1.Mai-Demo in Stuttgart – Polizei beim Flunkern ertappt

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 691 am 26. Juni 2024 unter dem Titel „Langsame Mühlen“)

Nach einem rabiaten Einsatz am 1. Mai 2024 hat Kontext die Stuttgarter Polizei beim Flunkern ertappt. Noch immer sind einige Fragen zu vermeintlichen Beweismitteln offen – doch Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz verweigern die Auskunft.

Nachdem beim Einsatz zum „Revolutionären 1. Mai“ in Stuttgart mehr als 90 Demonstrant:innen durch Pfefferspray und Schlagstöcke verletzt worden waren, gab die Polizei eine Pressemitteilung heraus: Demnach sei der Demozug wegen zu langer Seitentransparante gestoppt und „mittels Lautsprecherdurchsagen mehrfach“ auf die Einhaltung der Auflagen hingewiesen worden. Dann hätten die Demonstrant:innen „unvermittelt“ mit „Pfefferspray, mitgeführten Dachlatten mit Schrauben, anderen Schlagwerkzeugen, Schlägen und Tritten“ angegriffen.

Kontext liegen allerdings mehrere Stunden Videomaterial und Augenzeugenberichte vor, die belegen, dass es gar keine Lautsprecherdurchsagen gegeben hat, bevor die Polizei unvermittelt Pfefferspray und Schlagwerkzeuge einsetzte. Aus dem Material ist auch kein ursprünglicher Angriff durch Demonstrant:innen zu erkennen. Es kam dann zu 167 Festnahmen, wobei die Personen von der Polizei eingekesselt wurden und zahlreiche Gegenstände konfisziert worden sind.

In der anschließenden Pressemitteilung ist die Rede von sichergestellter Pyrotechnik, Feuerlöschern, Rauchtöpfen und Handschuhen – aber zum Beispiel nicht von Pfefferspray. In der Auflistung findet sich keine Waffe und auch sonst nichts Verbotenes. Also hat sich Kontext erkundigt, welche gefährlichen Gegenstände darunter gewesen waren. Doch eine Auskunft gibt es nicht von der Polizei – sie verweist nur allgemein auf „ermittlungstaktische Gründe“.

Eine eigenartige Ermittlungstaktik ist das: Noch am 1. Mai hatte die Stuttgarter Polizei auf ihren Social-Media-Kanälen „sichergestellte Gegenstände“ präsentiert. Und zwar drei Objekte: ein Demo-Plakat ohne Stiel und zwei Dachlatten, aus denen Schrauben herausstehen.

Die Kontext vorliegenden Bild- und Videoaufnahmen belegen jedoch, dass das in der Pressemitteilung präsentierte Demo-Plakat seinen Stiel noch hatte, als es von der Polizei beschlagnahmt wurde. Und die eine Dachlatte, die gezeigt wird, sieht so aus, als könnte sie eben jener fehlende Stiel sein. Auch bei der anderen Dachlatte soll es sich laut Demonstrant:innen um die Halterung eines Transparentes handeln. Sie behaupten, die Polizei würde hier ganz normale Demo-Gegenstände zu Angriffswerkzeugen umdeuten. Hat die Polizei etwa den Stiel eines Plakats selbst entfernt, um ihn anschließend als Waffe zu inszenieren?

Kurioserweise kann die Stuttgarter Polizei das auf Kontext-Anfrage nicht ausschließen und verweist auf laufende Ermittlungen. Gab es neben diesen zwei Dachlatten noch andere Waffen? Insgesamt seien über 100 Gegenstände beschlagnahmt worden, teilte ein Sprecher mit. Da diese aber erst noch klassifiziert werden müssten, sei gegenwärtig keine Aussage möglich, ob etwas Verbotenes darunter war, hieß es am 6. Mai auf Anfrage von Kontext.

Diese Aussagen sind auch viele Wochen später noch nicht möglich. Zwar scheinen die beschlagnahmten Gegenstände mittlerweile klassifiziert worden zu sein. Zu verraten, um was es sich handelt, könnte ihre Ermittlungen gefährden, heißt es jetzt von der Polizei.

Vielleicht ist ja die Staatsanwaltschaft auskunftsfreudiger. Doch auch sie teilt zunächst mit, dass weitere Ermittlungshandlungen ausstünden, „insbesondere Vernehmungen, die durch die Erteilung von Auskünften zu etwaigen sichergestellten Gegenständen beeinträchtigt werden könnten“. Dies verwundert insofern, als dass sich die Polizei ja selbst dazu entschieden hat, gleich am 1. Mai eine Auswahl an „sichergestellten Gegenständen“ zu veröffentlichen. Warum hat dies Vernehmungen nicht beeinträchtigt und warum wurde dadurch der Ermittlungserfolg nicht gefährdet? Und ist das nicht ein bisschen einseitig: Erst vermeintliche Belege für eine Gefährdung durch Demonstrant:innen präsentieren und dann, wenn Zweifel an der Authentizität aufkommen, einfach überhaupt keine Angaben mehr machen? Der Staatsanwalt kann diese Fragen aus dem Stegreif nicht am Telefon beantworten und stellt eine schriftliche Auskunft in Aussicht. Einen Tag später folgt die Mail: „Vielen Dank für Ihre Nachfrage. Wenden Sie sich insoweit bitte zuständigkeitshalber an die Pressestelle des Polizeipräsidiums Stuttgart.“

Ein Glück: Verfassungsschutz hat Erkenntnisse

Damit scheint die Recherche einen toten Punkt erreicht zu haben. Doch eine Hoffnung gibt es noch: So hat der baden-württembergische Verfassungsschutz eine Einschätzung zum 1. Mai in Stuttgart veröffentlicht – und der Geheimdienst übernimmt dabei interessanterweise nicht die Darstellung der Polizei, wonach es Lautsprecherdurchsagen vor dem Schlagstockeinsatz und einen Demonstrantenangriff mit Pfefferspray gegeben habe. Auch ist hier keine Rede von mit Schrauben präparierten Dachlatten, sondern lediglich von „Schlagwerkzeugen“, was zum Beispiel auch eine Fahne sein könnte. Dennoch kommt die Behörde schlussendlich zum Fazit, die „offenkundig vorbereitete Auseinandersetzung mit der Polizei“ zeige „einmal mehr die mangelnde Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols durch Linksextremisten“.

Wie aber gelangt der Verfassungsschutz zur Einschätzung, dass diese Auseinandersetzung von den Linksextremisten „offenkundig vorbereitet“ gewesen sei? Gibt es dafür Indizien oder Beweise? „Die transportierte Einschätzung basiert auf den hier vorliegenden relevanten Erkenntnissen“, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. So kommt zumindest niemand auf die Idee, das Amt arbeite auf Grundlage nicht vorhandener irrelevanter Erkenntnisse. Welche relevanten Erkenntnisse nun genau vorliegen, muss jedoch geheim bleiben. Ob dem Verfassungsschutz bekannt ist, welche Gegenstände und insbesondere Waffen im Zuge der Ausschreitungen beschlagnahmt worden sind? „Zum Demonstrationsgeschehen sind laufende polizeiliche Ermittlungen anhängig. Aus Gründen der Zuständigkeit verweise ich Sie diesbezüglich an die Staatsanwaltschaft Stuttgart“, schließt der Sprecher den Kreis.

Vielleicht werden die Vorgänge aber irgendwann doch noch aufgeklärt. Im Stuttgarter Gemeinderat hat die FrAktion am 16. Mai 2024 einen Antrag gestellt, den Polizeieinsatz zu überprüfen und dabei auch zu klären, wie und warum eine fehlerhafte Pressemitteilung verbreitet wurde. Doch bis wann die Stadtverwaltung in der Lage sein wird, das zu beantworten, ist eine heikle Frage. Denn schon ein Jahr zuvor, am 5. Mai 2023, stellte die FrAktion einen ganz ähnlichen Antrag: Damals hatte die Polizei eine Demonstration am 1. Mai gestoppt, weil verbotenerweise ein Rauchtopf brannte, und ebenfalls Pfefferspray und Schlagstock eingesetzt. Vor Ort erklärte ein Polizeisprecher damals gegenüber Kontext, es habe nach dem Anhalten des Demozuges ein Gerangel gegeben, bevor die Staatsmacht zur Gewaltanwendung überging. Später behauptete die Polizei erneut, dass es einen gezielten Angriff gegeben habe – ohne Belege zu präsentieren.

Für die Stuttgarter Stadtverwaltung waren die seitdem vergangenen 13 Monate zu wenig Zeit, um die Fragen zum damaligen Einsatz zu beantworten. Und eine Auskunft der Polizei würde wohl die Ermittlungstaktik gefährden, denn die Ermittlungen dauern noch an. Ein Gerichtsurteil gegen einen gewalttätigen Demonstranten, zum Beispiel wegen Körperverletzung, hat es bislang noch nicht gegeben. Und so bleibt wohl nicht viel mehr, als geduldig zu sein.

Siehe dazu auch:

1.-Mai-Demo in Stuttgart – Fake News von der Polizei

von Minh Schredle