Plädoyer für ein neues 20.-Juli-Gedenken
Von Thomas Tews
(zuerst erschienen am 20. Juli 2023 – 2 Av 5783 bei haGalil.com)
Der 20. Juli ist ein geschichtsträchtiges Datum, das die Frage aufwirft, wer Platz in der deutschen ›Erinnerungskultur‹ findet und wer (bislang) nicht.
Stauffenberg – ambivalenter ›Held‹ mit festem Platz in der deutschen ›Erinnerungskultur‹
In erinnerungspolitischer Hinsicht denken die meisten Deutschen beim 20. Juli sofort an das gescheiterte Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907–1944). Selbstverständlich ist es Stauffenberg positiv anzurechnen, dass er 1943 zur Umsturzbewegung stieß und am 20. Juli 1944 unter Einsatz seines Lebens versuchte, der nationalsozialistischen Barbarei ein Ende zu setzen. Dies vermag jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Stauffenberg Jahre lang ein willfähriges Glied ebendieser Barbarei gewesen war. Der deutsche Überfall auf Polen bereitete dem Offizier Stauffenberg gar berufliche Befriedigung, da er sein über viele Jahre erworbenes Wissen nun in der Praxis anwenden und sich militärischen Herausforderungen stellen konnte. In einem Feldpostbrief an seine Familie vom 14. September 1939 beschrieb er die Bevölkerung in den eroberten Gebieten Polens wie folgt:
»Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.«i
Stauffenberg reiste nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ab dem Sommer 1941 mehrfach an die Ostfront, um für die Organisationsabteilung des Generalstabes des Heeres den Stand der Ausrüstung zu überprüfen. Auf dem Rückflug von der Ostfront am 16. September 1941 hielt er in einem Brief an seinen Freund und Vertrauten Frank Mehnert seine Eindrücke fest:
»Drei Eindrücke haben sich besonders eingeprägt: die unerhörte Güte und Leistung des deutschen Soldaten, die Trostlosigkeit […] der eroberten Gebiete und die satanische Barbarei des bolschewistischen Spuks. Es ist wohl kaum möglich diese Irrlehre im ganzen Umfang ihrer Menschenunwürdigkeit zu erfassen, wenn man nicht mit eigenen Augen die erschreckenden Ergebnisse gesehen hat. […] In wenigen Jahren wären sie materiell so weit gewesen, dass sie Europa hätten überrennen können, dass sie das Abendland hätten vernichten können. Da ist es so schon besser!«ii
Angesichts der Tatsache, dass im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion von 1941 bis 1944 nicht nur 2,4 Millionen sowjetische Jüdinnen*Juden, sondern insgesamt 15,2 Millionen sowjetische Zivilist*innen starbeniii, wirkt Stauffenbergs Darstellung der deutschen Invasoren als gütige Retter des Abendlandes mehr als zynisch. Auch wenn sich 1942 Stauffenbergs Haltung zum Krieg und zum NS-Regime wandelte, kann dies seine anfängliche Unterstützung nicht vergessen machen. Eignet er sich daher wirklich als Identifikationsfigur für unsere Gesellschaft? 2021 postulierte die damalige Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Rede anlässlich des ritualisierten feierlichen Gelöbnisses von Bundeswehrrekrut*innen am 20. Juli im Bendlerblock in Berlin:
»[…] Es bleibt dennoch der Triumph Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer, dass der 20. Juli bis heute Sinn stiftet. Der 20. Juli und der Widerstand gegen Hitler gehören zur DNA der Bundeswehr. […] 77 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler stehen heute auf den Schultern Stauffenbergs und Tresckows hier junge Menschen, die geloben werden, einem anderen, einem besseren Staat zu dienen und ihn zu schützen. Einem Staat, der seine Kraft auch aus dem 20. Juli schöpft.«iv
Kann ein demokratisch verfasster Staat, dessen Grundgesetz die Achtung und den Schutz der »Würde des Menschen« zur »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« erklärt, Kraft aus einem Oberst der Wehrmacht, der sich 1939 nach dem Überfall des NS-Unrechtsstaates auf Polen voller Menschenfeindlichkeit und Verachtung über die dortige (teils jüdische) Bevölkerung äußerte und 1941 den mörderischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion verteidigte, seine Kraft schöpfen?
Wronsky – stille Heldin ohne Platz in der deutschen ›Erinnerungskultur‹
Auf den 20. Juli fällt nicht nur der Jahrestag des Stauffenberg-Attentates, sondern auch der Geburtstag der – heute leider weitgehend unbekannten – jüdischen Sozialarbeiterin Siddy (Sidonie) Wronsky, geb. Neufeld, die am 20. Juli 1883 in Berlin als Tochter des Kaufmannes Max Moses Neufeld und seiner Frau Thekla Neufeld, geb. Kleinmann, zur Welt kamv.
Wronsky absolvierte 1903 ein Lehrerinnenexamen und danach ein zweijähriges Aufbaustudium der Heil- und Sonderpädagogik. Anschließend war sie als Lehrerin für geistig behinderte Kinder tätig. Die Liste ihrer weiteren ehren- und hauptamtlichen Aktivitäten ist lang und beeindruckend: 1906 (bis 1908 inoffizielle) Leiterin des Archives für Wohlfahrtseinrichtungen der Zentrale für private Fürsorge Berlin, 1914 Mitglied des Komitees Soziale Krankenhausfürsorge Berlin, 1914–19 Vorstandsmitglied des Nationalen Frauendienstes in Berlin, 1915 Vorstandsmitglied der Zentrale für private Fürsorge Berlin, 1916–19 Vorsitzende des Jüdischen Frauenbunde in Berlin, nach dem 1. Weltkrieg Gründerin des Ahavah-Kinderheimes der Jüdischen Gemeinde Berlin (das 1934 nach Palästina verlegt wurde), 1919 ehrenamtliche Geschäftsführerin der Berliner Frauen-Wohlfahrtsstellen und Mitglied der Wohlfahrtsdeputation der Stadt Berlin, ab 1919 Beiratsmitglied des Hauptausschusses der Arbeiterwohlfahrt (AWO), 1919–22 Lehrerin an der Jugendpflegeschule der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, 1920 Mitglied des Hauptausschusses des Deutschen Vereines für öffentliche und private Fürsorge (DV), 1920–23 Vorsitz der deutschen Landesvertretung des Weltverbandes zionistischer Frauen, 1921 Mitglied des Verwaltungsrates der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden (ZWSt) und Mitglied der Sachverständigenkommission zur Bearbeitung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG, verabschiedet am 9. Juli 1922), 1922–33 Geschäftsführerin der Zentrale für private Fürsorge Berlin, 1923 Geschäftsführerin des auf Initiative des Reichsarbeitsministeriums (RAM) reorganisierten, reichsweiten Archives für Wohlfahrtspflege (heute: Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen [DZI]), 1923–27 Dozentin an der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg, 1924 Gründungsmitglied der Zentralarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Berlin, 1925 Abgeordnete im Preußischen Landesverband Jüdischer Gemeinden, 1925–33 Vorstandsmitglied und Dozentin an der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, 1926 in der Jüdischen Kinderhilfe Berlin aktiv, Mitglied des Hauptausschusses des Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde Berlin, Präsidiumsmitglied der Jüdischen Arbeits- und Wanderfürsorge und Gründungsmitglied der Deutschen Vereinigung für den Fürsorgedienst im Krankenhaus, ab 1927 Vorsitz im Sozial- und Wirtschaftsausschuss des Preußischen Landesverbandes Jüdischer Gemeinden, 1928 Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der ZWSt und Delegierte auf der Internationalen Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik in Paris, ab 1928 Gründerin und Redakteurin der Deutschen Zeitschrift für Wohlfahrtspflege und schließlich 1932 Delegierte auf der 2. Internationalen Konferenz für Soziale Arbeit in Frankfurt am Main.
Wronsky wirkte in der Weimarer Republik als Impulsgeberin für eine professionelle, auf Methodenentwicklung und Ausbildung basierende Soziale Arbeit. Ausgang und Schwerpunkt ihrer sozialpolitischen Aktivitäten war ihre Tätigkeit in der jüdischen Wohlfahrtspflege, von der sich ihre weiteren Ämter und Funktionen in der Regel ableiteten. Bis 1932 war sie mit Eugen Wronsky verheiratet.
1933 floh Wronsky vor den Nationalsozialisten nach Palästina, wo sie in der Sozialabteilung der Vaad Leumi, der politisch-administrativen Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinde in Palästina, tätig wurde. Sie engagierte sich in der Ausbildung der Sozialen Arbeit in Palästina, gründete den Berufsverband der Sozialarbeiterinnen Palästinas und wirkte als Gründerin, Verwalterin und wissenschaftliche Leiterin des Institutes für die Ausbildung von Sozialarbeiterinnen sowie der von Vaad Leumi errichteten Bibliothek für Sozialwissenschaften, die später zu ihren Ehren in Siddy-Wronsky-Bibliothek umbenannt wurde. In enger Zusammenarbeit mit Henriette Szold half sie Hunderten von Kindern aus Deutschland bei der Flucht nach Palästina und ihrer dortigen Eingliederung. 1936 nahm sie als Vaad-Leumi-Vertreterin an der 3. Internationalen Konferenz für Soziale Arbeit in London teil. im Alter von 64 Jahren, am 8. Dezember 1947, starb Wronsky in Jerusalem. 72 Jahre später, am 23. Oktober 2019 wurde vor Wronskys ehemaligem Wohnort in der Barstraße 23 in Berlin-Wilmersdorf ein Stolperstein verlegt.
Plädoyer für ein neues 20.-Juli-Gedenken
Angesichts des lebenslangen, unermüdlichen Einsatzes Wronskys für eine bessere Welt, erscheint es wünschenswert, wenn wir heute und an künftigen 20. Julis weniger des belasteten Wehrmachtsoffiziers Stauffenberg und mehr der beeindruckenden, von den Nationalsozialisten in die Flucht gezwungenen, jüdischen Sozialarbeiterin Wronsky, die sich in vielerlei Hinsicht als Vorbild und Inspirationsquelle für unsere heutige Gesellschaft eignete, gedächten und so eine neue Akzentuierung in unserer ›Erinnerungskultur‹ vornähmen …
i Stefan George Archiv in der Württembergischen Landesbibliothek, Mehnert V 2101-4, Feldpostbrief vom 14. September 1939.
ii Ute Oelmann (Hg.), Edition: Briefe der Brüder Stauffenberg, in: George-Jahrbuch 8 (2010/11), S. 153 f.
iii Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, 2. Aufl., München 2010, S. 789.
iv https://www.bmvg.de/de/aktuelles/rede-akk-geloebnis-20-juli-5202350 (zuletzt aufgerufen am 19.07.2023).
v Zu diesen und den folgenden biografischen Daten Wronskys vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Band 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München/New York/London/Paris 1980, S. 836; Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945. Band 2: Sozialpolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1919 bis 1945, Kassel 2018, S. 222 f.