Universen auf Kollisionskurs

In Stuttgart gibt es auch einen Hauptbahnhof, der funktioniert

von Minh Schredle

Stuttgart gibt viel Geld aus, um auf dem Gebiet der Kultur wettbewerbsfähig zu bleiben. Kunst wird zum Vehikel für Marketing degradiert – während Meisterwerke wie das Stadtmodell von Wolfgang Frey vor dem finanziellen Aus stehen.

Wo die Wirklichkeit einen zerrütteten Eindruck macht, sind Paralleluniversen besonders verlockend. “Das Strafgericht Gottes ist der Bau des neuen Stuttgarter Bahnhofs und verwüstet die gesamte Innenstadt”, urteilte Ästhetikpapst Bazon Brock, als er Baden-Württembergs Landeshauptstadt 2018 einen Besuch abstattete. Deren Erscheinungsbild ist seit geraumer Zeit von aufwendigen Umgrabungsarbeiten geprägt, die für das Projekt Stuttgart 21 anfallen. Im Herzen der Stadt klaffen gewaltige Baugruben. Der eigentlich denkmalgeschützte Bonatzbau am Bahnhof wurde entkernt und auf eine Fassade reduziert, er ist inzwischen eine Attrappe seiner selbst – aus der bisweilen metergroße Steinbrocken herausbrechen, die hoffentlich auf keinen Köpfen landen.

Seit Brocks Besuch vor sechs Jahren hat sich am Tatort des Geschehens wenig zum Schöneren gewandelt. Die Stadt begrüßt per Bahn anreisende Gäste noch immer, als sollten sie verjagt werden. Doch direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die Welt noch in Ordnung: In einem Gebäude, das früher Hindenburgbau hieß und heute keinen Namen mehr trägt, präsentieren die Miniaturwelten Stuttgart, wie der Bahnhof mit seinem Gleisfeld und der Gegend rundherum einmal ausgesehen hat. Auf 180 Quadratmetern erbaute der 2012 verstorbene Wolfgang Frey in 30 Jahren eine originalgetreue Replik, die zugleich das größte Stadtmodell Europas ist und weltweit einmalig in ihrer Detailversessenheit. Als Brock, emeritierter Professor für Kunst, Ästhetik und Kulturvermittlung, die Anlage zum ersten Mal sah, war er “wirklich begeistert über einen solchen Fund – man kommt nach Stuttgart und denkt, naja, das wird das Übliche sein, und dann sieht man plötzlich das Grandioseste, was es in der Kunst der Gegenwart gibt.”

Der Berufsästhet konnte kaum glauben, dass es sich um das Werk eines Einzelnen handelt – was nur möglich ist durch vollkommene Selbstaufgabe: In einem fensterlosen Hobbybunker ohne Frischluftzufuhr arbeitete Frey zigtausende Stunden an seinem Lebensprojekt. Dabei soll er Unmengen geraucht und getrunken haben. Für persönliche Noten ließ ihm sein Auftrag keinen Spielraum: Die möglichst wirklichkeitsgetreue Imitation der Welt im Maßstab 1 zu 160 gestattet keine Abweichung. “Die vielgerühmte Schaffensfreude hat hier ihre kindlichen Wurzeln längst hinter sich gelassen und das Stadium multiresistenter Professionalisierung erreicht”, diagnostizierte der kürzlich verstorbene Stuttgarter Künstler Harry Walter.

Walter und das Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene (Soup) waren fasziniert von Freys Akribie und der Rigorosität, mit der er sich seinem Vorbild, der Realität, unterwarf. Diese Art der Modellbahnpraxis repräsentiere Walter zufolge “die vollkommene Identität von Autonomie und Fremdbestimmung, von Herr und Knecht, von Produzent und Rezipient”. Ein Fertigwerden wäre dabei gleichbedeutend mit dem Scheitern: “Der Sinn dieser Anlage bestand ja genau darin, mit jeder Lösung neue Probleme zu schaffen, um so die eigene Lebenszeit bis zum Rand mit Inhalt aufzufüllen.”

Das Modell wuchert ins Schlafzimmer

Freys Paralleluniversum ist dabei kein gewöhnlicher Fluchtraum im Sinne eines heilen Idylls ohne Risse, sondern verhält sich so originalgetreu, dass die 1.500 Miniaturzüge sogar einem alten Fahrplan der Bahn in Echtzeit folgen – auch wenn diese Pünktlichkeit aus heutiger Sicht natürlich sehr unrealistisch geworden ist. Doch das Modell ist Zeugnis einer Zeit, in der man die Deutsche Bahn noch als intakt bezeichnen konnte. Dass Frey etwas am Erhalt dieses Zustands lag, spiegelt sich in seiner Haltung zu S 21: “Mir nimmt niemand meinen Bahnhof und meine Gleise weg”, kommentierte er einmal. Offenbar war hier die Schmerzgrenze erreicht, wie weit er der Realität zu folgen bereit war – während er an anderer Stelle aus Radiergummi modellierte Grabsteine mit feinsten Faserstiften beschriftete, damit die Namen auf seinem Pragfriedhof dem realen Vorbild entsprechen.

Frey wurde nur 51 Jahre alt. Er hatte nicht nur Stuttgart, sondern auch seinen Arbeitsplatz nachgebaut. “Die quietschgelben Steuerkonsolen, die tchibobraune Wandverkleidung, die gelochten und mit Strahlern ausgestatteten Deckenpanele sowie die aus Tausenden von Einzelteilen zusammengesetzte Stelltafel waren aber keine bloße Kulisse”, berichtet Walter. Es handelte sich tatsächlich um ein funktionstüchtiges Stellwerk in Originalgröße. “Dass dieser Raum nur dazu dienen sollte, die Modelleisenbahn eines Privatmannes zu steuern, schien vielen unfassbar.”

Einiges deutet darauf hin, dass die Arbeit in der Freizeit ihm sogar wichtiger war als die Arbeit im Beruf. Laut Walter schulte der frühere Delikatesswarenhändler Frey vor allem deswegen zum Stellwerksbeamten um, damit er an die Pläne der komplizierten Trassenführung des Stuttgarter Bahngeländes herankam. Weil Frey aufgrund seiner Obsession chronisch übernächtigt war, ist zudem zu hören, dass er bei seiner eigentlichen Arbeit oft zu spät kam. Dabei hatte Frey sich, wie Walter beschreibt, in einem kleinen Nebenraum seines Hobbybunkers extra “eine Schlafstatt eingerichtet, die im Wesentlichen aus Bettcouch, Nachttisch und einem darauf abgestellten Röhrenfernseher bestand, der später, als auch in diesen Raum die Modelleisenbahn hineinwucherte, als deren Stütze diente”.

Die Ein-Mann-Pyramide

In einem Essay über die Ergebnisse soldatischer Bastelfreude zu Weltkriegszeiten stellte Walter einmal ganz allgemein fest, dass Männer in ihrer Freizeit gerne an etwas herumwerkeln, “das keinen speziellen Nutzen zu haben braucht, auf das sie am Ende aber doch irgendwie stolz sein können”. Dabei gilt die Weltformel: je größer, desto imposanter. “Ein aus einer Million geköpfter Streichhölzer zusammengeklebtes Schlachtschiff wäre beispielsweise nur noch mit leerem Staunen quittierbar”, meint Walter. “Überwältigt allein schon durch die in ein solches Objekt investierte Arbeitsleistung, müsste der Betrachter letztendlich kapitulieren.”

Unter Handwerkskundigen scheint Freys Kleinstadt den Kniefall zu erzwingen. Kunstprofessor Brock würde am liebsten schreien, glaubt aber, dass es schon die Stimmgewalt einer Oper bräuchte, um das Werk angemessen zu würdigen: “Das ist besser als jede Madonnendarstellung der katholischen Kirche und wenn man Vernunft hätte, würde man so was in Triumphbogen der Kirchen hängen.” Die “Pyramide von Stuttgart” entzückt den Fachmann allerdings nicht allein der investierten Arbeitsstunden wegen, sondern weil er sie für die “radikalste Form der Kritik an den Gegebenheiten” hält, “die man sich überhaupt vorstellen kann”: indem die Welt mit ihrem eigenen Modell konfrontiert wird.

Vom Lego-Spielkind bis zur Diplomingenieurin ist der Modellbau vom Grundgedanken der Weltbeherrschung geprägt. Auf dem Gebiet der Architektur zeigt das Stadtmodell dabei normalerweise das Mögliche auf, das von der Ebene des Wirklichen ausgehend zur neuen Realität werden soll. “Hier geht es jetzt von der Wirklichkeit rückwärts in die Möglichkeit”, urteilt Brock über Freys Modell, weil es einen intakten Bahnhof in Stuttgart zeigt. Möglichkeit und Wirklichkeit stimmten einmal überein, auch wenn das mit voranschreitendem Zerstörungsgrad der alten Realität immer schwieriger vorstellbar wird.

Durch die akribische Nachahmung der Stadt, wie sie einmal war, ist Freys Modell zugleich ein dokumentarischer Vollbeweis, dass Bahn und Politik in Stuttgart viel Geld dafür ausgeben, einen funktionierenden Bahnhof kaputt zu machen. An einer Reflexionsgrundlage, wie die Wirklichkeit zu dem wurde, was sie ist, können die dafür Verantwortlichen nicht interessiert sein. Entsprechend ist der Eifer in der örtlichen Politik überschaubar, sich für den Erhalt von Freys Anlage einzusetzen. Als der Stuttgarter Gemeinderat Ende vergangenen Jahres über den Haushalt beriet, beantragten SÖS und Die Linke, die defizitären Miniaturwelten mit 100.000 Euro zu bezuschussen. Eine Mehrheit fand das nicht, denn in Stuttgart ist Kunstfertigkeit nicht das entscheidende Kriterium, nach dem die Gelder verteilt werden.

Kunst und Markt sind natürliche Feinde

“Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Genießenden”, schrieb einmal Friedrich Nietzsche, dessen Gesamtwerk an diesem Maßstab gemessen vielleicht etwas zu populär geraten ist. Dennoch liefert der Ansatz eine plausible Erklärung, warum virtuose 12-Ton-Musik nur in Nischen beliebt ist, während fortwährend das Schlechte und Falsche in allgemeiner Bewunderung steht. Markt und Kunst sind folglich natürliche Feinde, wo eine Sache um ihrer Selbst willen betrieben wird.

Für große Teile der kommunalen Politik, insbesondere die CDU, scheint allerdings das Wachstum der Wirtschaft der einzige bekannte Selbstzweck zu sein, dem sich alle anderen Lebensbereiche unterzuordnen haben. Kultur wird daher als Vehikel verstanden, sich in der brutalen Konkurrenz des Weltmarkts vorteilhaft zu positionieren. Im “nationalen und internationalen Wettbewerb” um die Gunst von Touristen reiche “allein die Verfügbarkeit von kulturellen Attraktionen” nicht mehr aus, hieß es Ende 2021 in einem Antrag der Union. “Vielmehr müssen Destinationen zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit Synergieeffekte zwischen den Sehenswürdigkeiten einer Stadt und deren Region schaffen und sich einen Wettbewerbsvorteil durch ‘Leuchttürme’ schaffen.”

Diese mit Marketingjargon infizierten Plattitüden konnten den Gemeinderat überzeugen, 1,5 Millionen Euro für eine zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht weiter konkretisierte “künstlerische Großinstallation von Weltruf” bereitzustellen. Das reiht sich ein in eine geltungsbedürftige Kulturpolitik: Weil weder Billie Eilish noch Taylor Swift auf ihren Tourneen in Stuttgart vorbeigeschaut haben, soll die Hanns-Martin-Schleyer-Halle durch einen 400 Millionen Euro teuren Neubau ersetzt werden, der auch die ganz Großen lockt.

Wie Komplexe den Prozess der Entscheidungsfindung beeinflussen können, verdeutlichte auch der bislang größte Auftritt von Freys Miniatur vor einem Millionenpublikum: Im Januar 2019 war sie in der ZDF-Satire “Die Anstalt” zu sehen, um zu zeigen, wie der Stuttgarter Bahnhof vor Gottes Strafgericht aussah. In der Sendung wurde auch die CDU-Politikerin Annette Schavan, frühere Kultusministerin von Baden-Württemberg, zitiert, warum Stuttgart 21 so wichtig ist: “Es ging uns in der Landesregierung natürlich auch darum, München zu zeigen, was dieses Stuttgart draufhat.”

Wie eine künstlerische Großinstallation nach konservativem Geschmack aussehen könnte, ist also nicht nur unschwer auszumalen, weil die örtliche Union den von Christo verhüllten Triumphbogen in Paris als Vorbild für ihre Idee benennt. Konsequent wäre es also, über der schändlichen Bahnhofsruine ein Leichentuch auszubreiten und ein viel zu teures Hinweisschild aufzustellen: “Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist nur ein Gerücht. Hier gibt es nichts zu sehen.”

[zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 706 am 9. Oktober 2024]