Verschwörungsglaube, Populismus und Protest

von Laura Luise Hammel

erschienen in Politikum Heft 3-2017

Sie warnen vor den Gefahren durch Chemtrails und gehen gegen die Strippenzieher der Neuen Weltordnung auf die Straße. In den letzten Jahren beobachten Experten die Entstehung einer Vielzahl von Protestbewegungen, in denen eine starke politische Entfremdung mit dem Potential für populistische Vereinnahmung und dem Glauben an Verschwörungstheorien einherzugehen scheint. Haben wir es mit einem neuen Typ von Protestbewegung in der Bundesrepublik zu tun?

Berlin an einem Sonntag im März 2017: Auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor versammeln sich einige Dutzend Menschen zur „158. Mahnwache für den ersten Weltfrieden“. Sie begehen an diesem Tag das dreijährige Jubiläum ihrer Protestbewegung, der Mahnwachen für den Frieden.

Die Mahnwachen für den Frieden sind eine von vielen jungen deutschen Protestbewegungen die in den letzten Jahren entstanden sind, sie gründeten sich im Frühjahr 2014 als Reaktion auf die Zuspitzung des Ukraine-Konflikts. In Furcht vor einem Krieg, der sich über ganz Europa ausbreiten könnte, beschlossen die Aktivisten der Mahnwachen nun fortan für Frieden zu demonstrieren. Von Berlin aus wuchs die Graswurzelbewegung innerhalb weniger Wochen in den Frühlings- und Sommermonaten des Jahres 2014 rasant an und zählte auf ihrem Höhepunkt über 150 lokale Mahnwachen in der Bundesrepublik. Aber auch in vereinzelten Städten in Österreich und der Schweiz gingen Menschen unter dem Label Mahnwachen auf die Straße. Die Teilnehmerzahlen variierten dabei stark: bei kleineren lokale Mahnwachen versammelten sich einige Dutzend, in Berlin, Frankfurt am Main oder München kamen in der Hochphase auch schon mal mehrere hundert Menschen zu den wöchentlichen Treffen. Zu ihren größten Aktionen in Berlin im Sommer 2014 gelang es der neuen Protestbewegung bis zu 3.000 Menschen zu mobilisieren. Ein beachtlicher Erfolg, bedenkt man, dass die Aktivisten hierbei nicht auf die Unterstützung durch bestehende etablierte politische Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zurück greifen konnten, vor den Mahnwachen in den meisten Fällen noch keine eigene Protesterfahrung gesammelt hatten und über keine nennenswerten finanziellen Mittel für die Bewerbung ihrer Kundgebungen verfügten.

Für Beobachter der Mahnwachen war neben einer generellen Feindschaft der Demonstranten gegenüber politischen und gesellschaftlichen Eliten, etablierten Medien und Wissenschaft, sowie einer von den Aktivisten forcierten Querfrontstrategie, also dem Bestreben sowohl für rechte, als auch linke politische Kräfte anschlussfähig zu sein, vor allem die starke Präsenz von Verschwörungstheorien innerhalb der neuen Bewegung auffallend. Die Aktivisten der Mahnwachen nennen sich „Wahrheitssucher“ oder „Infokrieger“, sie sind der Meinung es herrsche in Deutschland, aber auch weltweit eine gezielte Desinformationskampagne durch mächtige Zirkel, welche Medien, Wirtschaft und Politik kontrollieren. Auf ihren Mahnwachen sprechen sie darüber, dass die Terroranschläge des 11. September von der amerikanischen Regierung gezielt inszeniert wurden, um die späteren militärischen Interventionen in Afghanistan (ab 2001) und dem Irak (2003-2011) rechtfertigen zu können und dass die amerikanische Zentralbank, die Federal Reserve Bank (FED), als Drahtzieherin dieser Kriegspolitik verantwortlich für alle weltweiten Kriege der letzten hundert Jahre sei. Darüber hinaus warnen sie beispielsweise auch vor den gesundheitlichen Gefahren durch sogenannte Chemtrails. Gemeint sind die Kondensstreifen von Flugzeugen, die aus Sicht der Anhänger dieser Verschwörungstheorie in Wahrheit dazu genutzt würden um einen Cocktail aus giftigen Substanzen, bestehend aus Metallen wie Aluminium und Barium, Chemikalien, Bakterien, Pilzen, Impfstoffen und Nanorobotern zu versprühen. Durch die Chemtrails werde das menschliche Immunsystem massiv geschwächt, ihre giftigen Inhaltsstoffe seien verantwortlich für die typischen Zivilisationskrankheiten wie Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder sogar Krebs. Dadurch dass sich Chemtrails mindernd auf das menschliche Intelligenzvermögen auswirkten, werde die Bevölkerungskontrolle überhaupt erst möglich gemacht. Ziel des geheimen Chemtrail-Programms einer im Verborgenen agierenden Weltelite sei die Reduzierung und Versklavung der globalen Bevölkerung.

Mit ihrer Offenheit für verschwörungstheoretische Weltdeutungsmuster stehen die Mahnwachen für den Frieden in der bundesdeutschen Bewegungslandschaft allerdings nicht isoliert da, Experten beobachten in den letzten Jahren quer durch die Republik immer wieder die Gründung von Protestbewegungen in denen Verschwörungstheorien eine zentrale Rolle zu spielen scheinen. Die für sie prägenden Verschwörungstheorien sind dabei so heterogen wie die Themen zu denen sie demonstrieren. Um nur einige wenige aktuelle Beispiele zu nennen:

  • Angelehnt an die französische Manif pour tous-Bewegung (dt. „Demo für alle“) gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich, demonstriert bei der Stuttgarter Demo für Alle seit Mai 2014 in unregelmäßigen Abständen ein heterogenes Bündnis mit Verbindungen zur Alternative für Deutschland (AfD), gegen den von der baden-württembergischen Grün-Roten Landesregierung (Kabinett Kretschmann I 2011-2016) erarbeiteten neuen Bildungsplan. Der Bildungsplan beinhaltet neben einer Vielzahl weiterer Themen das Ziel, in der schulischen Bildung Akzeptanz für homo- und transsexuelle Vielfalt zu schaffen. Die Aktivisten der Demo für Alle vermuten hinter dem Bildungsplan hingegen die versteckte Absicht der politischen Eliten, durch ein Umerziehungsprogramm auf Basis einer „schwulen“, „grünen“ und „feministischen“ Ideologie durch „Frühsexualisierung“ und „Gender-Ideologie“ eine Schwächung der traditionellen Kernfamilie und klassischen Geschlechterrollen herbeiführen zu wollen.
  • Auf den Abschlusskundgebungen der seit Oktober 2014 stattfindenden „Abendspaziergänge“ der Dresdner Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA) warnen die Redner immer wieder vor der „Lügenpresse“, wie der etablierte Journalismus auf den Demonstrationszügen von PEGIDA genannt wird. Aus Sicht der PEGIDA-Anhänger betreiben die Massenmedien im Auftrag politischer und wirtschaftlicher Eliten eine gezielte mediale Verschleierung, beispielsweise indem sie nicht stattgefundene, positive Meldungen über geflüchtete Menschen verbreiteten oder deren Straftaten verschweigen würden. Mit diesem thematischen Gemisch aus Gerüchten und Ressentiments, das starke Anknüpfungspunkte für eine verschwörungsideologische Deutung des politischen Geschehens bietet, konnte PEGIDA im Januar 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte im Zuge des Syrienkrieges bis zu 25.000 Menschen auf die Straße bringen.
  • Darüber hinaus gibt es im gesamten Bundesgebiet eine Vielzahl zum Teil gewaltbereiter Splittergruppen und Einzelpersonen, deren Protest und politischer Aktivismus sich aus der Vorstellung schöpft, die Bundesrepublik Deutschland existiere in Wahrheit gar nicht und werde von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkrieges unter Führung der Vereinigten Staaten besetzt gehalten. Der letzte souveräne deutsche Staat auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik ist in der Vorstellungswelt sogenannter Reichsbürger das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937. Antisemitische und antiamerikanische, geschichtsrevisionistische und holocaustleugnende Verschwörungstheorien sind prägend für ihre gemeinsame Ideologie. Durch zwei von bekennenden Reichsbürgern verursachte Todesfälle im Jahr 2016 geraten diese Gruppen aktuell zunehmend in den Fokus der Landesämter für Verfassungsschutz.

Deuten die genannten Beispiele also einen allgemeinen Trend innerhalb der bundesdeutschen Bewegungslandschaft an, in dem politischer Protest maßgeblich durch den Einfluss von Verschwörungstheorien in Mobilisierung und Vermittlung von Protestinhalten bestimmt wird?

Wandel des Politischen Protests in der (Post)Demokratie
Einen möglichen Schlüssel zum Verständnis dieser neuartigen Protestbewegungen bietet die These von der Postdemokratie des britischen Politikwissenschaftlers und Soziologen, Colin Crouch (2008).

Seit einigen Jahren wird unter Politikwissenschaftlern die Frage debattiert, ob sich die Demokratie heute weltweit in einer Repräsentationskrise befindet. In vielen gefestigten demokratischen Staaten kann nämlich ein gemeinsamer Trend beobachtet werden: populistische Parteien sind in vielen Ländern auf dem Vormarsch, die etablierten Volksparteien sehen sich heute mehr denn je mit einer sinkenden Wählerbasis konfrontiert, viele Menschen gerade aus einkommensschwachen Milieus nehmen nicht mehr an Wahlen teil. Laut Umfrageergebnissen verlieren die Bürger zunehmend ihr Vertrauen in den demokratischen Willensbildungsprozess, die staatlichen Institutionen und die gewählten politischen Vertreter.

Die politikwissenschaftliche Debatte um diese Krise der Repräsentation in den Demokratien westlicher Prägung wird im letzten Jahrzehnt maßgeblich vom Konzept der Postdemokratie mitbestimmt, dass sich mit dem sinkenden Interesse der Bürger liberaler Demokratien an den politischen Institutionen und Akteuren, dem damit verbundenen Legitimitätsverlust dieser Institutionen und Akteure und dem steigenden Einfluss von Eliten und Interessengruppen, befasst.

Colin Crouch hat sich diesem demokratischen Krisenzustand, den er äußerst prägnant als Postdemokratie beschreibt, folgendermaßen genähert: Die Demokratie befindet sich zum jetzigen Zeitpunkt zwar gesamtgesehen auf einem globalen Höhepunkt, da aktuell mehr Staaten formal demokratischen Kriterien genügen denn je zuvor. Die etablierten westlichen Demokratien befinden sich aber gleichzeitig auch in einer Krise, da hier ein kontinuierliches sinkendes Interesse an der Demokratie und ihren Institutionen festzustellen ist, was sich in einem Rückgang der Partizipation der Bürger an den demokratischen Willensbildungsprozessen und einem Legitimitätsverlust der politischen Vertreter, äußert. Dadurch, dass in der Postdemokratie „zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlkämpfe [aber] zu einem reinen Spektakel verkommen, bei denen die Mehrheit der Bürger eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle spielt, [während] im Schatten dieser politischen Inszenierung die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht [wird]“ (vgl. Crouch 2008, S. 10.), entsteht nach Crouch ein Zustand, indem die Demokratie fast ausschließlich von privilegierten Eliten und Lobbyisten der Wirtschaft kontrolliert wird und der Einfluss der bildungsfernen und einkommensschwachen Schichten stetig abnimmt. Dies geht nach Crouch wiederum mit einem allgemeinen Rückgang des Interesses an der Demokratie einher und bringe eine gesteigerte Politikverdrossenheit dieser sozialen Gruppen mit sich. Zur Partizipation in der Postdemokratie führt Crouch weiter aus, dass NGOs und Protestbewegungen zwar zahlenmäßig zunehmen und an Bedeutung gewinnen, dass viele dieser Organisationen sich aber gleichzeitig gegen politisches Engagement im eigentlichen Sinn wenden.

Peter Ullrich, ein Experte auf dem Gebiet der bundesdeutschen Protest- und Bewegungsforschung, sieht in Protestbewegungen wie den Mahnwachen für den Frieden oder PEGIDA aus diesem Grund einen neuen Bewegungstypus, nämlich die postdemokratische Empörungsbewegung (Ullrich 2017). Nach Ullrich entwickelt sich im Zustand der Postdemokratie ein neuer Typ von Protestbewegung, „[…] der von immenser politischer Entfremdung und spezifisch Web 2.0-geprägten Subjektivitäten gekennzeichnet [ist].“ Ullrich sieht in diesen Protestbewegungen einen „dreifache[n] Ausdruck postdemokratischer Verhältnisse“: Sie sind eine spontane und implizite Reaktion auf die postdemokratischen Verhältnisse, gleichzeitig aber auch eine explizite Kritik an diesen und verkörpern in ihrer Art des Protests die postdemokratische Subjektivität und damit verbundene politische Praxis (vgl. Ullrich 2017, S. 236).

Genau diese „Web 2.0-geprägte Subjektivität“ und die starke Entfremdung vom politischen System der Bundesrepublik und der demokratischen Praxis ist es, die für die eingangs vorgestellten, in ihrer Gesamtheit sehr heterogenen Bewegungen kennzeichnend ist. Erfüllt der Rückgriff auf Verschwörungstheorien innerhalb dieser Protestbewegungen also möglicherweise für die Aktivisten die Funktion, ihrer Unzufriedenheit mit dem Zustand der repräsentativen Demokratie Ausdruck zu verleihen?

Sozialpsychologische Funktionen von Verschwörungstheorien in Protestbewegungen
Auch wenn in der gegenwärtigen interdisziplinären Forschung zu Verschwörungstheorien eine Vielzahl von Kontroversen zu deren Entstehung und historischer Entwicklung, ihrer kulturellen Bedeutung und den aus ihnen resultierenden Gefahren existiert, so werden doch einige psychologische Grundannahmen von dem Gros der Forscher geteilt.

Aus Sicht der Wissenschaft erfüllen Verschwörungstheorien in erster Linie die Funktion einer kognitiven Dissonanzreduktion (Caumanns u. Niendorf 2001), mit deren Hilfe die Komplexität eines Sachverhaltes, beispielsweise einer persönlich erfahrenen oder auch gesellschaftlichen Krise, drastisch reduziert werden kann, um diesen so besser verstehen und psychisch verarbeiten zu können. Häufig knüpfen Verschwörungstheorien bei ihrer Suche nach Schuldigen an weit verbreitete gesellschaftliche Ressentiments an, zum Beispiel aus dem Vorurteilsrepertoire des Antisemitismus. Viele Wissenschaftler sind ferner der Meinung, Verschwörungstheorien dienten der Kontingenzbewältigung (Groh 2001), in dem sie Menschen dabei helfen würden zufällige, schicksalhafte Ereignisse wie Naturkatastrophen, Terroranschläge oder auch Unglücke wie Flugzeugabstürze zu verarbeiten, da sie eine Antwort darauf geben warum diese stattgefunden haben und wer sie verursacht hat. Die Identifikation von Verursachern für Krisensituationen entlastet vom Gefühl der eigenen Ohnmacht angesichts dieser zufälligen, schicksalhaften Ereignisse. Indem solchen Katastrophen eine Ursache unterstellt wird, die auf planvollem menschlichem Handeln basiert, erhalten sie einen nachträglichen Sinn.

Wenn also beispielsweise die amerikanische Occupy Wall Street Bewegung des Jahres 2011 im Zuge der weltweiten Banken- und Finanzkrise die Schuld an dieser Krise der Gruppe der „1 Prozent“ zuweist, so bietet die Bewegung damit ideologische Anknüpfungspunkte für Weltverschwörungstheorien, die sich wiederum sehr leicht mit antisemitischen Vorurteilen unterfüttern lassen. Die Vorstellung, für globale wirtschaftliche Krisen wäre eine kleine Gruppe allmächtiger Strippenzieher verantwortlich, bewahrt die Anhänger dieser Verschwörungstheorie davor persönlich Schuld für globale kapitalistische Ausbeutung zu empfinden, in dem sie sich selbst zu den Opfern dieser Verschwörung zählen.

Kommunikationslatenz
Im Fall der eingangs vorgestellten Mahnwachen für den Frieden kann über diese grundsätzlichen psychologischen Funktionen hinaus beobachtet werden, wie Verschwörungstheorien innerhalb einer sozialen Gruppe dazu genutzt werden können um tabuisierte Einstellungen über Umwege zu kommunizieren.

Maßgeblich für die Ideologie der Mahnwachen für den Frieden ist die Vorstellung, dass die amerikanische Zentralbank, die Federal Reserve Bank (FED), hinter allen Kriegen des letzten Jahrhunderts stecke. (Das amerikanische Zentralbankensystem wurde 1913 konzipiert.) Auch hinter dem Ukraine-Konflikt, dem Gründungsimpuls der Protestbewegung, vermuten die Aktivisten eine versteckte Einflussnahme der Federal Reserve Bank. Bereits im Gründungsaufruf zur ersten Mahnwache wird daher neben allgemein gehaltenen Forderungen nach Frieden, Pressefreiheit und Demokratie ein Ende der „Todespolitik“ der Federal Reserve Bank gefordert.

Es verwundert daher nicht, dass auf den Kundgebungen der Bewegung auch immer wieder Verschwörungstheorien zur Federal Reserve Bank zur Sprache kommen, die deren Rolle in verschiedenen Kriegen und Konflikten thematisieren. Regelmäßig werden von den Aktivisten mit Blick auf die deutsche Vergangenheit Reden vorgetragen, die einer „jüdisch-amerikanischen Finanzelite“ unter Führung der Federal Reserve Bank eine Mitschuld oder gar alleinige Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der Verfolgung und Ermordung der Europäischen Juden unterstellen. In der Logik dieser Erzählungen hätte es die Federal Reserve Bank durch ihre Kredite und Investitionen in die deutsche Wirtschaft der Zwischenkriegszeit den Nationalsozialisten überhaupt erst ermöglicht einen Weltkrieg anzuzetteln. Schlimmer noch, obwohl es in der Macht der Banker gestanden hätte den nationalsozialistischen Verbrechen ein Ende zu setzen, hätten sie diese aus Profitgier billigend in Kauf genommen.

Wenn solche Verschwörungstheorien auf den Kundgebungen der Mahnwachen vorgetragen werden dienen sie der Umdeutung der Deutschen Geschichte, der Abwehr der Schuld und der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Schlussendlich sind sie Strategien zur Relativierung oder sogar Leugnung des Holocaust.

Das Phänomen, dass gesellschaftlich tabuisierte Einstellungen über Umwege kommuniziert werden, haben die beiden Antisemitismusforscher Werner Bergmann und Rainer Erb am Beispiel des deutschen Nachkriegsantisemitismus untersucht und mit ihrem Begriff der „Kommunikationslatenz“ (Bergmann u. Erb 1986) erfasst. Bergmann und Erb haben in ihrem bereits 1986 erschienenen Aufsatz zur Kommunikationslatenz des Antisemitismus eindrucksvoll dargelegt, dass antisemitische Einstellungen in der Nachkriegszeit im Privaten überdauern, aber in der Regel nicht öffentlich geäußert werden, da offen antisemitische Äußerungen in Deutschland nach 1945 einem Kommunikationstabu unterliegen. Antisemitische Einstellungen, die nach Bergmann und Erb „bewusstseinslatent“ sind, sind also keinesfalls verschwunden, sondern überdauern im Bewusstsein vieler Menschen und drängen daher auf Kommunikation. Zur Kommunikation bieten sich praktisch zwei Möglichkeiten: zum einen die Kommunikation in Konsensgruppen, wie etwa rechtsextremen Vereinigungen, zum anderen die Kommunikation über Umwege, wie beispielsweise über den Antizionismus oder den Sekundären Antisemitismus. (Bei letzterem handelt es sich um einen Antisemitismus nicht „trotz“, sondern „gerade wegen“ Auschwitz, der besonders pointiert in dem Ausspruch zur Geltung kommt, der gemeinhin dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex zugeschrieben wird: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“)

Verschwörungstheorien wie die zur Federal Reserve Bank funktionieren in den Diskursgemeinschaften von Protestbewegungen also als Kommunikationsmedium, um andernfalls tabuisierte Meinungen transportieren zu können. Sie liefern eine Geschichte, durch die antisemitische Ideologieelemente in Andeutungen, Chiffren und kulturellen Codes geäußert werden können, ohne dass der Sprecher selbst Position beziehen müsste, die erzählte Geschichte spricht quasi für sich.

Verschwörungstheorien im Populismus
Wir würden mächtig daneben liegen, würden wir Verschwörungsglauben nur in Postdemokratischen Empörungsbewegungen politisch entfremdeter Aktivisten suchen. Verschwörungstheorien haben in der Bundesrepublik längst die Ebene des Protestes verlassen und schlagen sich mittlerweile auch in den Parteien nieder. Sie haben sogar das Potential entwickelt politisches Geschehen bis hin zu den höchsten Regierungsebenen zu beeinflussen.

Besonders der Umgang der Alternative für Deutschland (AfD) mit Verschwörungstheoretikern in den eigenen Reihen gestaltet sich spannend und ist von so manchen Widersprüchlichkeiten geprägt.

Zwar scheiterte auf dem Stuttgarter Bundesparteitag im Frühjahr 2016 die Initiative einiger Delegierter ein „Chemtrail-Verbot“ in das Grundsatzprogramm der Partei aufzunehmen, das Parteiprogramm der jüngsten Konkurrentin im deutschen Parteiensystem mit dem Titel „Programm für Deutschland“ liefert aber tatsächlich an den verschiedensten Stellen Anknüpfungspunkte für eine von Verschwörungstheorien beeinflusste Sicht auf das politische Geschehen.

Dass beispielsweise der weltweite Klimawandel durch den Verbrauch fossiler Energieträger in den Industriegesellschaften verursacht wird, stellt die Partei in ihrem Programm durchweg in Frage. Im Kapitel zur Energiepolitik heißt es, die deutsche Regierung und der Weltklimarat der Vereinten Nationen (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)) verschwiegen bewusst die positive Wirkung von Kohlenstoffdioxid (CO2) auf das Wachstum von Pflanzen und damit auf die Welternährung. Mit ihren politischen Instrumenten zur Senkung des CO2-Ausstoßes schwäche die Bundesregierung die deutsche Wirtschaft und schränke die persönlichen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger zudem massiv ein. Konkrete Gründe für dieses politische Handeln nennt die AfD in ihrem Programm zwar selbst nicht, sie unterstellt aber den „Profiteuren der Energiewende“, welche nicht weiter spezifiziert werden, eine „hidden agenda“, ein verborgenes Motiv ihrer Klimaschutzpolitik. Das Grundsatzprogramm der AfD stellt an dieser Stelle seine Anschlussfähigkeit zur Verschwörungstheorien unter Beweis die gemeinhin unter dem Schlagwort „Klimalüge“ fungieren und hinter dem Klimawandel und den politischen Instrumenten zu seiner Senkung ein Programm der Regierenden zur Beschneidung der persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger vermuten.

An anderer Stelle des Programms heißt es, „Gender-Ideologie“ und damit verbundene „Frühsexualisierung“ von Kindern müssten gestoppt werden. Die hier genutzten Kampfbegriffe zielen auf die bekannte Verschwörungstheorie ab, eine bis in höchste politische Ämter vernetzte „Homo-Lobby“ verfolge das Ziel die klassischen Geschlechterrollen aufzulösen und die traditionelle Kernfamilie zu schwächen. „Die zunehmende Übernahme der Erziehungsaufgabe durch staatliche Institutionen wie Krippen und Ganztagsschulen“ so heißt es im AfD-Programm, habe im Zusammenspiel mit einer „generellen Betonung der Individualität“ und einem „falsch verstandenen Feminismus“ schlussendlich einen dramatischen Rückgang der Geburten in der Bunderepublik zur Folge. In Kombination mit der aus der Asylpolitik der Bundesregierung resultierenden „Masseneinwanderung“ aus islamischen Ländern erwachse hierdurch eine existentielle Bedrohung für deutsche Nation und Kultur.

Es soll an dieser Stelle betont werden, dass der Rückgriff auf Verschwörungstheorien auf der Ebene von Parteien keine Praxis ist, der sich nur die AfD bedienen würde. Anlehnungen an Verschwörungstheorien finden wir in unterschiedlichen Ausprägungen in allen Parteien, nur wird dieser Umstand häufig nicht als solcher erkannt. Auch baden-württembergische Politiker der CDU warnten in der Debatte um den neuen Bildungsplan vor den Gefahren von „Gender-Mainstreaming“ und „Frühsexualisierung“. Die Partei „die Linke“ beteiligte sich etwa im Frühjahr 2016 an den Protesten gegen die Bilderberger-Konferenz in Dresden. Hierbei handelt es sich um jährlich stattfindende informelle Treffen zentraler Entscheidungsträger und Influencer aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Militär und Adel, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Aufgrund der Exklusivität und Verschwiegenheit ihrer Treffen stehen die Bilderberger im Fokus zahlreicher Verschwörungstheorien, in denen ihren Teilnehmern eine zentrale Stellung in der geheimen Weltregierung der Neuen Weltordnung unterstellt wird. Der niedersächsische CDU-Landtagsabgeordnete und umweltpolitische Sprecher seiner Fraktion, Martin Bäumer, beschäftigte sich in der laufenden Legislatur letztlich in bisher drei Kleinen Anfragen an die niedersächsische Landesregierung mit der Existenz von Chemtrails. Die Landesregierung forderte Bäumer auf die Konzentration der vermeintlichen Chemtrail-Indikatoren Aluminium und Barium in der Luft zu messen, um damit die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger um Chemtrails endlich ernst zu nehmen.

Aber auch auf der höchsten Ebene der Diplomatie können sich Verschwörungstheorien niederschlagen, wie der Vermisstenfall des russlanddeutschen Mädchens Lisa zu Beginn des Jahres 2016 in Berlin zeigt. Das Mädchen galt 30 Stunden als vermisst und berichtete nach seinem Wiederauftauchen, es wäre von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Geschichte stellte sich kurze Zeit später als Lüge heraus, das Mädchen hatte die Zeit stattdessen mit ihrem Freund verbracht. Der Fall Lisa erreichte weltweite Aufmerksamkeit, besonders die staatlichen russischen Medien berichteten über die vermeintliche Entführung, vor dem Kanzleramt kam es zu Demonstrationen mit einigen tausend Teilnehmern. Sogar der russische Außenminister Sergej Lawrow schaltete sich in die Debatte ein und warf den zuständigen Behörden Vertuschung vor, um im Sinne einer falsch verstandenen politischen Korrektheit die Asylpolitik der Bundesregierung nicht zu gefährden.

Was diese sehr heterogenen Fälle, in denen Verschwörungstheorien von Parteien oder einzelnen Abgeordneten dazu genutzt wurden um Politik zu machen oder sogar zum Gegenstand von Debatten auf den höchsten diplomatischen Ebenen wurden, zu einen scheint mit den zu Beginn vorgestellten Protestbewegungen politisch entfremdeter Aktivisten, ist der Umstand, dass Verschwörungstheorien in allen Fällen als Teil einer populistischen Ideologie funktionieren.

Der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde hat bereits 2004 in einem vielbeachteten Aufsatz den westeuropäischen Demokratien die Tendenz zu einem sich ausbreitenden populistischen Zeitgeist attestiert. Ist der populistische Zeitgeist nun womöglich auch in der Bundesrepublik angekommen und können die Mahnwachen für den Frieden, PEGIDA, Demo für alle, Reichsbürger, aber auch die verschwörungstheoretischen Rückgriffe von Parteien und Politikern als Symptome dieses Zeitgeistes begriffen werden?

Mit der für die populistische Ideologie kennzeichnenden Vorstellung von einem Antagonismus zwischen einem moralisch tugendhaften, reinen „Volk“ und einer bösartigen, korrupten, trügerischen und verschwörerischen „Elite“ folgt diese zentralen Merkmalen, die auch für Verschwörungstheorien definierend sind. In dieser manichäischen Weltsicht liegt ihr verbindendes Element begründet.

Mit dem Rückgriff auf verschwörungstheoretische Narrative gelingt es den genannten Protestbewegungen, aber auch den Parteien und Politikern inhaltliche Unstimmigkeiten und Widersprüche zu schließen. Die Verwendung von verschwörungstheoretisch konnotierten Signalworten wie „Frühsexualisierung“, „Lügenpresse“ oder „Chemtrails“ suggeriert Menschen, die einer verschwörungstheoretisch geprägten Sicht auf das Weltgeschehens zuneigen so von politischer Seite immer wieder, „wir sind auf eurer Seite, wir sind nicht Teil dieser Elite“.

Im Bereich der politischen Bildung, aber auch in Behörden müssen Verschwörungstheorien in Zukunft ernster genommen werden. Sie sind in Protestbewegungen ein Mittel um Unzufriedenheit mit dem Zustand des demokratischen Systems auszudrücken und bieten eine leichte Anschlussfähigkeit für populistische Vereinnahmung. Verantwortungsträger müssen eine gesteigerte Popularität von Verschwörungstheorien als Warnsignal für das Funktionieren der Demokratie begreifen.

Literaturverzeichnis
Bergmann, Werner u. Rainer Erb 1986: Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologe (38), S. 223-246.

Caumanns, Ute u. Mathias Niendorf 2001: Raum und Zeit, Mensch und Methode: Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie. In: Caumanns, Ute (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten und historische Varianten. Osnabrück, S. 197-210.

Crouch, Colin 2008: Postdemokratie. Frankfurt am Main.

Groh, Dieter 2001: Verschwörungstheorien revisited. In: Caumanns, Ute (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten und historische Varianten. Osnabrück, S.187-196.

Mudde, Cas 2004: The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposition (4), S. 541-563.

Ullrich, Peter 2017: Postdemokratische Empörung. Ein Versuch über Demokratie, soziale Bewegungen und gegenwärtige Protestforschung. In: Heim, Tino (Hrsg.): Pegida als Spiegel und Projektionsfläche. Wechselwirkungen und Abgrenzungen zwischen Pegida, Politik, Medien, Zivilgesellschaft und Sozialwissenschaften. Wiesbaden, S. 217-251.

Laura Luise Hammel ist Doktorandin am Institut für Politikwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen. In ihrem Dissertationsprojekt befasst sie sich mit dem Zusammenspiel zwischen Verschwörungstheorien, politischem Protest und Populismus.

Siehe auch: Laura Luise Hammel, Sammelrezension: Vier Bücher zu Verschwörungstheorien