von Bastian Witte
Ziemlich genau 1,8 Millionen Fans hat die deutschsprachige Facebook-Seite mit dem Titel Anonymous (Seitenname: Anonymous.Kollektiv) aktuell. Seit mehr als zwei Jahren betreibt sie eine Kampagne gegen Flüchtlinge, Medien und Vertreter aller etablierten politischen Parteien. Sie hetzt gegen die angeblich „kriminelle Kanzlerin“, die eine „Merkel-Diktatur“ errichtet habe und nun für die „eingeschleppte Migranten-Rotte“ und „illegale Asylforderer“ verantwortlich sei. Mitschuldig seien natürlich die „linksgrünen Zensurterroristen“ von der „Mutti-Multikulti-Presse“. Demonstrierende, die sich gegen die AfD oder PEGIDA wenden, werden als „staatlich bezahlte Linksterroristen“ beschimpft und Bundesjustizminister Heiko Maas für seinen Einsatz gegen Hass-Kommentare im Netz als „Reichsjustizminister“ verunglimpft. Auch Hetzbeiträge gegen die USA und Israel als angebliche Drahtzieher hinter allem Bösen, sowie gegen die typischen personifizierten Projektionsflächen des Antisemitismus (Rockefeller, Rothschild usw.) sind nicht selten. In mindestens jedem zweiten Beitrag wird seit einiger Zeit auch für das Querfront-Magazin Compact geworben oder Artikel aus dessen Online-Auftritt verlinkt.
Ein klein wenig tröstlich wirkt bei all diesen Widerwärtigkeiten die mit der Zeit immer größer werdende Zahl kritischer Kommentare und Medienberichte. Während die Anonymous-Seite selbst einfach massenhaft kritische User sperrt, um sich solcher Stimmen auf der eigenen Seite zu entledigen, sind mit der Zeit auch Watch-Seiten entstanden, die sowohl erlogene Beiträge offen legen, als auch rassistische und antisemitische Beiträge thematisieren. – Und da kommen sie dann, die Einwände, die sowohl in den Kommentarspalten der Medienberichte, als auch der Watch-Seiten auf Facebook immer wieder zu lesen sind:
„Diese Seite steht nicht für das wahre Anonymous!“
So oder so ähnlich lauten die unzähligen Kommentare. Die Seite sei von irgendeinem durchgeknallten und offensichtlich rechtsdrehenden Spinner bloß gekapert worden und ziehe nun den guten Namen in den Dreck. Den Kommentatoren ist es offenbar ein großes Anliegen hier eine Abgrenzung vorzunehmen. Das „wahre Anonymous“, so der Tenor, stehe für etwas Gutes, für hehre Ziele und menschenfreundliche Werte.
Aber ist das wirklich so? Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, lohnt ein kritisches Nachdenken darüber, was dieses Anonymous denn eigentlich ausmacht. Anonymous, so die erste Weisheit, das kann ja jeder sein. Da es weder definierte Strukturen, noch eine Sprecher-Instanz gibt, steht es offenbar jedem Menschen frei, sich mit einem irgendwie gearteten Aktivismus im Internet oder auf der Straße darauf zu berufen, diesem losen Netzwerk anzugehören. Für eine Analyse bleibt also nur die Benennung dessen, worauf sich die Bewegung gefühlt mehrheitlich beruft. Das klingt vage, doch es lässt sich einiges finden.
Da wäre zunächst der Online-Aktivismus. Schaut man auf Wikipedia, findet man dort eine ganze Reihe solcher Aktionen chronologisch aufgelistet: Angefangen bei Attacken gegen die Webseiten von Rechteinhaberverbänden 2010, über die gescheiterte „Operation Zeta“, die sich gegen ein mexikanisches Drogenkartell richtete, bis hin zu den jüngsten Ankündigungen, nun auch gegen den IS vorgehen zu wollen. Bei diesen und vielen weiteren Aktionen hatten sich die Aktivisten darauf berufen, man gehöre zu Anonymous.
Aber sind im Umkehrschluss solcherlei Aktionen automatisch Anonymous-Aktivismus? Gehört jeder, der aus irgendwie idealistischen Motiven Webseiten lahm legt oder Drogenbarone und Warlords ärgert, automatisch diesem Netzwerk an? Selbstverständlich nicht, denn diese Aktionen werden natürlich auch von Aktivisten unternommen, die sich entweder bewusst nicht auf Anonymous berufen oder schlicht gar kein Interesse daran haben unter irgendeinem Label aktiv zu sein.
Was an Anonymous bleibt, ist also vor allem das Pathos, sozusagen der Markenkern, auf den sich einer bezieht, der nachher sagt: „Das war ich und ich gehöre zu Anonymous!“ – und dieser Markenkern wiederum ist inzwischen selbst jedem Internet-Laien wohl bekannt.
Da ist die typische Guy-Fawkes-Maske, die sowohl auf verschiedenen Demos, als auch in den Sozialen Medien, als auch in Video-Statements immer wieder auftaucht: Ein künstliches, erhaben grinsendes Gesicht, das einerseits mit den technischen Fähigkeiten prahlt unerkannt aus der sicheren Verborgenheit agieren zu können, ohne je enttarnt zu werden; das andererseits aber trotz des Credos, es könne jeder sein, wie selbstverständlich einen Bart trägt, sich also irgendwie männlich identifiziert. Ein zweites häufig verwendetes Symbol ist die kopflose Person, vor einem Globus stehend, deren Haupt durch ein Fragezeichen ersetzt ist. Und was trägt die anonyme Figur unterhalb des Kopfes? Anzug und Krawatte. Bart und Herrenkleidung. Vor allem eine bestimmte Gruppe Menschen mag man sich bei Anonymous also nicht so recht vorstellen, wenn von ehrenwertem Engagement und Heldenmut, sowie überlegenen technischen Fähigkeiten die Rede ist: Frauen.
Hinzu kommen zwei ebenso allgemein bekannte Slogans der Marke Anonymous:
Die Korrupten fürchten uns – die Ehrlichen unterstützen uns – die Heroischen schließen sich uns an.
Und:
Wir sind Anonymous. Wir sind viele. Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Erwartet uns.
Die Botschaft ist klar: Anonymous befördert uns kurzerhand in eine dichotome Welt, die nur aus Ehrlichen und Korrupten, also aus Gut und Böse besteht. Man selbst steht natürlich auf der Seite der Guten und Ehrlichen und bekämpft heroisch die dunkle Seite. Um das Bild komplett zu machen, muss noch ein bisschen geprotzt werden, indem eine Drohung angefügt wird: Wen Anonymous einmal in die Schublade „böse“ bzw. „korrupt“ einsortiert hat, der darf weder mit Gnade, noch mit Verjährung rechnen und sollte sich auf den Tag des jüngsten Anonymous-Gerichts einstellen. Wenn die Online-Bürgerwehr zur Selbstjustiz greift, wird Rechtsstaatlichkeit zur Nebensache. Rache und Strafe stehen im Mittelpunkt. Wie das Strafmaß ausfällt, entscheidet Anonymous.
Schaut man sich drittens nun die Video-Statements an, die regelmäßig ihre Runde durch die Medienwelt machen, so zeigt sich, wie diese Elemente schließlich kulminieren. Zuletzt sah man da eine Figur mit eben jener Maske, die an einem Schreibtisch sitzend den Islamischen Staat mit Drohungen überzog und ihm pathetisch den „Krieg“ erklärte – bevor auch nur irgendetwas in dieser Richtung passiert war, wohlgemerkt. Unterlegt ist das Video mit Show-Effekten, wie einem gelegentlich flackernden Bild und rauschendem Ton, so als habe man gerade den größten TV-Kanal der Welt gekapert, wo in Wirklichkeit nichts anderes als ein stinknormales Video auf Youtube hochgeladen wurde, so wie es jeden Tag millionenfach geschieht.
Vor allem der pathetische Habitus steht für die Marke Anonymous also im Vordergrund.
Ist es aber nicht trotzdem ganz sinnvoll den IS zu bekämpfen, indem man seine Propaganda-Kanäle offen legt und damit deren Sperrung ermöglicht? Ist es nicht doch ganz gut entsprechende Webseiten lahm zu legen? Darf man nicht doch mal auf eigene Faust aktiv werden, wo doch im Machtbereich des IS an Rechtsstaatlichkeit sowieso nicht zu denken ist? Ob und wo dieser Aktivismus sinnvoll ist und ab wann er antiaufklärerisch oder gar unkontrollierbar und gefährlich wird, darüber mag sich streiten lassen. Wenn Anonymous-Anhänger israelische Webseiten lahm legen und dabei keinen Hehl aus ihren antisemitischen Vernichtungsphantasien machen, indem sie ankündigen Israel „aus dem Netz zu löschen“, ist überhaupt nichts mehr begrüßenswert und schon gar nicht progressiv. Wenn dagegen Twitter-Accounts der IS-Propaganda offen gelegt werden, sieht die Sache anders aus. Es kann also durchaus ideologiekritisch motivierten Aktivismus geben. Kann!
Eines aber ist trotz allem klar: Das alles geht auch ohne Anonymous-Pathos. Niemandem nützt ein überheblich grinsendes Pimmelgesicht, das sich als oberste Instanz über Recht und Gerechtigkeit aufspielt, großkotzige Drohungen durch den Äther jagt und sich dabei mit albernen Show-Effekten in Szene setzt. Also scheiß auf Anonymous!
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