Genug geschwitzt!

Der Soziologe Steffen Liebig untersucht in einer lesenswerten Studie Modelle von Arbeitszeitverkürzung aus sozialer und ökologischer Perspektive

von Lothar Galow-Bergemann

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erschienen in Jungle World, 20. Januar 2022

Bei der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung kommen die Gewerkschaften seit Jahrzehnten kaum voran. Nach den Kämpfen der achtziger Jahre um die 35-Stunden-Woche legte sich in dieser Frage eine gefühlte Ewigkeit lang bleierne Ruhe über das Land. Mit der vorübergehenden Einführung der Viertagewoche bei VW zwischen 1994 und 2006 verbanden sich gewisse Hoffnungen, die aber bald wieder aufgegeben werden mussten. Alles in allem drohten also eher Rückschritte. Zwar verging kaum ein Gewerkschaftstag, ohne dass wortreich und gut begründet ein neuer Arbeitszeitstandard verlangt worden wäre, die Ergebnisse aber blieben aus. Wer jahrzehntelang nur fordert und praktisch nichts bewegen kann, steckt offenkundig in der Krise. Darin zeigt sich die schwindende Macht der Gewerkschaften unter den Bedingungen globaler Standortkonkurrenz und technologisch bedingtem Produktivitätszuwachses.

Dabei könnte die gesteigerte Effizienz eigentlich für radikale Arbeitszeitverkürzungen genutzt werden. Funktionierte „die Wirtschaft“ nach vernünftigen Regeln, würde sie nicht aus endlich überflüssiger werdender Arbeit „überflüssige“ Menschen machen. Doch das herrschende Wirtschaftssystem erzeugt umgehend handfeste Krisen, wenn es nicht permanent wachsen und Profite generieren kann. Tut es das aber weiterhin, so stürzt es die Welt erst recht in die Krise. Nirgends wird dieses Dilemma deutlicher als im Umgang mit der globalen Erderwärmung. Denn die immer intensivere und schnellere Vernutzung menschlicher und natürlicher Ressourcen ist nicht etwa sinnvoller Bedürfnisbefriedigung und stofflicher Reichtumsproduktion geschuldet, sondern alleine der kapitalistischen Funktionslogik. Mit der von ihr verursachten Klimakrise wird der Planet im Wortsinne verheizt.

Die Abhängigkeit der Einzelnen von ihrem Arbeitsplatz macht dieses an und für sich widersinnige System so stabil. Kriselt diese Wirtschaftsweise, sind Existenzen bedroht. Zwar wäre es ökologisch vernünftig, wesentlich weniger und wesentlich langlebigere Autos zu bauen; unter den gegebenen Umständen würde dies aber Massenarbeitslosigkeit und Armut nach sich ziehen.

Nicht nur das System, sondern auch die ganz konkrete Arbeit hinterlässt bei immer mehr Menschen unangenehme Gefühle. Sie leiden ganz unmittelbar unter ihr und würden eigentlich lieber heute als morgen ihre Stelle aufgeben. Für die unter 40jährigen sind die Aussichten besonders deprimierend, denn sie wissen, dass sie kaum in der Lage sein werden, eine Rente zu erwirtschaften, von der sie leben können.

Steffen Liebig, Soziologe und Postdoktorand im Sonderforschungsbereich »Strukturwandel des Eigentums« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, unternimmt in seiner lesenswerten Studie „Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt?“ den Versuch, soziale und ökologische Aspekte der Arbeit zusammen zu bringen. Sein Band sollte Klimaaktivisten und Wachstumskritikerinnen ebenso wie Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen interessieren. Alleine schon, weil beide immer noch viel zu wenig voneinander wissen (wollen). Die Beseitigung dieser „doppelten Leerstelle“ (Liebig) ist jedoch Voraussetzung dafür, dass sich durchsetzungsstarke gesellschaftliche Bündnisse formieren, die eine radikale sozialökologische Transformationsperspektive entwickeln und realisieren können.

In wohltuendem Gegensatz zur weitgehend auf konsumkritische Aspekte fokussierten Debatte etwa der Degrowth-Bewegung lenkt Liebig den Blick auf die häufig vernachlässigte Sphäre von Arbeit und Produktion, denn ohne deren grundlegende Veränderung wird es kaum Fortschritte geben. Er untersucht gewerkschaftliche und wachstumskritische Theorie und Praxis und untermauert damit seine Kernthese, dass „eine Politik der Arbeitszeitverkürzung dazu geeignet ist, einen Konvergenzpunkt zwischen gewerkschaftlichen Positionen auf der einen Seite und sozial-ökologischen bis wachstumskritischen Arbeitskonzepten auf der anderen Seite darzustellen“.

Weil es gelte, die „Arbeitszeitverhältnisse zum Tanzen zu bringen“, wie Liebig frei nach Marx formuliert, verfolgt der Autor mit besonderem Interesse die derzeitigen gewerkschaftlichen Debatten über die Einführung einer 28-Stunden-Woche, Wahlmodelle und lebenslauforientierte Arbeitszeitpolitik. Er konstatiert eine „Renaissance der Arbeitszeitpolitik“ bei einigen Gewerkschaften. Ausführliche Interviews mit Verantwortlichen von IG Metall, Verdi und der Eisenbahngewerkschaft EVG vermitteln Erfahrungen, Möglichkeiten und Grenzen gewerkschaftlicher Tarifpolitik.

Angesichts des schon lange anhaltenden Schwindens der Tarifbindung in vielen Bereichen betont Liebig, dass die Gewerkschaften die notwendigen Änderungen, beispielsweise in der Rentenfrage, nicht alleineherbeiführen können. Damit „Arbeitszeitpolitik in dem bestehenden tarifpolitischen Rahmen über diesen hinaus radikalisiert und ausgeweitet werden kann“, seien breite gesellschaftliche Bündnisse und Bewegungen notwendig. Anders gesagt: Ohne Beteiligung der Klima- und Umweltschutzbewegung werden die Gewerkschaften nicht wirklich weiterkommen. Umgekehrt braucht die Klimabewegung gewerkschaftliche Unterstützung.

Am Beispiel „Zukunft der Rente“ ließe sich darüber hinaus etwas Grundsätzliches demonstrieren, was Liebig aber leider unterlässt. Die sich unaufhaltsam vom Modell einer Pyramide entfernende Altersstruktur der Bevölkerung gibt nämlich einen der vielen Hinweise darauf, dass monetarisierte soziale Beziehungen prinzipiell nicht mehr zukunftsfähig sind. Nicht nur die immer krisenanfälliger werdende kapitalistische Ökonomie, auch die Erfordernisse der notwendigen Transformation verweisen darauf, dass das Vertrauen auf künftige Finanzierung von Rente, Care-Tätigkeiten und anderen wichtigen Lebensbereichen, die letztlich die Annahme dauerhaft solider Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen zur unausgesprochenen Voraussetzung hat, schlicht illusionär ist. Wer die soziale und ökologische Krise bewältigen will, muss der Tatsache ins Auge sehen, dass das Prinzip von „Gelderwerb als Mittel zum Lebensunterhalt“, also die Lohnarbeit, tendenziell immer weniger Menschen eine Perspektive bieten kann. Eine Transformationsbewegung müsste dieses Prinzip deswegen offensiv angreifen.

Ganz so weit geht Liebig dann doch nicht. An den in vielerlei Hinsicht nach wie vor sehr aktuellen Überlegungen des französischen Sozialphilosophen André Gorz missfällt ihm ausgerechnet der Verweis auf die „Komplizenschaft zwischen Arbeit und Kapital“. Wie richtig Gorz damit lag, erweist sich gerade in Hinblick auf die Klimakrise, vor deren Hintergrund Liebigs Rede vom „Klassencharakter des kapitalistischen Wachstums“ wenig überzeugt. Gorz’ kategorische Kritik an der Arbeitsgesellschaft ist aktueller denn je. Der Übergang zu solidarischen Formen gesellschaftlicher Reichtumsproduktion ist überlebensnotwendig.

Das müsste übrigens noch nicht einmal das Ende der Gewerkschaften bedeuten, ganz im Gegenteil. Als Massenorganisation der Experten und Expertinnen für stofflichen Reichtum könnte ihnen eine zentrale Rolle in einem erfolgreichen Transformationsprozess zuwachsen, dessen Gegenstand sie nicht zuletzt auch selbst wären. Auch benötigt die Suche nach gangbaren Wegen der Transformation schon deshalb eine radikale Arbeitskritik, weil sich der identitäre Bezug auf die Arbeit auch heute wieder als auffällig anfällig für autoritär-faschistische angebliche „Alternativen“ erweist.

Trotz einiger Leerstellen ist die Studie überaus wertvoll. Sie gibt wichtige Hinweise für alle theoretisch wie praktisch an Ökologie und Arbeitswelt Interessierten und sollte in keinem Gewerkschaftshaus und keinem Umweltzentrum fehlen.

Steffen Liebig: Arbeitszeitverkürzung als Konvergenzpunkt? Sozial-ökologische Arbeitskonzepte, Wachstumskritik und gewerkschaftliche Tarifpolitik. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2021, 400 Seiten, 45 Euro

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