von Lothar Galow-Bergemann
erschienen in konkret 7/2013 unter dem Titel: Fehlanzeige. Zur seltsamen Abwesenheit von Religionskritik in der sogenannten Islamdebatte.
– auch als Audiodatei verfügbar –
“Ist es aber Wahrheit, daß die Dirne nicht ist Jungfrau funden, so soll man sie hinaus vor die Tür ihres Vaters Hauses führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen.” – “Und jene [Frauen], deren Widerständigkeit ihr befürchtet: ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!” – “Sag [den Juden]: Kann ich euch etwas Schlimmeres verkünden als die Vergeltung Gottes? Welche Gott verflucht hat und über welche er zürnte, hat er in Affen und Schweine verwandelt.” – “Ihr [Juden] seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun.” – Die interessierte Leserin möge bitte selber herausfinden, welche dieser Weisheiten unter Sure 4, Johannes 8, Sure 5 oder 5. Mose nachzulesen ist. Grundsätzlich gilt: Wer eine menschenfeindliche Interpretation seiner heiligen Schrift bevorzugt, braucht nichts anders zu tun als derjenige, dem der Sinn nach Humanerem steht: Auszusuchen, was ihr oder ihm beliebt. Fündig wird sie oder er bestimmt. Trotzdem leiten manche, die sich erstaunlicherweise nicht für Theologen, sondern für Gesellschaftskritiker halten, “das Wesen” von Religionen, vorzugsweise dasjenige des Islam, aus der Exegese heiliger Schriften her. Meister dieses Fachs sind vermeintliche Islamkritiker, deren eigentlicher Antrieb ihre gefühlte Berufung zur Rettung des Abendlandes ist.
Daß sich Religionen voneinander unterscheiden, ist ein Gemeinplatz. Andernfalls hätte man sich schon längst auf den einen und wahren Gott geeinigt und könnte sich Religionskriege wie etwa in Nigeria schenken, wo sich Christen und Muslime seit Jahren gegenseitig abschlachten, ohne daß das hierzulande sonderlich skandalisiert würde. Doch wer glaubt, “das” Christentum sei, “da durch die Aufklärung gegangen”, heute etwas völlig anderes als “der” Islam, ist – sagen wir mal: ziemlich mutig. Wenn Hunderttausende in Caracas die Schmerzen des ans Kreuz genagelten Christus zu erdulden glauben, während sie ihre Trauer um den verstorbenen geliebten Führer zelebrieren, und wenn zur gleichen Zeit eine vergleichbar große Menge ihrer Glaubensgeschwister durch Paris marschiert, um gegen die Homoehe zu krakeelen, muß er jedenfalls beide Augen fest zudrücken. “Das” Christentum gibt es genauso wenig wie “den” Islam. Die vermeintlich unterschiedlichen Entfernungen beider von Aufklärung und Emanzipation erweisen sich regelmäßig als unterschiedliche Entfernungen je einzelner religiöser Strömungen oder Interpretationen.
Doch es reicht nicht, sich auf diese Generallinie zurückzuziehen und zu glauben, damit sei in der “Islamdebatte” bereits alles Notwendige gesagt. Verrät doch schon diese Wortschöpfung selbst, wie wenig Klarheit darüber herrscht, daß außer über Religion und religiösen Fundamentalismus auch über Patriarchat und Antisemitismus, antiorientales beziehungsweise antiokzidentales Ressentiment und die globale Krise der Kapitalverwertung zu reden ist.
Zwar beweisen saudische Milliardäre, daß Reichtum und Luxus vor Misogynie und Antisemitismus nicht schützen; auch gibt es kein Gesetz, demzufolge aus einem Leben in materieller Armut Regression und reaktionäres Menschenbild erwachsen müssen. Und doch erleichtert jenes die Verbreitung dieser unter den Massen ungemein. Zugleich begünstigt eine extrem konservative, gottesfürchtige und schicksalsgläubige Religiosität das allgemeine Desinteresse daran, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das fanatische Bedürfnis gar, es im gottgefälligen Kampf gegen das Böse gleich ganz zu opfern beziehungsweise wenigstens im Tod noch das zeitlebens vorenthaltene Glück zu erringen, kann nur in einem Umfeld gedeihen, das die Überzeugungen des Fanatikers grundsätzlich teilt und allenfalls mal vor “Übertreibungen” warnt. Ein Teufelskreis. Und wie auch immer man den dreht – die Zutaten des Gebräus, von dem sich Regression und Ressentiment nähren, tun in islamisch geprägten Regionen und Communities überdurchschnittlich starke Wirkung. Bestreiten kann dies nur, wer es grundsätzlich für “rassistisch” hält, über Unsympathisches zu reden, das nicht ausschließlich mit den eigenen Lebensumständen zu tun hat.
Daß hierzulande aber “ganz anders als im Islam” die christliche Religion nur noch eine Privatschrulle sei, der man im politischen Raum keine weitere Bedeutung beimessen müsse, ist ein Irrtum. Wann immer nämlich von “Kulturen” die Rede ist – also dauernd -, läßt die Religion nicht lange auf sich warten, wenn es darum geht, näher zu bestimmen, was denn nun eigentlich der Inhalt dieser oder jener Kultur sei. Daß für den Verfasser der Bibel westlicher Kulturkämpfer, Samuel Huntington (Clash of Civilizations, 1996), “die großen Religionen der Welt”, deren christliche Variante er präferierte, von entscheidender Bedeutung für seine Katalogisierung der Menschheit waren, ist bekannt. Weniger wahrgenommen wird leider, wie sehr ihm manch erklärter Anti-Huntington und Warner vor der “Verteuflung des Islam” ähnelt.
So einer ist zum Beispiel Patrick Bahners, New Yorker Kulturkorrespondent und ehemaliger Feuilletonchef der “FAZ” (Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam, 2011). “Wenn der Rechtsstaat die Scharia als Prinzip religiöser Legitimierung von Rechtsnormen nicht wohlwollend betrachten oder auch nur neutral beobachten kann, dann darf dieser Staat auch kein Kirchenrecht gelten lassen”, meint er. Recht so, möchte man ihm beipflichten, also bitte endlich einen Grundsatz der bürgerlichen Revolution verwirklichen und das Kirchenrecht abschaffen. Nicht nur die vielen kirchlichen Beschäftigten, die zwar ohne Mitbestimmung, dafür aber für Gotteslohn arbeiten dürfen, würden sich freuen. Doch nichts läge Bahners ferner. Ganz im Gegenteil, er möchte das Kirchenrecht nicht antasten, dafür aber die Scharia noch obendrauf packen. Zwar hat er andere Vorstellungen als Huntington vom Umgang mit “dem” Islam, doch auch er ist von der Furcht getrieben, der eigene Gottesglaube und seine staatlich privilegierte Stellung und Präsenz im öffentlichen Raum könne in Bedrängnis geraten.
Bahners, der Ayaan Hirsi Alis Bemerkung, sie glaube schon seit langem, “daß der Prophet Mohammed Unrecht hatte, als er die Frauen den Männern unterordnete”, “das Glaubensbekenntnis einer Konvertitin” genannt hat, entpuppt sich als das, was zu bekämpfen er sich einbildet – als Fundamentalist, der ein Problem mit zivilisatorischen Standards hat. Auch das Forum Deutscher Katholiken sieht im Islam einen “natürlichen Verbündeten”. Gemeinsam mit ihm müsse man sich den “zahlreichen Herausforderungen stellen, die eine gottferne Zeit uns aufgibt”. Die lautesten Befürworter islamischen Religionsunterrichts sind denn auch die Kirchen. Schließlich geht es darum, ein allgemeines Fach Religions- und Weltanschauungskunde zu verhindern, das die religiöse Indoktrinierung von Kindern erschweren würde. Was ja durchaus auf eine Gleichstellung der Religionen hinausliefe. Aber eben eine, die mit der Trennung von Kirche und Staat ernst machte.
Sehr zupaß kommt jenen, die von einer Kritik des Islam nichts wissen wollen, weil sie Religionskritik überhaupt fürchten, daß sich der verbreitete Hass auf Musliminnen und Muslime mit Vorliebe als “Islamkritik” tarnt. Kommentare und Besucherzahlen einschlägiger Websites, auf denen sich wohlanständige Staatsbürger im Schutz der Anonymität auskotzen, sprechen ebenso Bände wie Umfragen, die eine mehrheitliche Unterstützung für Thilo Sarrazins Hetze gegen Menschen dokumentieren, “die ökonomisch nicht gebraucht werden” und “ständig kleine Kopftuchmädchen produzieren”. Für das Aus- und Abgrenzungsbedürfnis der autoritären Charaktere haben “die Muslime” als diejenigen, die “nicht hierher gehören und gefälligst verschwinden sollen” die Nachfolge der “Gammler und Kommunisten” angetreten, denen früher einmal der brave westdeutsche Bürger mit Nachdruck empfahl, “doch nach drüben zu gehen”. Dieses Kollektiv der vermeintlich Guten trägt die Fahne einer “christlich-westlichen Leitkultur” vor sich her, die seit neuestem aus durchsichtigen Gründen auch schon mal zur “christlich-jüdischen” mutieren kann. Wo doch, wie Henryk Broder richtig anmerkte, viel eher von einer christlich-antijüdischen Tradition in Europa die Rede sein müßte.
Menschen, die wegen ihres Glaubens Nachteile erleiden, sind vor Diskriminierung zu schützen. Nicht aber Religionen vor Kritik. Das sind zwei paar Stiefel, die immer wieder verwechselt werden – besonders von Leuten, die sich mit viel Recht gegen die Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen engagieren. Hintergrund dieses Engagements ist oft eine paradoxe Verarbeitung des Holocaust. Aus der Erinnerung an ihn, schreibt etwa Kay Sokolowsky, (Feindbild Moslem, 2009) resultiere “die moralische Verpflichtung, die andern zu akzeptieren wie sie sind”. Dieser Grundsatz ist unbedingt richtig, solange er sich dem Kampf gegen Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit verschreibt. Verkommt er aber zum Kritikverbot an Kritikwürdigem – dann nämlich, wenn es von “andern” gedacht, vertreten und praktiziert wird – wird er ebenso unbedingt falsch. “Ich möchte alle aufgeklärten Muslime und Musliminnen aufrufen, sich der Verantwortung nicht zu entziehen und sich einzumischen in die Reformbewegungen im Islam, die notwendig sind, um der Diskriminierung von Frauen, der Gewalt und dem Terror, der im Namen des Islam betrieben wird, Einhalt zu gebieten. Die konservativen, die orthodoxen, die fundamentalistischen und die gewaltbereiten Muslime sind organisiert. Wir Reformer sind es noch nicht, höchste Zeit also, dass wir uns zusammenschließen”, schreibt die Muslimin Seyran Ateş (Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, Eine Streitschrift, 2009).
Solidarität mit Musliminnen und Muslimen gegen Diskriminierung hätte sich mit Leuten wie Ateş zu verbünden. Denn natürlich muss der Gedanke einer multikulturellen Gesellschaft gerade in Zeiten eines anschwellenden Fremdenhasses verteidigt werden. Doch nicht wenige Linke und Liberale haben der Sache letztlich einen Bärendienst erwiesen. Weil sie Multikulti nur in der Form der Xenophilie denken können und es nicht verstehen, Migranten- und Migrationsfreundlichkeit mit Kritik an Antisemitismus, Homophobie und Frauenunterdrückung zu verbinden, haben sie es rechtspopulistischen Verteidigern des christlichen Abendlandes leicht gemacht, die sich als die einzigen aufspielen, die überhaupt noch darüber reden. So haben Linke tragischerweise, da in bester Absicht, eine erschreckende rechte Hegemonie in einem immer fremdenfeindlicher werdenden gesellschaftlichen Diskurs mit befördert.
Das Zusammenspiel von linker Kritikvergessenheit und rechtskonservativer Diskurshoheit ließ sich auch am Schicksal der Initiative der ehemaligen niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan beobachten, die doch tatsächlich nicht nur das Kopftuch, sondern auch das Kruzifix aus den Schulen verbannen wollte. Wie nicht anders zu erwarten, musste sie unter dem Wutgeheul ihrer christdemokratischen Parteifreunde umgehend abschwören. Ihren Job hätte sie sonst an den Nagel hängen können. Doch obwohl sie im Grunde eine urlinke Forderung gestellt hatte, nämlich die nach der Trennung von Staat und Religion, schloss sich auch aus dem linken politischen Spektrum kaum jemand ihrem Vorschlag an.
Die meisten Linken haben die Religionskritik entsorgt. Nirgends wird dies deutlicher als an ihrer Affirmation des Begriffs “Islamophobie”. Dass ein Phobiker – also krank – sei, wer etwas gegen eine Religion hat, haben religiöse Eiferer schon immer behauptet. Dass diese dafür ausgerechnet von links Beifall erhalten, ist dagegen ein historisch relativ neues Phänomen. Nicht entsorgt haben diese Linken allerdings ihr Unverständnis des Antisemitismus, den sie für so etwas Ähnliches halten wie jene ominöse “Islamophobie”. Als ob “den Muslimen” unterstellt würde, Geldwirtschaft und Finanzsphäre zu beherrschen, als ob in ihnen die Verkörperung einer “Gier” gesehen würde, die die “ehrliche Arbeit” unterwühle, als ob sie für alles Übel dieser Welt verantwortlich gemacht würden und man sich ihre Vernichtung wünschte. Aber zu glauben, man könne gegen Antisemitismus sein, ohne eine Ahnung von ihm zu haben, ist sowieso der deutsche Normalfall. Es wäre verwunderlich, wenn es ausgerechnet in der “Islamdebatte” anders wäre.
Eine Christin, die sich gegen Homophobie engagiert und ein Muslim, der sich für Frauenrechte einsetzt, sind selbstverständlich tausendmal sympathischer als all ihre Pius- und Moslembrüder zusammen. Wie sie es schaffen, bei dem, was sie tun, große Teile ihrer heiligen Schriften auszublenden, möge ihr Geheimnis bleiben. Schließlich spricht Jesus gemäß dem Evangelisten Markus, Kapitel 9, Vers 23: “Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.” Wer allerdings behauptet, “das Wesen” ihrer Religion hindere ausgerechnet Musliminnen und Muslime prinzipiell daran, säkular zu sein, müsste nachweisen, dass die periodischen Massenaufstände gegen den iranischen Gottesstaat allesamt von Christen und Atheisten veranstaltet werden.
Natürlich wird auch der widerwärtige Kult um die “Ehre”, unter dem besonders die Frauen, aber auch Männer leiden, selbstverständlich im Glauben fündig. Und doch kann man darüber nicht reden und vom Patriarchat schweigen, das bekanntlich keine exklusive Eigenschaft des Orients ist. Zieht man in Betracht, dass sich im christlichen Europa vor noch gar nicht langer Zeit Herren der Schöpfung ihrer “Ehre” wegen gegenseitig über den Haufen geschossen haben und auch heute noch der Hass auf so genannte “Nestbeschmutzer” verbreitet ist, in dem Elemente patriarchaler Clanwelten munter fortleben, so wird klar, dass es am wenigsten mit einer vermeintlich “besseren Religion” zu tun hat, wenn es hierzulande in allerjüngster Zeit einige Fortschritte in Richtung Gleichstellung der Geschlechter gegeben hat. Dem Islam vor diesem Hintergrund gar den Status einer Religion abzusprechen und ihn zur “Ideologie” zu erklären, ist selber ideologisch. Solange Religionskritik lediglich in der Form ahistorischer und außergesellschaftlicher “Islamkritik” wiederaufersteht, die sich in die Auslegung heiliger Schriften vertieft, läuft sie in die Ratzinger-Falle. Der übte sich bekanntlich in der Quadratur des Kreises und erklärte seine Religion zur besseren, weil sie “vernunftgeleitet” sei.
Sein Nachfolger hat für solche intellektuellen Mätzchen sowieso nichts übrig. Es sei “das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann”, so Papst Franziskus, “dass er sich von den ,Irrlichtern’ der Vernunft führen lässt”. Dann würde er nämlich “zu einem Intellektuellen”. Eine Vorstellung, vor der dem Pontifex offenbar besonders graust. (Jorge Mario Bergoglio, Offener Geist und gläubiges Herz: Biblische Betrachtungen eines Seelsorgers, 2013).
Wes Heiligen Geistes Kind Bergoglio ist, unterstreicht auch seine Überzeugung, die Saat des Glaubens finde keinen Halt “auf einem Boden, der nicht vom Schmerz gepflügt worden ist”. Der unverschämte Anspruch, das Leben genießen und Leiden vermindern zu wollen, ist eben nicht nur Islamisten unerträglich, die den Westen gerade für die Popularität dieses Versprechens hassen. Das Gift der Lebenslust fürchtet, wer mit Inbrunst das Abbild eines zu Tode gefolterten Menschen vor sich herträgt.
Doch Millionen hoffen auf “Erneuerung” durch Franziskus, und Begriffe wie “Demut”, “Annehmen” und “Spiritualität” machen eine beängstigende Karriere. Zwar hat Religion, anders als der Positivismus, wenigstens noch eine Ahnung davon, dass es etwas besseres geben sollte als die Welt, so wie sie ist. Aber sie verlegt die Hoffnung aus ihr und dem Menschen hinaus. Das macht sie so kompatibel mit den globalen Verwerfungen kapitalistischer Krisenprozesse. Wo keine Alternative zum täglichen Horror der unsichtbaren Hand des Marktes in Sicht ist, bietet es sich an, die Erfüllung seiner Wünsche in windige Sphären zu verlagern. “Höhere Mächte” haben Konjunktur. Dass Menschen solche über sich walten wähnen, ist seit jeher Bestandteil wie Indikator menschenunwürdiger Verhältnisse. Religionskritik aber ist Arbeit an deren Überwindung.
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