Zu Erich Mühsams 90.Todestag
von Thomas Tews
[zuerst erschienen am 10. Juli 2024 bei haGalil.com]
Der Anarchist, Chronist und Dichter Erich Mühsam kam am 6. März 1878 als Sohn jüdischer Eltern, des Apothekers Siegfried Mühsam sowie dessen Frau Rosalie, geb. Cohn, in Berlin zur Welt. In seinen eigenen Worten führte ihn sein späterer Lebensweg »aus dem bürgerlichen Beruf eines Apothekergehilfen ins Ungewisse dessen, was mir Freiheit schien und was sich auf dem schwankenden Grunde der erwerbsmäßigen Schriftstellerei aufbauen sollte«.
In seinen Bemühungen »um Wandlung von Welt und Gesellschaft« als Bohemien bezeichnet zu werden, störte Mühsam nicht, denn:
»Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Boheme, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen […]. Stimmt die Definition, dann habe ich nichts gegen meine Charakterisierung als Bohemien einzuwenden, dann ist aber auch klar, dass Boheme angeborene Eigenschaft von Menschen ist, die sich dadurch nicht ändert, dass der Freiheitswille nicht auf die Führung des eigenen Lebens in größtmöglicher Ungebundenheit beschränkt bleibt, sondern sich in Arbeit für die soziale Befreiung aller umsetzt.«
Seinen inneren Antrieb beschrieb Mühsam im Januar 1909 mit folgenden lyrischen Worten:
»Eine Welt der Freiheit ist zu gewinnen, –
und der erste Schritt zum Glück heißt: Beginnen!«
Als der russische Schriftsteller Lev Tolstoj am 20. November 1910 starb, widmete ihm Mühsam ein Gedicht, in dem er aus seiner schonungslosen Beschreibung menschlicher Barbarei einen eindringlichen Appell ableitete:
»Da draußen liegt die weite weiße Erde,
das Schlachtfeld, wo Millionen Menschen leiden,
wo Haß und Kampf und Kriege und Beschwerde
das Menschenherz von seiner Gottheit scheiden.
Liebt euch! Seid Freunde, Brüder! Haltet Frieden!
Seid gut und widerstehet der Gewalt!«
In Mühsams Gedichten schwingt bisweilen ein leicht spöttischer Unterton mit, der sich beispielsweise in folgenden – im Jahre 1913 niedergeschriebenen – Zeilen zeigt:
»Der Revoluzzer fühlt sich stark.
Der Reichen Vorschrift ist ihm Quark.
Er feiert stolz den ersten Mai.
(Doch fragt er erst die Polizei.)«
[…]
Wie arg es zugeht auf der Welt,
wird auf Kongressen festgestellt.
Man trinkt, man tanzt, man redet froh,
und alles bleibt beim status quo.«
An anderer Stelle zeigt sich Mühsam nachdenklich, etwa in folgenden, wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstandenen Reflexionen:
»Was ist hier Wahrheit? Was ist Schein?
In Furcht und Hoffnung suchen viele …
Die Welt muß sehr verändert sein, –
und wir sind weit von unserm Ziele.«
Ausgehend von seiner Analyse, wie die Schrecken des Krieges in die menschliche Welt hatten Einzug halten können, rief Mühsam im März 1916 zur Umkehr auf:
»Schwer von Brotfrucht prangten eure Saaten, Menschen.
Doch die Friedensarbeit ließ euch unbeglückt,
und aus freien Brüdern wurden Staatenmenschen.
Normen gabt ihr und Gesetze euerm Neid,
wurdet selbst zu Knechten und Soldaten, Menschen;
und ihr setztet in die Welt Gewalt und Krieg,
und durch blutige Leichenfelder waten Menschen.
Haltet ein! Besinnt euch auf den Gottberuf!
Heil und Trost stiebt nicht aus den Granaten, Menschen!«
Mitten im Ersten Weltkrieg formulierte Mühsam seine Vision einer friedlichen Koexistenz der Völker in einer freien Welt ohne Grenzen:
»Lebt wohl, ihr Brüder! Unsre Hand,
daß ferner Friede sei!
Nie wieder reiß das Völkerband
in rohem Krieg entzwei.
Sieg allen in der Heimatschlacht!
Dann sinken Grenzen, stürzt die Macht,
und alle Welt ist Vaterland
und alle Welt ist frei.«
Zum Jahreswechsel 1916/1917 verlieh Mühsam seinem Wunsch nach Beseitigung der Ursachen der Zwietracht zwischen den Völkern Ausdruck:
»Nimmer erwache den Völkern die Machtgier:
Feindin der Schönheit und Urgrund des Hasses.«
Bei Kriegsende 1918 rief Mühsam die Menschen zur Versöhnung auf:
»Tore der Freiheit auf! – Feinde von gestern,
nehmt unsre Hände hin, Brüder und Schwestern!
Arbeiter, Bauersmann, Bürger, Soldat –
eigenes Schicksal will eigenen Rat.
Glückliche Ernte will zeitige Saat.
Nieder die Grenzen, die uns geschieden!
Völkerfreiheit wirke das Band
ewiger Freundschaft von Land zu Land, –
Wirke der Völker ewigen Frieden.«
In der von ihm angestrebten Brüderlichkeit zwischen den Völkern sah Mühsam den Garanten für dauerhaften Frieden:
»Germane, Römer, Jud und Russ
in einem Bund zusammen, –
der Völker brüderlicher Kuß
löscht alle Kriegesflammen.«
1919 wurde Mühsam zusammen mit seinem »Lehrer und geliebten Freund« Gustav Landauer zum Ideengeber und Anführer der am 7. April ausgerufenen Münchner Räterepublik. Dies veranlasste ihn im Mai 1919 zur Dichtung folgender Zeilen:
»Wie an unsichtbaren Drähten
zieht die Wahrheit in die Geister,
und das Volk in seinen Räten
fühlt sich seines Schicksals Meister.«
Dass die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), der es nicht gelungen war, bestimmenden Einfluss auf die Ereignisse in München zu nehmen, die Räterepublik als »Scheinräterepublik« ablehnte, kritisierte Mühsam rückblickend scharf :
»Die Unterscheidung zwischen Scheinräterepublik und der kommunistischen Partei-Räterepublik […] war ein Manöver der Parteikommunisten in der Zeit, als sie ihr Abseitsstehen dem Proletariat mundgerecht machen mußten. Die Übernahme dieses Unsinns in eine geschichtliche Darstellung nach dem tragischen Abschluß des ganzen Versuchs ist mit der Bezeichnung als demagogische Geschichtsklitterung kaum zu strenge charakterisiert.«
Die Münchner Räterepublik wurde nur knapp drei Wochen nach ihrer Ausrufung durch die Reichswehr und rechtsnationale Freikorpsverbände niedergeschlagen. Mühsams Freund Landauer wurde brutal erschlagen und Mühsam selbst wurde zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilt, die er bis zu seiner Amnestie 1924 absitzen musste.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde Mühsam im Konzentrationslager Oranienburg interniert, wo er nach 16-monatiger Haft in der Nacht zum 10. Juli 1934 von Mitgliedern der SS auf grausame Weise ermordet wurde.
Über Mühsams lebenslanges unermüdliches Wirken urteilte sein Zeitgenosse Rudolf Rocker:
»Mühsam war einer der wenigen wirklichen Revolutionäre, die sich auf deutschem Boden entwickelt haben. Seine grenzenlose Verachtung allen Philistertums, der ätzende Spott, den er unbarmherzig über die Selbstzufriedenheit des Spießers ausgoß, waren nicht die hohnvolle Lache eines zynischen Bohemien, der kein Platz im Leben findet, sondern der zornige Aufschrei eines Menschen, dessen Fühlen und Denken im Volk wurzelt und in dem das Leid aller Unterdrückten und vom Schicksal geschlagenen Ausdruck fand.«
Diese Bewertung spricht dafür, dass es Mühsam in seinem Leben gelungen war, seinem selbst formulierten Anspruch gerecht zu werden:
»Leb, dass du stündlich sterben kannst,
in Pflicht und Freude stark und ehrlich.
Nicht dich – das Werk, das du begannst,
mach für die Menschheit unentbehrlich.«