Extrem sind immer die anderen

Über Haftstrafen nach Klimaprotesten und den Ungehorsam der Bundesregierung

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 624 am 15. März 2023)

Das Amtsgericht Heilbronn verhängt Haftstrafen fürs Festkleben auf einer Straße, keine Bewährung. Die anhaltende Hetze gegen die Letzte Generation dürfte ein Klima begünstigen, das härteste Strafen als geboten erscheinen lässt.

Wer sich der Umwelt zuliebe an Blockade-Aktionen beteiligt, sollte aufpassen, nicht vor dem Amtsgericht Heilbronn zu landen. Dort verhängte Richterin Julia Schmitt am 6. März erstmals Haftstrafen wegen einer Aktion der Letzten Generation. Genau einen Monat zuvor hatten fünf Aktivist:innen eine Straße in Heilbronn für zwei Stunden blockiert, zwei der Beschuldigten klebten sich dabei fest – und sollen nun für zwei beziehungsweise drei Monate hinter Gitter. Ohne Bewährung. Ihr Kollege Michael Reißer, am Gericht zuständig für die Pressearbeit, kommentiert dazu in der „Bild“-Zeitung: „Die jüngeren Angeklagten hatten schon mehrfach Straßen blockiert. Zudem wollten sie es wieder tun. Deshalb hielt die Richterin eine Haftstrafe für angemessen.“

Harte Strafen gegen Umwelt-Aktivist:innen verhängt das Amtsgericht Heilbronn nicht zum ersten Mal. Ein Skandal war der Umgang mit der rheumakranken Rollstuhlfahrerin Cécile Lecomte. Die 1981 geborene Aktivistin beteiligte sich im November 2017 am Protest gegen Atommülltransporte per Schiff und stieg dafür mit Gleichgesinnten, aufblasbaren Gummi-Enten und im Neoprenanzug frühmorgens in den Neckar. Das Ordnungsamt Heilbronn ließ die Versammlung auflösen mit der Begründung, dass sich die Aktivist:innen beim Baden bei derart niedrigen Temperaturen selbst gefährden würden – und weil die bewegungseingeschränkte Lecomte der Polizei zu lange brauchte, das Wasser zu verlassen, halfen die Ordnungshüter:innen nach.

Für den unfreiwilligen Abtransport berechnete die Stadt Heilbronn ein Bußgeld in Höhe von 150 Euro, dagegen wollte sich die Betroffene wehren und bei der Gerichtsverhandlung kommt es zum Eklat. Richter Michael Reißer, kommunalpolitisch für die CDU aktiv, lehnt drei Wahlverteidiger von Lecomte ab und gewährt keinen Pflichtverteidiger. Alle 17 Beweisanträge der sich notgedrungenermaßen selbst verteidigenden Aktivistin werden ebenfalls abgelehnt. Da rutscht ihr der verhängnisvolle Satz heraus. „Ich weiß, dass Ihnen meine Beweisführung am Arsch vorbeigeht.“ Richter Reißer verhängt ein Bußgeld von 300 Euro. Als Lecomte daraufhin „Kikeriki!“ ruft, verschärft der Richter das Strafmaß: drei Tage Ordnungshaft mit sofortigem Vollzug. In der JVA Hohenasperg werden der chronisch Erkrankten ärztlich verschriebene Medikamente verweigert, Lecomte bekommt einen Rheumaschub und Krampfanfälle. Später stellten andere Gerichte fest, dass die Auflösung der Versammlung, der Polizeieinsatz, das gegen Lecomte verhängte Ordnungsgeld und ihre Haftbedingungen allesamt rechtswidrig waren.

Wer im Knast sitz und wer nicht

Auch im aktuellen Fall mutet merkwürdig an, wenn Umwelt-Aktivist:innen so schnell hinter Gittern landen. Zumal bei einem Blick auf andere Urteile: Mehrfach auffällig geworden ist auch ein 69-jähriger Priester, der wiederholt Minderjährige sexuell genötigt haben soll. Hier hielt das Landgericht Saarbrücken eine Bewährungsstrafe für angemessen. Weitere Beispiele aus der jungen Vergangenheit: Ein Mann ruft in Bad Hersfeld „Sieg Heil“ und zeigt den Hitlergruß; ein Raserunfall auf der Autobahn endet tödlich; ein Bürger in Lahr bewirft einen Radfahrer mit einem Kettenschloss; ein Professor züchtigt seine Doktorandin mit Bambusstock; ein 30-Jähriger vergewaltigt eine 15-Jährige – in all diesen Fällen wurde der Freiheitsentzug nur angedroht, aber den Delinquenten blieb eine Gelegenheit, sich zu bewähren.

Ob jemand eingesperrt wird oder nicht, hängt aber nicht allein von der Schwere einer Straftat ab, ein Faktor ist auch die Kriminalprognose: also eine Vorhersage darüber, ob eine Person einen Rechtsbruch mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholen wird. Im Fall der verurteilten Aktivist:innen haben sie erneute Blockaden nicht nur angekündigt – einer von ihnen klebte sich kurz nach der Verhandlung schon wieder an einer Straße fest. Der Jurist Thomas Fischer, früherer Richter am Bundesgerichtshofs, befürwortet vor diesem Hintergrund Haftstrafen. Die Aktionen der Letzten Generation legt er nicht als zivilen, sondern militanten Ungehorsam aus. Auf dem Fachportal „Legal Tribute Online“ schreibt er dazu: „Gewalt im strafrechtlichen Sinn ist das Einwirken körperlicher Kraftentfaltung auf einen Körper oder Gegenstand. Dass dies gegeben ist, wenn ein Mensch mittels Errichten einer unüberwindlichen physischen Sperre an der Fortbewegung gehindert wird, ist evident und bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterung.“

Doch Fischers Rechtsauffassung ist nicht unumstritten. In einem Beitrag für die taz kommentiert Anwalt Johannes Eisenberg, dass die Erklärung der Angeklagten, weitermachen zu wollen, eine entscheidende Frage aufwerfe: ob der Freiheitsentzug überhaupt den beabsichtigten Zweck erfülle. „Die Strafe wirkt nicht generalpräventiv, weil die Mehrheit der Bevölkerung es den Aktivisten nicht gleichtun wird. Sie wirkt nicht spezialpräventiv, weil die Klimakleber sich dadurch nicht von ihrem Tun abhalten lassen. Damit wirken die Urteile als Vergeltung an Leuten, die sich nicht fügen, und sie zielen darauf, die Leute zu brechen.“

In Berlin gab`s eine Geldbusse

Dass die rechtlichen Bewertungen sehr unterschiedlich ausfallen, wird auch am breiten Spektrum der Urteile deutlich. Vereinzelt gab es sogar Blockade-Aktionen, die mit einem Freispruch endeten, weil Richter:innen der Ansicht waren, dass die Nötigung von Autofahrer:innen zum Zweck des Klimaschutzes keine verwerfliche Handlung sei. Auf eine solche Entscheidung hatte Carla Hinrichs gehofft. Die 26-jährige Pressesprecherin der Letzten Generation musste sich jüngst vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten und schildert denkwürdige Szenen.

Gleich am ersten Prozesstag habe der Richter seine Einschätzung abgegeben, dass die Menschheit aufgrund ihrer gegebenen Dummheit sowieso aussterben werde. Als die Aktivistin sagte, sie wolle das Leben auf der Erde schützen, soll er sich erkundigt haben: „Kakerlaken auch?“ Der Richter habe von Anfang an durchscheinen lassen, dass er von der Strafbarkeit von Hinrichs Straßenblockaden überzeugt sei – und beim Urteil führte er aus: „Sie haben die Autofahrer als Geiseln genommen. Was Sie getan haben, ist nahe dran an einer Freiheitsberaubung. Sie wollen die Regierung zum Handeln erpressen.“ Dennoch sah er von einer Haftstrafe ab und entschied sich für eine Geldbuße.

Einerseits gelingt es dem überschaubaren Personenspektrum hinter der Letzten Generation mit ihren Aktionen für eine mediale Dauerpräsenz für den vernachlässigten Klimaschutz zu sorgen. Mitunter irritieren Aussagen und Aktionen aber auch Sympathisant:innen einer ökologischen Wende. Bernd Ulrich etwa, stellvertretender Chefredakteur der „Zeit“, betonte kürzlich, dass sich der Austausch mit den Aktivist:innen absolut lohne. Als diese aber im Februar einen Baum vor dem Kanzleramt fällten, um zu signalisieren, dass die Regierung den Ast, auf dem sie sitzt, absäge, kommentierte er auf Twitter: „Ich komme da nicht mehr mit. Das ist so verdreht, verkopft und unvermittelbar.“ Das, was man selber schützen will, zu zerstören, ergebe für ihn absolut keinen Sinn.

Auch die Bundesregierung ist ungehorsam

Vergangenen November hatte Ulrich in einem Essay auf die brisante Ausgangslage verwiesen: „Während die Klimakrise eskaliert, bleiben die politischen Maßnahmen zu ihrer Eindämmung nach wie vor weit hinter dem Notwendigen und dem bereits Beschlossenen zurück, auch in Deutschland.“ Als Gegenstück zum zivilen spricht Ulrich von „exekutivem Ungehorsam“, den er unter anderem bei Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) verortet, weil dieser mit seiner Politik „ganz offensichtlich gegen den Geist des Karlsruher Klima-Urteils vom 29. April 2021 verstößt“.

Um die Freiheiten künftiger Generationen zu schützen, hatte das Bundesverfassungsgericht damals die Bundesregierung angehalten, ihre Klimaschutzmaßnahmen zu intensivieren – ohne dass sich das bislang in erforderlichem Umfang niedergeschlagen hätte. Laut Ulrich sollte man daher „diese jungen, ungehorsamen Menschen lieber nicht als kriminell bezeichnen, sonst könnten sie einen selbst im Gegenzug womöglich ebenfalls als Verfassungsbrecher bezeichnen“.

Allerdings hält sich das Verständnis für den Ungehorsam bei vielen in Grenzen. Zwar erklärte der Chef des Verfassungsschutzes höchstpersönlich, dass er die Letzte Generation mit ihren Forderungen nach einem Tempolimit und einem 9-Euro-Ticket nicht für extremistisch hält: „Anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert.“

Doch verschiedene Funktionsträger hielt diese Wortmeldung nicht von einer drastischen Radikalisierung ihrer Rhetorik ab. Als die Letzte Generation die Glasskulptur „Grundgesetz 49″ mit einer abwaschbaren Flüssigkeit übergoß, empörte sich etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Roth: „Was für eine billige, würdelose Aktion. Ihr scheißt auf die Grundrechte, zerstört Kunst ähnlich wie die Taliban.“ Wenn Mandatsträger:innen nahezu täglich den vermeintlichen „Terroristen“ der „Klima-RAF“ einen „Ulrike-Meinhof-Sound“ andichten, dürfte das ein gesellschaftliches Klima befördern, das harte Strafen bis hin zum Freiheitsentzug als geboten erscheinen lässt.