Wenn Feindbilder wanken

10 Jahre „Die Anstalt“

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 671 am 7. Februar 2024)

Mit ihrer Nähe zum Theater ist „Die Anstalt“ eine Ausnahme-Erscheinung im deutschen Fernseh-Kabarett. Zum zehnjährigen Jubiläum im ZDF schauen die Drehbuch-Autoren Max Uthoff, Claus von Wagner und Dietrich Krauß zurück auf das, was sie alles nicht erreicht haben.

Sie sind ins Irrenhaus eingebrochen, um eine Revolution auszurufen: Am 4. Februar 2014 kaperten Max Uthoff und Klaus von Wagner die verlassene „Anstalt“ in den Münchner Arri-Studios, um die Nachfolge von Georg Schramm, Urban Priol und Erwin Pelzig anzutreten. Eine der wenigen Besetzungen in Deutschland, die nicht mit einer zügigen Zwangsräumung endete: Am 13. Februar steht die Jubiläumsfolge zum Zehnjährigen an.

Im Rückblick fällt auf, wie stark sich das Format gewandelt hat. Angela Merkel war in der ersten Episode noch eine „Alleinherrscherin ohne Opposition“, Politik und Medien gab es nur, damit sie die Wünsche der Wirtschaftslobby verwirklichen, und um sicherzustellen, dass das Volk folgt.

„Es gibt nichts zu beschönigen: Die Reallöhne sinken, vielen droht Altersarmut, der Trend geht zum Drittjob“, erklärt Uthoff, und nutzt kurz darauf das erste Solo im neuen Format zum Frontalangriff gegen Aufrüstung und Militarismus. Neulich bei der Münchner Sicherheitskonferenz hätten die deutschen Repräsentanten „ein Tänzchen aufs internationale Parkett hingelegt, dass die Champagnerflaschen in den Büros der deutschen Rüstungsindustrie ejakuliert haben“. Denn von deutschem Boden solle nie wieder Zurückhaltung ausgehen.

Der Auftakt war ein anarchischer Rundumschlag: Angerissen werden Homophobie in Sotschi und Baden-Württemberg, oder Roboter, die Menschen überflüssig machen, bis niemand mehr zum Ficken übrig bleibt. In seinem Solo prangert von Wagner die Deutsche Bank an, weil sie die verbleibende Lebenszeit von Senioren zum Spekulationsgegenstand gemacht hat – und dabei als größtes Risiko für die Anleger:innen einen „Durchbruch in der Medizintechnologie“ und „verbesserte Behandlungsmethoden“ angab. Das szenische Spiel, die theatralen Sketche waren anfangs nur ein Randaspekt zwischen inhaltlich unzusammenhängenden Einzelbeiträgen.

Das änderte sich schnell. Längst haben Episoden der „Anstalt“ klare Leitmotive, die sich als roter Faden durch die Sendungen ziehen, von der Leiharbeit bis zum neoliberalen Netzwerk der Mont-Pèlerin-Gesellschaft. Und als einziges Kabarett-Format im deutschen Fernsehen gibt es zu jeder Sendung einen umfangreichen Faktencheck, der die vorgetragenen Behauptungen mit Quellen untermauert. 2017 erfolgte der Umzug der Produktion ins Steuerparadies Grünwald am Münchner Stadtrand, wo der Hebesatz um 250 Prozentpunkte niedriger liegt als in der bayerischen Landeshauptstadt. Die verschnarchte Gemeinde mit knapp 11.000 Bewohner:innen beheimatet die Bavaria Filmstadt, einen riesigen Produktionskomplex. Hier, zwischen den Studios für die ARD-Telenovela „Sturm der Liebe“ und dem „Bullyversum“ von Michael Herbig, wird die „Anstalt“ aufgezeichnet. Bei den ersten Proben für die Jubiläumsfolge, noch ohne Kostüme, ist es seltsam irritierend, den gelernten Juristen Max Uthoff nicht im Anzug, sondern im Pullover zu sehen. Weil er seinen kritisch prüfenden Blick aber auch auf den Fluren und Gängen nie ablegt, hat Gemütlichkeit allerdings keine Chance, Eindruck zu machen.

Vorbild ist das Theater

Früher wurde die „Anstalt“ noch live ausgestrahlt. Das änderte sich erst mit Corona, weil es keinen Sinn hatte, ohne Publikum aufzutreten. Heute ist Uthoff froh über die Freiheiten, die eine Aufzeichnung bringt. „In einer Folge hatten wir neulich 60 Menschen, die auf Bobbycars durchs Studio gefahren sind“, erzählt er. Dafür brauchte es einen Umbau im Studio, der live unmöglich gewesen wäre. „Im fertigen Produkt ist trotzdem mal ein Verhaspler drin, damit es nicht filmisch wirkt, sondern eher wie Theater.“ Das Prinzip heißt „live on tape“: Die Aufzeichnung einer Szene wird nur wiederholt, falls ein wirklich sinnentstellender Fehler vorkommt. Das passiert selten, denn die Protagonisten studieren ihre Rollen sorgfältig ein: Er und von Wagner lernen alle Dialoge auswendig, „weil man den Text können muss, um gut zu spielen“, sagt Uthoff.

Die Orientierung am Theater ist ein Alleinstellungsmerkmal im deutschen Kabarett. In anderen Satire-Formaten sitzt für gewöhnlich ein Mann an einem Tisch, der zu Bekehrten predigt. „Wir haben uns auf die Fahnen geschrieben, dass bei uns kein auktorialer Erzähler vorne steht und den Leuten unsere Wahrheit erzählt“, sagt der Journalist Dietrich Krauß, der zusammen mit den Protagonisten das Drehbuch schreibt. „Claus und Max machen schon ewig keine Solos mehr, das läuft ja alles im Dialog. Da gibt es dann ein Für und Wider der Argumente und klar, gewinnt dann gerne mal eine Seite und die andere behält nicht die Oberhand, aber man spürt zumindest das Ringen um die Position.“

Der Anspruch ist inzwischen, eine durchgehende Geschichte zu erzählen – und das gilt mittlerweile sogar für Gäste. Krauß erläutert: „Wir wollen Künstlerinnen und Künstler, die extra etwas für die Sendung schreiben. Früher war das oft so, dass sie feststehende Nummern aus ihrem Programm vorgetragen haben.“ Jetzt sei das jedes Mal eine kleine Premiere, ein Beitrag, der zum ersten Mal im Fernsehen zu sehen ist. Eingebettet in ein Bühnenstück, in acht neuen Inszenierungen pro Jahr.

2019 schrieb Oliver Hochkeppel in der „Süddeutschen Zeitung“, eigentlich müsste „nach jeder Anstalt ein Aufschrei durch die Republik gehen, wenn wieder einmal detailliert die Abnutzungserscheinungen des Systems aufgezeigt wurden, von der Verfilzung der Entscheider bis zum Vorrang ökonomischer Einzelinteressen vor dem Gemeinwohl“. Da grämt es Claus von Wagner schon ein wenig, dass jede Talkshow in den großen Zeitungen nacherzählt wird, doch Rezensionen zu ihrem Format eher Ausnahmefälle sind.

Offen für Selbstkritik

Früher gab es mehr Resonanz, wohlwollende Besprechungen zur unterhaltsamen Aufklärungsarbeit – und regelmäßig Verrisse. 2015 etwa, in einer Serie zu rechtem Terror, war die 2021 verstorbene Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano zu Gast. Schon lange bevor der Verfassungsschutz anfing, seinen Ex-Präsidenten zu beobachten, sagte sie: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ In der „Anstalt“ hatte sie einen musikalischen Auftritt, der viele im Publikum zu Tränen rührte. Die „Welt“ schäumte. Autor Reinhard Mohr sprach von einem „Akt schamloser Instrumentalisierung“, „vorhersehbar wie der Ablauf einer Politbürositzung unter Erich Honecker“ und zugleich „ein maßgeschneidertes Convenience-Produkt für die Besserfühlenden, ein Wellness-Bad der moralischen Selbstgewissheit“.

Für Claus von Wagner ist der Vorwurf einer Instrumentalisierung nicht neu, ähnliches war zu lesen, als die „Anstalt“ einen Flüchtlingschor in die Sendung einlud, der über das Sterben im Mittelmeer sang. Andere fanden das richtig gut: Für „den kalkulierten Bruch mit den Konventionen des Kabaretts“ erhielt das Autoren-Trio den renommierten Grimme-Preis. „Für mich“, sagt von Wagner, „waren gerade die Begegnungen mit unseren Gästen, das Beste an den zehn Jahren Sendezeit. Menschen wie Norbert Blüm oder Esther Bejarano kennenzulernen: Das war schon großartig und dafür bin ich dankbar.“ Diese Kritik kann der Kommunikationswissenschaftler also gelassen wegstecken.

Anderes trifft härter, manchmal auch erst Jahre später. 2014, als der Regierungswechsel in der Ukraine Gegenstand einer Sendung war, schrieb Katja Thorwarth in der „Frankfurter Rundschau“ von einem „Ken-Jebsen-Stammtisch im ZDF“ mit „reduziertem Gut-Böse-Schema à la Querfront“. Eigentlich sollte es ein Versuch sein, mal ein anderes Bild zu zeichnen. „Die Amerikaner haben fünf Milliarden Dollar in den Umsturz in der Ukraine investiert“, erklärte Uthoff damals und riet dazu, in Zeiten der Kriegspropaganda am besten den Feindsender zu hören, um zu erfahren, „wer wirklich auf dem Maidan geschossen hat“. Während die deutschen Medien beschäftigt wären, „Nachrichten zu suchen, die ihre Vorurteile über den bösen Putin bestätigen“, säßen nun Nazis in der ukrainischen Regierung.

Plötzlich wanken alte Glaubenssätze

Eine Analyse, die schlecht gealtert ist, räumt Drehbuch-Autor Dietrich Krauß ein. Bei einem langen Gespräch in der Kontext-Redaktion erklärt er, dass Putins Angriffskrieg eine Zäsur für sie war. Mit Konsequenzen für die Sendung. „Jetzt wird es ein bisschen schmerzhaft, ich glaube, wir müssen an dieser Stelle auch unsere eigene Rolle beleuchten“, erklärte von Wagner im März 2022 in einer Sonderfolge. Eigentlich hätten sie ja differenzieren wollen, meint Uthoff. „Himmel! Was hätten wir differenziert über Nato-Osterweiterung, gekündigte Abrüstungsabkommen, hätten vielleicht sogar versucht, Deine Sicherheitsinteressen zu verstehen“, sagen sie an Putin gerichtet, von dem die beiden in der Eröffnungsszene regelrecht persönlich enttäuscht wirken. „So weit wir das verstanden haben, willst Du die Ukraine entnazifizieren, indem du einen jüdischen Präsidenten ermorden lassen willst, eine Holocaust-Gedenkstätte bombardierst und Überlebende der Shoa in Luftschutzkeller zwingst. Wir sind ja hier leider so etwas wie Experten in Sachen Nationalsozialismus, aber da ist uns beim besten Willen kein Witz mehr eingefallen.“

Aus Putin-Verständnis wurde Nato-Verständnis. Das transatlantische Militärbündnis hätte für Satiriker:innen immer hervorragend als Feindbild getaugt. Aber nun mutmaßen sie in der Sendung, dass die Ukraine als Mitglied wahrscheinlich nicht angegriffen worden wäre.

Für manche ist diese Wendung zu viel. Nachdem ein Teil des Publikums schon bei den Corona-Folgen enttäuscht war, dass eine Fundamentalkritik an den Schutzmaßnahmen unterblieb, lautet das Verdikt nun endgültig: Die „Anstalt“ ist jetzt angepasst, regierungsnah, linientreu. Krauß hält gegen, dass eine „Opposition aus Reflex“ weder kritisch noch mutig sei. Er findet es eher denkfaul, automatisch gegen die Regierung, gegen den Westen, gegen den Mainstream zu sein. „Aber auch das Satire-Gewerbe ist sehr stark von einem Lagerdenken durchzogen, da geht es manchmal zu wie im Fußballstadion.“ Wenn ein Feindbild nicht gefüttert oder andere Erwartungen unterlaufen werden, sei „die Empfindlichkeit riesig und es gibt Liebesentzug“. Für Krauß steht am Ende die bittere Erkenntnis: „Ein großer Teil des linken Spektrums ist regressiv und nicht bereit, sich von alten Glaubenssätzen und scheinbaren Gewissheiten zu verabschieden.“

Eine gewisse Entfremdung von der Gegenöffentlichkeit, wie sie vor einem Jahrzehnt verstanden wurde, wird deutlich. Mit manch eine:r Weggefährt:in kam es zum Bruch. „Am Anfang sind wir ja auch unter der Flagge gesegelt, dass wir Dinge sagen wollen, die im Mainstream nicht vorkommen“, sagt Krauß. „Aber das ist heute ja die reinste Mainstream-Position. Das sagt sogar die CDU. Etwa wenn jetzt Jens Spahn beklagt, beim Thema Migration ist der Meinungskorridor zu eng, man dürfe ja gar nichts mehr sagen. Jeder reaktionäre Idiot behauptet heute beim kleinsten Widerspruch, dass er unterdrückt wird.“ Plötzlich wird dann sogar ein Thomas Gottschalk zum Held der „Nachdenkseiten“ und gilt auf einmal als kritischer Geist, nur weil er bei seinem Abgang vor einem Millionenpublikum sagt, er traue sich nicht mehr so zu reden, wie in seiner Küche.

Schmerzhafte Fragen, unklare Antworten

Die Konsequenz, die die „Anstalt“-Autoren aus ihren Reflexionen ziehen, ist noch weniger Eindeutigkeit: Das Format bewegt sich weiter weg vom Feststellenden, wird noch fragender, gewinnt Schärfe immer seltener durch Polemik. „Wenn ja eh alle rumschreien, ist Zuspitzung nichts mehr, was einen von anderen abhebt“, meint Krauß nachdenklich. Nun, wo die Demokratie von außen und innen angegriffen werde, seien plötzlich Fragen zwingend, die man lange umschiffen konnte. „Als einer, der in der geruhsamen Bundesrepublik aufgewachsen ist und sich der Selbstkritik des westlichen Systems hingeben konnte, muss man sich plötzlich überlegen: Wie viel ist uns dieses System eigentlich wert? Wie stehen wir eigentlich zur Bundeswehr? Angenommen, Putin würde einmal die Nato angreifen, wie verhalte ich mich dann als ehemaliger Wehrdienst-Leistender?“ Überzeugende Antworten hat er auch nicht. Aber ganz so einfach ist es jetzt nicht mehr, Menschen, die eine ernstzunehmende Verteidigungsfähigkeit für eine gute Idee halten, als Bellizisten zu verdammen.

Die andere schmerzhafte Frage für Krauß ist die, wie eine radikale Kritik an den Verhältnissen und der Regierung aussehen muss, wenn der Faschismus auf dem Vormarsch ist. „Gerade versuchen die Rechten, den Oppositionsbegriff zu monopolisieren und das macht vieles extrem kompliziert. Da steht man dann da und will natürlich nicht in deren Horn tuten. Aber deswegen will ich ja auch nicht die Regierung in Schutz nehmen, außer vielleicht dort, wo sie mal Recht hat.“

Der richtige Spagat wird erschwert durch eine Großkrise, die immer extremere Erscheinungsformen annimmt. Verglichen mit der Gegenwart waren die Bedingungen zum Sendestart der „Anstalt“ paradiesisch: 2014 gab es keine AfD und noch nicht mal eine FDP im Bundestag, die Klimakatastrophe war noch nicht ganz so greifbar und die Gefahr eines nuklearen Omnizids noch nicht zurück auf der Bildfläche.

Passend dazu wird die 80. Folge der „Anstalt“ am 13. Februar ein traditionelles Kammerspiel im therapeutischen Setting, eingerichtet mit einem großen Sofa und Sigmund-Freud-Porträt über dem Kamin. In dieser Atmosphäre soll geklärt werden, was die „Anstalt“ im vergangenen Jahrzehnt alles nicht erreicht hat.