Ernüchternde Erkenntnislage zur Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch
von Minh Schredle
Zuerst erschienen bei Disposable Times
Mit grünem Wachstum soll der Kapitalismus doch noch das Klima retten. Allein: Was an empirischem Material zum Thema vorliegt, gibt keinerlei Anlass, dass diese Hoffnung belastbar ist. Wir geben einen Überblick über die Studienlage.
Dass es auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen kein unendliches Wachstum geben kann, erscheint als Schlussfolgerung so naheliegend, dass es schon eine Menge Volkswirtschaftslehre braucht, um zur gegenteiligen Überzeugung zu gelangen. „Es geht“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Isabel Schnabel, Direktorin bei der Europäischen Zentralbank, und in einem Interview Ende März erläuterte sie, wie sie sich das vorstellt: „Der Punkt ist ja der, dass wir besser werden. Und wir entwickeln Technologien, mit denen wir – also ich meine, das ist ja im Begriff: Ökonomie heißt ja Haushalten. Das heißt: mit knappen Ressourcen umgehen. Das heißt, die Ökonomie ist eigentlich prädestiniert dafür, mit diesem Problem der knappen Ressourcen umzugehen. Und das heißt, man braucht Innovation und kluge Köpfe, die neue Technologien entwickeln, die einem helfen, mit weniger Ressourcenverbrauch Dinge zu produzieren oder was auch immer. (…) Die grüne Wende ist ein Wachstumsprogramm. Das ist unsere wichtigste Möglichkeit, aus der Wachstumsschwäche, die wir hatten, herauszukommen: neue Technologien zu entwickeln.“
Auch der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck will für den Schutz einer intakten Umwelt nicht auf Wachstum verzichten, denn: „Zu sagen: Wir verzichten auf die Idee von Wachstum heißt irgendwann: Wir verzichten auf die Idee von Fortschritt.“ Bei der „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ im Januar dieses Jahres machte Habeck seinen Standpunkt klar: „Es geht nicht um ein Entweder-Oder, sondern es geht darum, Wachstum und Entkopplung von Ressourcenverbrauch beziehungsweise CO2-Einsparungen zu kombinieren.“ Klappt es also, die Wohlstandsproduktion von ihrer stofflichen Grundlage zu loszulösen? Dem anwesenden Publikum präsentierte der Minister eine Grafik mit zwei Kurven: Die eine geht nach oben und zeigt das Wachstum der Bundesrepublik, die andere geht nach unten und soll die CO2-Bilanz erfassen. Damit ist der Beweis laut Habeck bereits erbracht: „Dass es möglich ist, das sehen sie ja.“
Und tatsächlich: Trotz Wachstum des Bruttoinlandsprodukts sind die jährlichen CO2-Emissionen in Deutschland im Vergleich zu 1990 um etwa ein Drittel gesunken, von 1.052 Millionen Tonnen auf aktuell 675 Millionen Tonnen. Kann der Kapitalismus also doch das Klima retten?
Es gibt durchaus Beispiele, wie eine relative Entkopplung von Produktion und Emissionen gelingen kann, etwa dank verbesserter Effizienz in der Automobilindustrie: So verursachen Kraftfahrzeuge heute in der Fertigung wie bei der Fahrt durchschnittlich weniger Schadstoffe als vor 20 Jahren – allerdings hört das Problem hier noch nicht auf. Denn die Zahl der Autos ist in der Zwischenzeit so stark gestiegen, dass die „absoluten Kohlendioxid-Emissionen im Straßengüterverkehr heute um 21 Prozent höher als 1995“, wie das Umweltbundesamt bilanziert, verbunden mit der Feststellung: „Das Mehr an Pkw-Verkehr hebt den Fortschritt auf.“
So ähnlich verhält es sich im globalen Maßstab: In einzelnen Segmenten der Industrie sind durchaus beachtliche Effizienzsteigerungen zu beobachten, die einen sparsameren Einsatz von Ressourcen und Rohstoffen ermöglichen. Allerdings kommt es beim weltumspannenden Problem der rasanten Erderhitzung auf die Gesamtbilanz an – und die ist desaströs: Seitdem der Klimaschutz in den 1990er Jahren in den Fokus der internationalen Politik rückte, haben sich die globalen Emissionen nahezu verdoppelt. Ausnahmen vom Trend sich permanent überbietender Allzeit-Rekorde bei der Treibhausgas-Freisetzung gab es nur, wenn Weltwirtschaftskrisen dazwischenfunkten.
Ernüchternde Erkenntnislage zur Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch
Die Hoffnung namens grünes Wachstum, die sich auch in der Börsenwelt immer größerer Beliebtheit erfreut, steht dabei auf äußerst wackligen Füßen. So hat ein 16-köpfiges Team um Dominik Wiedenhofer vom Wiener Institut für Soziale Ökologie hat untersucht, was bisher an belastbaren Erkenntnissen zum Thema Entkoppelung vorliegt. Die Forscher:innen haben mehr als 11.500 wissenschaftliche Publikationen durchleuchtet, schließlich 835 Volltexte empirischer Studien analysiert und ihre Ergebnisse 2020 zusammengefasst. Dabei kommen sie zu dem Resultat, dass für gewöhnlich „keine überzeugenden Beweise für eine absolute Entkopplung im erforderlichen Umgang“ zu finden waren oder aber die Aussagen uneindeutig bleiben (Link zur Studie).
Ob das Scheitern einer empirischen Beweisführung nur an einer mangelhaften Datenbasis liegt? Laut dem Forschungsteam sei bei der Menge von Fachliteratur zu Entkopplung und Wirtschaftswachstum eine drastische Zunahme zu beobachten, mit einer jährlichen Wachstumsrate von etwa 20 Prozent seit 2005. Dabei kritisieren Wiedenhofer und Co. allerdings, dass ein überwältigender Großteil der Untersuchungen sich dem Thema von einem „vereinfachten und rein statistischen ökonomischen Standpunkt annähert“, dass sich nur ein kleiner Teil mit Langzeitperspektiven befasst und schließlich, dass „die Möglichkeit einer grundlegenden Inkompatibilität zwischen Wirtschaftswachstum und systemischer gesellschaftlicher Veränderungen, um die Klimakrise anzugehen, nur selten in Erwägung gezogen wird“.
Auch das Europäische Umweltbüro (EUB) hat sich auf Spurensuche begeben, ob grünes Wachstum im Sinne einer permanenten und globalen Entkoppelung vom Ressourcenverbrauch möglich ist – und spricht von einem „Heuhaufen ohne Nadel“. Das Fazit sei gleichermaßen „überwältigend klar wie ernüchternd“: Nicht nur gebe es „keine empirische Evidenz“, dass eine absolute Entkopplung gegenwärtig stattfinde. Es erscheine auch, „unwahrscheinlich, dass eine solche Entkopplung in Zukunft geschehen wird“. Die Strategie sei daher vergleichbar damit, einen Baum mit einem Löffel fällen zu wollen: Wenn überhaupt möglich, handele es sich um ein sehr langwieriges Vorhaben, das aller Voraussicht nach zum Scheitern verurteilt sei. Wachstumsorientierte Konzepte gegen die Klimakrise seien daher eine „extrem riskante und unverantwortliche Wette“, und auf Entkopplung zu setzen, erscheine „weniger als Gelegenheit denn als Drohung“. (Link zur Studie)
Obwohl es einzelnen Staaten mitunter gelingt, ihre CO2-Bilanzen zu verbessern und weiter zu wachsen, gebe es nach Einschätzung des EUB mehrere Gründe, skeptisch zu bleiben. Besonders gravierend fallen dabei Externalisierungseffekte in Gewicht: Demnach würden zum Beispiel Probleme wie eine besonders schadstoffreiche und umweltbelastende Produktion bisweilen einfach von Staaten mit nominell niedriger CO2-Bilanz in Staaten mit höherer CO2-Bilanz verlagert. Zusammenfassend heißt es, es erscheine dringend geboten, nach Alternativen zu grünem Wachstum zu suchen.
Auch eine Gruppe finnischer Forscher:innen um Tere Vadén hat in einer Meta-Studie 179 Fachartikel zum Thema untersucht – und kritisiert, dass dort, wo Evidenz für eine Entkopplung von Kohlendioxid-Emissionen und Wirtschaftsleistung vorzuliegen scheint, die mögliche Verlagerung in andere Länder nicht berücksichtigt werde. Abgesehen von Treibhausgasen sei auch keine Entkopplung vom Rohstoffverbrauch feststellbar – laut den Vereinten Nationen wurden der Natur 2017 mehr als drei Mal so viele Rohstoffe wie 1970 entnommen –, und für eine aus ökologischer Sicht ausreichend schnelle Entkopplung fehle laut Vadén und Kolleg:innen jede Evidenz. „In Abwesenheit belastbarer Beweise basiert das Ziel der Entkopplung teils auf Glaube.“ (Link zur Studie)
Allerdings haben sich die Befunde der Empirie noch nicht überall herumgesprochen. „Ja, doch es geht“, bekräftigt EZB-Direktorin Schnabel im eingangs erwähnten Interview. „Es geht schon. Ich glaube, es geht. Sonst hätten wir ein Problem.“