noch ernstzunehmen, kommt das in Sachen Opferbereitschaft dem Vorhaben gleich, mit einem geschlachteten Lamm eine zornige Gottheit besänftigen zu wollen: Es ist so grausam wie sinnlos. Geld ist tot.
Eine folgenschwere Fiktion
Nun ist das Geld zweifellos ein von Menschen geschaffenes Konstrukt – aber eines, das durch gesellschaftliche Projektion und staatliche Begleitmaßnahmen eine enorme Wirkmacht entfaltet hat. Die individuellen Lebensgrundlagen in der gegenwärtigen Gesellschaftsform hängen ganz real vom Kontostand ab. Nichtsdestotrotz bleibt der Umstand absurd und verstörend, dass sich hier eine Vorstellung so stark verselbstständigt hat, dass sie nicht mehr vom Menschen kontrolliert wird, sondern die Menschheit kontrolliert: Die uferlose Geldvermehrung ist der oberste Zweck der gesamtgesellschaftlichen Arbeit.
Hervorgebracht wird diese Dynamik nicht durch eine bewusste Steuerung, nicht durch einen großen Plan, sondern automatisiert durch eine marktvermittelte Konkurrenz, die Unternehmen und die daran hängenden Arbeitsplätze nur dann überleben lässt, wenn sie auf Dauer Gewinne erwirtschaften. Doch wo dieser blinde Drang und Zwang sich selbst überlassen bleibt, entstehen auf allen Gebieten der Daseinsfürsorge immer drastischere Schäden, die durch Wettbewerb und Wachstum nicht gelöst, sondern verschärft werden: Riesige Regionen sind hoffnungslos vom Weltmarkt abgehängt, Staaten kollabieren, wo ihnen das ökonomische Fundament abhanden gekommen ist, und selbst auf noch verbleibenden Wohlstandsinseln macht die ruinöse Konkurrenz immer breiteren Gesellschaftsschichten das Leben schwer.
Wo sich die kollektive Betroffenheit mehrt, wird die Krise zum Gesprächsthema. Und für progressive Kräfte gibt es hier durchaus Anhaltspunkte, laufende Diskurse positiv zu beeinflussen: Etwa in Berlin, wo eine große Mehrheit trotz überwältigender Ablehnung durch das Parteienspektrum für eine Enteignung und damit für einen Bruch mit der Marktkonformität gestimmt hat. Das könnte als Vorbild dienen. Allerdings gibt es keinen Automatismus, dass Betroffenheit zu Emanzipation führen muss.
Jenseits von Gut und Börse
Wenn Problemanalysen keine strukturellen, systemischen Ursachen in Betracht ziehen – und das gilt für viel zu viele –, bleibt nur die Option, Krisenphänomene auf das Handeln Einzelner zurückzuführen. Verantwortlich sind bestimmte Personen, weil sie aus Inkompetenz scheitern, oder weil sie uns, warum auch immer, mutwillig Böses wollen. Die Gründe für die Krise werden personalisiert, als “Problemlösung” bleibt daher nur eine Strategie denkbar: die verantwortlichen Akteure zu beseitigen und zu ersetzen (vgl. “Merkel muss weg”). Der zivilisiertere Weg setzt dabei auf demokratische Wahlen oder veränderte Vorstandszusammensetzungen; der barbarische Umgang nimmt das Beseitigen etwas wörtlicher.
Wie anfällig die vermeintliche Mitte der Gesellschaft für die Personalisierung von Krisenursachen ist, verdeutlicht sich unter anderem am Massenwahn der “Querdenken”-Bewegung, der hinter jedem auftretenden Übel die kontrollierte Absicht verschworener Akteure zu erkennen glaubt – eine Vorstellung die in hohem Maße kompatibel mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist, wie zum Beispiel dem Antisemitismus.
Selbstverständlich gibt es gierige Ausbeuter, gibt es Korruption und reale Verschwörungen – doch der Kern der Krise ist weitaus gruseliger: eben weil sie sich nicht lösen lässt, indem ein paar Personen in Führungspositionen ausgetauscht werden. Um für die Menschheit eine Zukunft als Zivilisationsprojekt denkbar machen zu können, ist ein gewaltiger Kraftakt Voraussetzung, der ein über Jahrhunderte gewachsenes System von seinem absurden Zwang befreit, unendlich viele Ressourcen zu verbraten, damit fiktiver Reichtum in Form von wertlosem Geld entsteht. Wie eine solche Transformation gelingen kann, muss zum Gegenstand eines gesamtgesellschaftlichen Verständigungsprozess werden. Dabei ist es überfällig, sich das Offensichtliche einzugestehen: Mit Wachstum führt kein Weg aus der Krise.
Lektüre-Empfehlungen:
“Geld ohne Wert” von Robert Kurz, 2012
“Zur Kritik des modernen Fetischismus” von Claus-Peter Ortlieb, 2019
“Kapitalkollaps” von Tomasz Konicz, 2016
“Klimakiller Kapital” von Tomasz Konicz, 2020