Vortrag von Andrei S. Markovits
Arthur F. Thurnau Professor, Karl W. Deutsch Collegiate Professor of Comparative Politics and German Studies, Professor of Political Science, Professor of Germanic Languages and Literatures, Professor of Sociology The University of Michigan, Ann Arbor
gehalten am 5. Juni 2018 in Stuttgart auf Einladung des Deutschen Literaturarchiv Marbach in der Stiftung Geißstraße7
[Wir veröffentlichen den Text mit freundlicher Genehmigung des Autors]
– Meinem Freund und Kollegen MOISHE POSTONE (1942 – 2018) gewidmet –
Gott sei Dank haben wir das Dezimal-System. Denn diesem Umstand ist es zu verdanken, dass ich heute zu Ihnen sprechen darf.
Das Zehnersystem ist eine faszinierende, kulturübergreifende Konvention. Ihr ist es geschuldet, dass wir Dinge in Zehner-Segmenten kategorisieren – Gehälter, Ausgaben, den Aktienmarkt, politische und sportliche Wettbewerbe, persönliche Zeitabschnitte ebenso wie politische und historische Epochen. Gleiches gilt für das Gedenken bestimmter Ereignisse: Wir sind es gewohnt, „runden“ Jahrestagen eine große Bedeutung beizumessen.
Wer kennt schon die genauen Gründe, warum sich ausgerechnet das dekadische Zahlensystem durchgesetzt hat: vielleicht weil wir zehn Finger haben und es deshalb sinnvoll ist, Dinge nach diesen gottgebenen Fingerfertigkeiten zu sortieren. Das war nicht immer und überall selbstverständlich. Die Sumerer in Mesepotamien im 3. Jahrtausend vor Christus hatten das Sexagesimal-System, das auf der Zahl 60 beruhte, das sie an die Babylonier weitergaben, und das uns nicht völlig fremd ist: Man denke an 60 Sekunden, 60 Minuten und 360 Grad. Ein anderes Zahlensystem, basierend auf der 12, existierte schon vor den Sumerern. Auch davon kennen wir Überbleibsel: 12 Inches, 12 Stunden. Für Mathematiker ist bekanntermaßen die 12 eine sehr viel attraktivere Zahl als die 10. Bei uns gibt es die „Dozenal Society of America“ , die das Dezimal-System durch ein Duodezimal-, also ein 12er-System ersetzen moechte. Ich wage zu behaupten, dass sie auf absehbare Zeit mit diesem Unterfangen nicht sehr erfolgreich sein wird.
Was ich sagen will: All diese zeitlichen Einteilungen sind wahllos und zufällig. Es gibt keinen vernünftigen Grund, einen 50. Jahrestag gegenüber einem 48. (nach dem Duodezimal-System) oder einen 53. zu bevorzugen. Die zeitliche Festlegung von Gedenken ist vollkommen willkürlich.
Wesentlich weniger willkürlich, dafür aber analytisch umso aufschlussreicher, ist der aktuelle Kontext solchen Gedenkens. Und nichts ist auffälliger als eine vollständig nationalisierte Sicht auf erinnerte Ereignisse. Das betrifft gerade auch „1968“, handelte es sich doch um ein vorgeblich länderübergreifendes Geschehen. Doch das erfährt man nicht aus den gegenwärtigen Erinnerungen: Die deutschen Medien berichten fast ausschliesslich nur über die 68er-Bewegung in Deutschland. Sehr wenig über Frankreich, geschweige denn über die Vereinigten Staaten. Selbst der Begleittext zu dieser Veranstaltungsreihe illustriert das „Ereignis 1968“ allein mit deutschen Geschehnissen: der Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 oder der Besetzung des Frankfurter Instituts fuer Sozialforschung im Januar 1969. Mag sein, dass irgendjemand irgendwo in Deutschland Paris oder Prag oder Ereignisse in den Vereinigten Staaten und in Japan erwähnt hat, aber ich kenne keinen.
Das gleiche lässt sich von der französischen Erinnerung sagen. Auch hier begegnet man nur den „événements“ von Paris und den „soixantehuitards“, aber ueber die Freie Universität in Berlin oder über Rudi Dutschke und deren Einflüsse auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik findet sich bestenfalls wenig. Auch hier, wie in Deutschland, Stillschweigen über die amerikanischen Ereignisse, die Paris vorausgingen. (Nebenbei wurde nirgendorts – zumindest meines Wisssens – die weitaus größte Demo von Paris im Jahre 1968 erwähnt: Die Gegendemo von Millionen Franzosen und der größte parlamentarische Sieg in der Geschichte der Gaullisten. Man muss halt überall neben dem progressiven Triumph, den diese „1968-er“ Bewegungen in diesen Ländern erreicht haben, auch die Reaktion auf diese Entwicklung betonen: und die war in Frankreich und auch in den USA nicht gering. In jenem festigte die Bewegung als Gegenreaktion zu ihr die Gaullisten, in diesem kam schliesslich Richard Nixon zur Macht, der den langen Weg der Reaktionisierung der Republikanischen Partei einleitete.)
Der gleiche Provinzialismus durchzieht die Diskussionen in den Vereinigten Staaten über 1968, in denen die Geschehnisse in Frankreich und Deutschland kaum eine Rolle spielen. Einige Ausnahme gab es: Am Center for European Studies der University of Michigan hatten wir eine ganze Veranstaltungsreihe über die verschiedenen europäischen 1968s. (Dafür aber nichts zu den USA, und dies an der University of Michigan wo dieses gesamte Konstrukt „1968“; die Neue Linke mit dem berühmten Port Huron Statement von 1962 begann und die Wiege des amerikanischen SDS – der Students for a Democratic Society – schuf.) Die New York Times veröffentlichte zwei lange Artikel über „1968“ in Paris. Einer davon widmete sich einer gegenwärtigen Ausstellung der berühmten Plakate dieses Geschehnisses. Aber das war es schon.
Eines möchte ich festhalten. Das Jahr 1968 war in den Vereinigten Staaten schon wegen der schieren Größe der Ereignisse zumindest genauso bedeutsam wie in Frankreich oder Deutschland, wenn nicht sogar noch bedeutsamer: Präsident Johnsons Ankündigung, nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren zu wollen, die Ermordung Martin Luther Kings, die Studentenunruhen an der Columbia-Universiäet, alles nur im April des Jahres (obwohl Praesident Johnsons Erklärung am 31. März stattfand); die Ermordung Robert „Bobby“ Kennedys, die Strassenschlachten zwischen der Polizei und linken Demonstranten beim Parteitag der Demokraten in Chicago im August. Ich möchte hier eines der Ereignisse herausgreifen: die Columbia University als pars pro toto, als Beispiel für das fortwirkende Vermächtnis dieses annus mirabilis.
Meine Ausführungen beschränken sich also auf die amerikanische Situation, und das aus drei Gründen: Erstens kenne ich die amerikanischen Geschehnisse mindestens so gut wie die deutschen und französischen obwohl ich nur im jenigenals unmittelbarer Teilnehmer und Zeitzeuge und nicht post facto als Wissenschaftler fungierte, zweitens nehme ich an, dass Sie vielleicht ein Interesse haben, etwas von einem „1968“ und seinen Auswirkungen zu erfahren, das Ihnen vielleicht nicht ganz so vertraut ist wie das deutsche Pendant. Und drittens bat mich Dr. Zwarg etwas persönliches in meinem Vortrag zu betonen.
Es wäre natuerlich töricht zu behaupten, dass irgendetwas, das „1968“ geschehen ist, unmittelbar ursächlich für etwas in unserem heutigen Leben ist. Es gibt in der Geschichte keine Kausalzusammenhänge, nur nebulöse und ausgesprochen komplexe Korrelationen, die sich in unkalkulierbaren, häufig im Zickzack verlaufenden Umwegen äußern. Es gibt keine Blaupausen, Masterpläne, keine teleologischen Prozesse. Keine gewaltigen, unbezähmbaren Ströme, nur von Zeit zu Zeit Bäche, die in einer gewissen Ordnung zu verlaufen scheinen, aber massive Brüche aufweisen, die sich dann zu klaren Mustern formen. Dies ist so wie Wasser in den Wadis in der Wüste, welches sintflutartig durch diese Schluchten saust um nur dann bald total zu verschwinden.
Und: Es gibt keine Helden. Selbst die good guys der Geschichte begehen gravierende Irrtümer, in moralischer Hinsicht wie im täglichen Leben. Ich kenne da keine Ausnahmen. Ich habe nie irgendwelche Achtundsechziger in den Himmel gehoben und werde das niemals tun. Ihre Fehler waren häufig zu häßlich für mich, wofür sie oft nichts konnten – das Leben ist eben so, unschön, manchmal schmutzig.
Ich war immer ein Anhänger des geflügelten Wortes, das mein früherer Kongressabgeordnete von Massachusetts, Thomas „Tip“ O’Neill, geprägt hat: „All politics is local“. Auch wenn er es anders gemeint hat, ich glaube, dass, wie mein Freund Volker Bahl mit Blick auf meinen heutigen Vortrag schrieb, „Fehler wie auch Fortschritte entwickeln sich nicht aus der Fernsicht von 50 Jahren, sondern immer wieder im Kleinen und Örtlichen, durch langwierige Kleinarbeit…, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren.“
Es ist schön, grundlegende Veränderungen historischer, politischer und kultureller Art zu beschreiben, aber ich kann nicht verlangen, dass diese Veränderungen automatisch zu mehr Moral, Tugend und noblerem menschlichen Verhalten führen. Das tun sie eben nicht! Ich möchte in der mir bleibenden Zeit den neuen Ton hervorheben, der sehr deutlich die Melodie des amerikanischen Lebens seit 1968 verändert hat. Ob sie schöner, sanfter, weniger Misstöne aufweist, mag ich nicht beurteilen. Sie ist hauptsächlich anders.
Meine folgenden Ausführungen mögen Sie für eine Lobeshymne auf „1968“ halten, weil ich vor allem positive Entwicklungen erwähne. Das hat mit der begrenzten Zeit zu tun, die mir heute Abend zur Verfügung steht. Zudem möchte ich Sie nicht mit dem Schicksal mancher Freunde behelligen, denen die Geschehnisse dieses Jahres und deren Folgen das Leben ruinierten: Drogenmissbrauch; zerrüttete Familien; Schäden durch die Zugehörigkeit zu wechselnden politischen Sekten, von denen sich die meisten als Schwindelveranstaltungen von Größenwahnsinnigen entpuppten; Häuser, die in die Luft flogen, weil Leute Bomben für die Revolution bastelten; die plötzliche Normlosigkeit und anomische Freiheit, der Wandel von Werten, was die Menschen so sehr entwurzelte, dass sie nie wieder auch nur den Anschein von Stabilität und Sicherheit zurückgewannen, die wir alle für ein gutes Leben benötigen. (Nur um ein Beispiel eines solchen Verlustes zu nennen: am 6. März 1970 kam mein Bekannter Ted Gold, der während seines Columbia-Studiums, wie auch ich, in der Furnald Hall wohnte, in Greenwich Village beim Bombenbasteln ums Leben)
Ich habe nicht die Absicht, „1968“ in irgendeiner Weise zu glorifizieren – obgleich ich sehe, dass es der Anfang einer verstärkten Einbeziehung von zuvor ausgegrenzten Menschen, sogar von nicht-menschlichen Arten war und deshalb für mich eine Demokratisierung bedeutet. Aber „1968“ beginnt den Prozess eines Zugeständnisses erhöhter Autonomie, Gediegenheit, und Würde für vorher ausgeschlossene Wesen, wie wir es vorher nicht kannten. Und letztendlich ist für mich DIE Grundlage jeder Demokratisierung die andauernde Inkludierung von bisher Ausgeschlossenen nicht nur im politischen Entscheidungsprozess, sondern im Bereich von Würde und Achtung.
Nun zu meinem „1968“. Es war der 23. April, ein schöner Frühlings-Dienstag, knapp drei Wochen nach der Ermordung von Martin Luther King. Ich hatte mein Seminar in Vergleichender Politik hinter mir, das wie die meisten meiner Kurse an der Hamilton Hall (Ja, nach dem berühmten Founding Father der Republik, Alexander Hamilton, dem Gründer der United States Treasury, der damals als Student das Kings College besuchte, wie Columbia noch zur Zeit der britischen Regierungszeit hieß) der Columbia stattfand, dem Zentrum des undergraduate college der Universität. Ich ging an der Westseite des Gebäudes entlang, in Richtung „Sun Dial“, dem Herzen des Columbia-Campus. Dort hatte sich eine Gruppe um Raymond A. Brown versammelt, Führer der Student’s Afro-American Society.
Raymond Brown attackierte die Columbia-Universität, den Bau einer Sporthalle im nahe gelegenen Morningside Park zu planen, einem der wenigen grünen Flecken im benachbarten Harlem. Nicht genug damit, dass die steinreiche, weltbekannte Ivy League-Hochschule, damals angefangen bei den Studenten über die Verwaltung bis zum Lehrkörper fast ausschließlich von privilegierten weißen Männern bevölkert, dabei war, zusätzlich zu dem schon zwar obsoleten aber perfekt noch funktionierenden bestehenden Sportkomplex auf dem Campus eine zweite Sporthalle zu bauen, auf Grund und Boden, den sie für wenig Geld von den zumeist schwarzen und armen Bewohnern der Umgebung erstanden hatte. In paternalistischer Überheblichkeit wollte sie zudem die neue Einrichtung mit einem separaten Eingang versehen, der ausschliesslich von den Bewohnern Harlems genutzt werden sollte. Dass dieser Eingang baulich unterhalb des Zugangs fuer die weiße, reiche Studentenschaft gelegen war, setzte dem ohnehin verheerenden Symbolismus die Krone auf. (Der Ort der vorgeschlagenen Sporthalle war für das hügelige Gelände von MORNINGSIDE PARK geplant, auf dessem Plateau sich die Unversität befand und auf dessem Sockel Harlem. D.h. die Studenten hätten einen Eingang benutzt, der über dem der Community angesetzt war. Kurz: Die Universität lag geographisch wie auch symbolisch ÜBER der schwarzen Community. )
Das Sporthallenprojekt war das perfekte Sinnbild der Herrschaftsverhältnisse – oder deren Karikatur: Eine übermächtige weiße Institution zwingt der schwarzen Gemeinschaft ihren Willen auf, indem sie ihr begrenzten Zugang zu einer im Grunde ungleichen Einrichtung gewährt: von dem Olymp herab sozusagen.
Raymond Brown beließ es nicht dabei. Er kritisierte die Mitgliedschaft der Columbia-Universität in einem Konsortium, welches militärische Forschungen für den zunehmend verhaßten Vietnam-Krieg durchführte. Darüber hinaus thematisierte er Missstaende, unter denen die schwarze Nachbarschaft der Hochschule ebenso wie weite Teile der Weltbevölkerung zu leiden hatten. Zum allerersten Mal hörte ich eine Rede, die sich durch, heute würde man sagen: intersectionality auszeichnete, ein zentrales Vermächtnis von „1968“ wo eben viele, prima facie total voneinader unabhängige Missstände, in einen zwingenden Zusammenhang der Ausbeutung und Ausgrenzung gebracht werden.
Immer mehr Zuhörer fanden sich ein und machten sich bald auf den Weg zur – und in die Hamilton Hall. Nach und nach besetzten sie das Gebäude und hielten den Dekan in seinem Büro fest. Ich stimmte dem zu, was ich gehört hatte, aber auf die spontane Festtagsstimmung vieler weißer Studenten, die sich der Menge angeschlossen hatten, reagierte ich eher skeptisch. Sie hatten offenbar eine willkommene Gelegenheit gefunden, um ihren völlig legitiemen Ärger kund zu tun. In ihrem Verhalten äußerte sich aber so etwas wie eine auf materielle Sicherheit beruhende Arroganz, der mir in vielen nächtelangen Debatten mit Kommilitonen, die zu den Students for a Democratic Society, dem amerikanischen SDS, gehörten oder mit ihnen sympathisierten, begegnet war und mein Unbehagen hervorgerufen hatte. Ich schätzte ihre intellektuellen Fähigkeiten, misstraute aber den Motiven ihres Aufbegehrens und fand sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen wohlsituierten materiellen Lage wenig überzeugend. Wurden sie Revolutionäre aus Spaß, um Mädchen zu imponieren, um cool zu scheinen, um ein Abenteuer zu bestehen, was für College-Studenten eine Pflicht war? Mir war deren Kosten und Risiken nie klar und irgendwie zu gering. Deswegen stand ich ihren Handlungen und Motivationen, nicht aber ihren Forderungen, mit einer gewissen Skepsis gegenüber.
Ebenso misstraute ich ihrer uneingeschränkten Bewunderung für Polit-Ikonen wie Che Guevara, Ho Chi Minh, Fidel Castro und – im schlimmsten Fall – für Mao Tsetung. Demokratie war für mich immer mit Vorbehalten gegenüber jeder Form von Führerschaft verbunden, wenn nicht sogar mit offener Ablehnung. In meinen Zimmern hingen Poster von Bob Dylan, Jimi Hendrix, den Beatles, den Stones und natürlich von meinem geliebten Jerry Garcia und seinen Grateful Dead, niemals von irgendwelchen politischen Idolen. Ich bleibe bis heute stolz darauf, dass ich nie einen Politiker in meinem Leben bewunderte, geschweige denn vergöttlichte, wie dies damals auf Columbia und andernorts viele taten und leider immer noch tun und stets tun werden.
Ich hatte an jenem Nachmittag um 17 Uhr ein Seminar über Politische Parteien und Interessengruppen, auf das ich mich noch vorbereiten musste. Ich verliess die Hamilton Hall und ging in die nebenan gelegene Butler Library, um meinen Aufgaben als braver Student nachzukommen. Mein Pflichtbewusstsein war auch dem Wissen geschuldet, welch emotionales Opfer es meinen Vater gekostet hatte, sich von seinem einzigen Kind zu trennen und mich aus dem damals noch tief muffigen und von mir so verhassten Wien nach Columbia ziehen zu lassen. Für ihn, dem es nie gelungen war, Europa, wie er es so tief aus ganzem Herzen und sein Leben lang wünschte hinter sich zu lassen, einem Ort, der ihm nur Leid und Tod gebracht hatte, war das ungemein wichtig: Ich dagegen durfte die Gelegenheit in den USA erfolgreich zu sein, in jenem goldenen Land – die GOLDENE MEDINE — nach dem sich so viele Juden aus der Generation meines Vaters gesehnt hatten, nicht verspielen. Das Mindeste, was ich im Gegenzug für meinen Vater tun konnte war der bestmöglichste Student zu sein. Das soll nicht etwa entschuldigen, dass ich mich an der Besetzung der Hamilton Hall und anderer Gebäude während des Columbia-Aufruhrs im April und Mai 1968 nicht beteiligte. Da kamen auch wichtige politische Vorberhalte ins Spiel, aber ich habe keinen Zweifel, dass die Story meines persönlichen Hintergrundes auch zu meinem Verhalten einiges beitrug.
An diesem Abend geschah in Columbia etwas ganz Entscheidendes: Die afroamerikanischen Studenten forderten ihre weißen Kommilitonen auf, die Hamilton Hall zu verlassen. Dieser Schritt wurde zum Symbol für das vermutlich bedeutsamste Vermächtnis von „1968“ in den Vereinigten Staaten: die volle Mündigkeit der afroamerikanischen Bewegung – ohne jedes weiße, wenn nicht beabsichtigte, so doch strukturelle Patronat. Schwarze Studenten wurden zu wahren Subjekten.
Unter vielen Faktoren beseitigte dieser Moment ein Schlüsselelement der einst von Franklin D. Roosevelt geschaffenen, für die Demokratische Partei so bedeutsamen New Deal-Koalition: das harmonische Verhältnis zwischen Juden und Afroamerikanern. Auf manchen Feldern gibt es das nach wie vor, doch seit „1968“ sind die Beziehungen angespannt und müssen ständig von Fall zu Fall neu verhandelt werden. Es gibt keinen Automatismus mehr wie bei den „Freedom Riders“ von 1963, als Juden aus dem Norden der USA in die rassegetrennten Südstaaten fuhren, um der dortigen schwarzen Bevölkerung zu helfen, sich als Wähler registrieren zu lassen, wofür sie vom Ku-Klux-Klan ermordet wurden.
Wie Mark Rudd, damals SDS-Führer auf dem Columbia-Campus, in einem Beitrag für die New York Times am 23. April diesen Jahres feststellte: Das im historischen Sinne bedeutendste Ereignis jener Zeit auf Columbia war die Autonomie der afroamerikanischen Studenten, die er – und ich stimme dem zu – als einen wichtigen Schritt im andauernden Kampf um die Demokratisierung der amerikanischen Politik betrachtet.
Aus der Hamilton Hall ausgeschlossen, machten sich die SDS-geführten weißen Studenten daran, vier weitere Universitätsgebäude zu besetzen, darunter die Low Library, wo sie den Präsidenten der Universität festsetzten und gefangen hielten. (Nebenbei beschreibt mein Klassenkamerad – Columbia College, Class of 1969 – der auch in Deutschland sehr bekannte Paul Auster in seinem neuen Buch „4321“ diese Episode um Low Library.) Eine Woche lang funktionierte der Campus nicht mehr in gewohnter Weise. Stattdessen gab es hitzige Diskussionen zwischen drei Parteien: einerseits protestierende Besetzer und ihre Anhängern vor den Gebäuden, andererseits Studenten, die sich gegen die Aktivisten und ihre Ziele stellten, und schliesslich eine Gruppe von Studenten und Professoren, die als Puffer zwischen den beiden fungierte und einen allseits befürchteten Polizeieinsatz zu verhindern suchte. Zusammen mit zwei meiner inzwischen verstorbenen Professoren, darunter dem weltberühmten Sprachwissenschaftler Robert Austerlitz, Neffe von Fritz Austerlitz, dem langjährigen Chefredakteur der in Wien erscheinenden „Arbeiterzeitung“, war ich sehr engagiert in dieser Gruppe, weil ich einerseits die Ziele der Besetzer unterstützte, ihre Methoden aber ablehnte und ihren Motiven misstraute.
In den frühen Morgenstunden des 30. April rief die Universität die New Yorker Polizei zu Hilfe, um die besetzten Gebäude räumen zu lassen. Columbia traute sich nicht viel früher, wie die Universitätsleitung dies ja wollte, die Polizei zu rufen, da sie befürchtete, dass das die Universität umgebende schwarze Viertel im Norden von Manhattan liegende Harlem in einen Aufstand sich begeben würde, besonders knappe drei Wochen nach Dr. Martin Luther King Jr.s Ermordung. Abgesehen von der Hamilton Hall, die die afroamerikanischen Studenten freiwillig und friedlich verliessen, wurden die anderen besetzten Lokalitäten zu brutalen Schlachtfeldern mit Hunderten verletzter Studenten und Einsatzkräfte. Ich werde diese Nacht niemals vergessen, aus vielerlei Gründen, von denen ich hier nur einen nennen will, weil er auf ein Vermächtnis von „1968“ verweist: Hier schrieen reiche weiße protestantische und jüdische Kids aus den besten Gegenden und von den besten Privatschulen des Landes, aufgewachsen in materiellem Überfluss, ihren Hass und ihre Verachtung gegen ihre nahezu gleichaltrigen italienisch-, irisch-, slowakisch- und polnisch-stämmigen, teilweise sogar schwarzen Kontrahenten heraus, nur weil die blaue Uniformen trugen und nicht von der Upper West Side oder Upper East Side Manhattans kamen, sondern aus Staten Island und Queens.
Mir kam diese Konfrontation wie ein merkwürdiger Klassenkampf vor, der mit vertauschten Rollen ausgetragen wurde: Ökonomisch, sozial und kulturell privilegierte Linke kämpften gegen Angehoerige des Volkes, für dessen Macht und Rechte sie angeblich mit ihrem hallenden Slogan „Power to the People“ eintraten. Dieser Konflikt setzte sich in der Spaltung der Demokratischen Partei fort, eskalierte im Umfeld des Nominierungsparteitags der Demokraten in Chicago drei Monate später: auf der einen Seite die weiße liberale und vielfach jüdische und alt-protestantische Intelligenz und privilegierte Gruppen, im Bündnis mit Afroamerikanern, auf der anderen Seite die männliche Arbeiterschaft ohne College-Ausbildung, die traditionelle städtische Arbeiterklasse, die seit dem New Deal der fruehen 1930er-Jahre das Rückgrat der Demokratischen Partei gebildet hatte.
In politikwissenschaftlichen Seminaren an der Columbia-Universität hatte ich gelernt, dass sich gebildete und vermögende Amerikaner eher für die Republikaner entscheiden, außer Juden. Und dass die verlässlichsten Anhänger der Demokraten aus der Arbeiterklasse kommen, einen irischen, ost- oder südeuropäischen Hintergrund haben und in den grossen Städten wie New York, Chicago oder Boston leben. Das genaue Gegenteil trat 1968 ein, siehe Columbia und Chicago – und bewirkte einen grundlegenden Wandel in Bezug auf die Klientel der amerikanischen Parteien. Von 1968 an wandte sich die weiße Arbeiterschaft den Republikanern zu – Nixon, Reagan, Bush, Bush Jr., Trump! Der Süden der Vereinigten Staaten, seit dem Bürgerkrieg fest in demokratischer Hand, wurde nach 1968 zu einer Hochburg der Republikaner. Umgekehrt sind Bildung und Wohlstand zu wahrscheinlich dem massgeblichsten Indikator für ein Votum zugunsten der Demokraten geworden; je mehr von beidem eine Person besitzt, desto wahrscheinlicher unterstützt sie die Demokratische Partei.
Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass in keinem anderen fortgeschrittenen Industrieland der „gender gap“ so ausgepraegt ist wie in den Vereinigten Staaten. Frauen wählen ueberproportional Demokraten, Männer Republikaner. Das ist allerdings, wie Daniel Wirls gezeigt hat, weniger eine Folge der Linkswanderung der Frauen, sondern der Rechtsdrift und eine zunehmend konservative Haltung der Männer, insbesondere der weißen. Das letzte Mal, dass weiße amerikanische Männer mehrheitlich dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten ihre Stimme gaben, war 1964 – für Lyndon B. Johnson. Dann passierte „1968“, und die weißen Männer liefen fluchtartig zu den Republikanern über, wo sie seit dieser Zeit fest verankert blieben.
„1968“ führte die Demokratische Partei in ein Bündnis so genannter „Limousinen-Liberaler“, Afroamerikaner, andere nicht-europäische Ethnien wie Latinos und Asiaten, Muslime und Juden – wobei es unter den letzteren eine wachsende stimmgewaltige Minorität gibt, die sich deshalb von den Demokraten abwandte, weil „1968“ einen Distanzierungsprozess der Linken gegenüber Israel in Gang setzte, der auch die Demokratische Partei erfasst hat. 1968 beginnend und im Laufe der folgenden Jahre wachsend, gab es punkto Israel auch einen Seitenwechsel. Die Republikaner, ehedem Israel oft distanziert eingestellt, identifizieren sich heute zu über 80 Prozent als starke Freunde Israels während dies die Demokraten, die tradionellen Freunde Israels und noch immer die Partei der amerikanischen Juden, dies zu weniger als 50 Prozent mit fallender Tendenz tun. Die Konstellation der gesellschaftlichen Klassen aus der Zeit vor 1968, die den Links-Rechts-Gegensatz und die Konkurrenz zwischen Demokraten und Republikanern begründet hatte, veränderte sich grundlegend. Neue Klüfte und Trennungen kennzeichnen die amerikanische Politik, in deren Mittelpunkt Rasse, Geschlecht und andere Themen stehen, die zusammen das Konzept der berühmten identity politics bilden.
Die Nöte weißer Arbeiter, die Woody Guthrie, ein Verfechter fortschrittlicher Politik, in Songs wie „Pastures of Plenty“ oder „Hard Travelin“ fuer Oklahoma oder den „Dust Bowl“ (der arme, weiße, ausgebeutete Arbeiter aus der Prairie Oklahomas als Träger progressiver Politik) so eindringlich beschrieben hat, war das zentrale Anliegen linker Politik in den Vereinigten Staaten bis 1968. In der Nach-68-Ära wurde aus genau diesen Leuten Merle Haggards „Okie from Muskogee“ (und inzwischen ist der genau gleiche aus Oklahoma stammende weiße Arbeiter zum Träger und Repräsentant der Reaktion schlechthin und der Red Necks und des White Trash, also zum Kern der Trumpanhänger mutiert), der ungebildete, konservative, nationalistische, Country-Musik liebende, die linke Elite hassende weiße Mann des mittleren Westens, der unerschütterliche Parteigänger Trumps.
Machen wir uns nichts vor: Die wichtigste Kluft, die Amerika von 1968 bis zum heutigen Tag durchzieht, ist in erster Linie kultureller, nicht ökonomischer Natur. Die Spaltung des Landes, zu Recht als der große „Kultur-Krieg“ bezeichnet, hat sich seit 1968 stetig vertieft.
Ich möchte Ihnen an ein paar Beispielen zeigen, wie „1968“ die Columbia-Universitaet verändert hat. Die Beispiele demonstrieren zugleich, wie weit die Folgen dieses bedeutsamen Jahres reichten.
– Das berühmte Columbia College hat Anfang der 1970er-Jahre die Koedukation eingeführt. Das taten auch andere Ivy League-Institutionen, beispielsweise Yale. Das Barnard College, Columbias traditionell weibliches Gegenstück auf der gegenüberliegenden Seite des Broadway, entschied sich hingegen dafür – auch das eine Folge von 1968 – weiterhin nur Studentinnen aufzunehmen und wurde damit Ausdruck einer anderen Art Feminismus der beiden Hochschulen. Diese Entwicklung widerspiegelt die beiden Hauptströmungen der zweiten Welle des Feminismus (die erste Welle konstituierte sich natürlich hauptsächlich aus den Sufraggistinen des 19. Jahrhunderts mit herausragenden Persönlichkeiten wie Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton), die sich im Laufe der 1960er-Jahre herausbildeten: der auf Gleichberechtigung ausgerichtete Feminismus – EQUALITY FEMINISM — (am Columbia College) und der auf Identität abgestellte Feminismus – IDENTITY FEMINISM — (am Barnard College).
– Die Präsenz von Frauen an der Columbia-Fakultät hat enorm zugenommen. Für Studierende mit dem Hauptfach Politische Wissenschaft ist es heutzutage unmöglich, in den zirka 40 Seminaren, die sie im Laufe des vierjährigen Studiums besuchen, niemals einer Professorin zu begegnen. Ich selbst hatte keine weiblichen Lehrkräfte an der Columbia, ebenso wenig auf dem Gymnasium in Wien. Ich hatte nie eine Lehrerin, abgesehen von Frau Kleefass an der Nikolaus Lenau-Schule im rumänischen Timisoara (Temesvar) von 1955 bis 1958. Heute sind weibliche Fakultätsangehörige überall präsent. Und das betrifft nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern ebenso die viel diskutierten STEM-Faecher, also Naturwissenschaften, Technologie, Ingenieurswesen und Mathematik.
– Die Curricula der beiden zweijährigen Columbia-Seminare „Contemporary Civilization“ und „Literature Humanities“, die seit 1919 beziehungsweise 1937 für jeden Studenten obligatorisch waren, sind überarbeitet worden. Zu meiner Zeit drehten sich diese Veranstaltungen nur um die großen Werke einer einzigen Gruppe, nämlich DWEMS (Dead White Eurpean Males – tote weiße europäische Männer). Das ist längst nicht mehr so. Heute umfassen die Lehrangebote die Werke vieler auch nicht-europäischer Autoren – und Autorinnen. Nur die Bedingung, tot zu sein, gilt offenbar weiter. Vielleicht soll sie zeigen, dass wahre Größe, derer es um in diesen Kursen als Autor unterrichtet zu werden, erst posthum zu haben ist.
„1968“ warf ernsthaft die Frage auf, ob der westliche Fortschritt tatsächlich wünschenswert ist. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Männern und Frauen. Unsere Auffassung von Sexualität änderte sich. Neulich sah ich zufällig eine Folge von „Wheel of Fortune“, eine durch und durch konventionelle, ungemein biedere und immer am Mainstream orientierte Gameshow im amerikanischen Fernsehen. Bei den Kandidaten handelte es sich um schwule, lesbische und transsexuelle Paare. Unglaublich!
Das victorianisch inspirierte Bild der idealen amerikanischen Familie, wie es TV-Shows von der Sorte „Leave it to Beaver“ über Jahrzehnte popularisiert haben – der arbeitende Mann, die Hausfrau und Mutter, zwei Kinder, ein Vorstadt-Häuschen –, diese spiessbürgerliche Vorstellung ist vollständig verschwunden. Stattdessen gibt es Sendungen wie „Shameless“ und unzählige andere, in denen eine Vielzahl familiärer Beziehungen vorgeführt werden, die sich entsprechend der sexuellen Neigungen und Geschlechterrollen von Folge zu Folge ändern. Ich finde es ausgesprochen bemerkenswert, wie schnell die amerikanische Öffentlichkeit diesen massiven sozialen Wandel akzeptiert hat.
„1968“ veränderte ebenso die victorianische Auffassung von Alter. In der Vor-68er-Zeit waren Kinder und Jugendliche gekleidet wie Erwachsene. Wie weit diese Gepflogenheit zurückreicht, zeigen die wunderbaren Brueghel-Gemälde im Wiener Kunsthistorischen Museum. Da sehen wir Kinder die einfach kleinen Erwachsenen gleichsehen. Das genaue Gegenteil geschah nach 1968: Selbst ältere Professoren kleiden sich seither wie ihre Studenten. Sehen Sie sich Bilder von Horkheimer und Adorno an, den Koryphäen des Frankfurter Instituts. In ihren gepflegten dunklen Anzügen und mit sorgfältig gebundenen Krawatten sehen sie aus wie gediegene Erwachsene, eigentlich wie Rechtsanwälte oder Spitzenmanager, aber keineswegs wie gegenwärtige Professoren in den Geistes- und Sozialwissenschaften. (Und Jura und Betriebswirtschaft und Medizin mag das schon anders sein). Meine Generation von Professoren hingegen liefert der Welt in Sachen Kleidung das Bild ergrauter Teenager. „1968“ sorgte dafür, dass wir partout an der Jugendlichkeit und ihrer Kultur festhalten wollen. „Forever young“, wie Bob Dylan singt.
„1968“ warf die ziemlich genau hundert Jahre währenden Lehren über den Haufen, die bestimmten, was es heißt, politisch links zu sein. Sie kennen alle die verschiedenen Glaubenssätze, auf die sich die alte Linke gründete und die sie von der neuen Linken unterschieden. Ich will mich darüber nicht weiter auslassen, sondern zu dem mit „1968“ wichtigsten Wort meines Vortragstitels begeben: dem „Mitgefühl“.
Ende der 1960er-Jahre, vielleicht nicht ganz genau 1968, aber doch nah genug dran, entwickelte sich in der fortgeschrittenen Welt der liberalen Demokratien ein breites Narrativ ueber das Mitgefühl. Dieser Diskurs ist meines Erachtens absolut demokratisch, weil er einen Prozess in Gang setzt, der Demokratie letztlich ausmacht: die über das allgemeine und gleiche Wahlrecht weit hinausgehende gesellschaftliche Einbeziehung vormals Ausgegrenzter. Dieser Demokratisierungsprozess ist für mich eine umfassende Bewegung mit dem Ziel, bis dahin ausgegrenzten sozialen Gruppen Würde, Authentizitaet und Respekt einzuräumen, die sie unbedingt verdienen. Voraussetzung dafür ist es, alte Fehler einzuräumen und für Schandtaten wahre Busse zu begehen, die von einer Gemeinschaft gegenüber einer anderen begangen wurden. Den was ich in meinen Arbeiten den „Discourse of Compassion“ also den Diskurs der Reue nenne, hat mein Freund, der israelische Historiker und Columbia-Professor Elazar Barkan, in seinem brillanten Buch „The Guilt of Nations“ ausführlich behandelt.
Wir erinnern uns alle an Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die ermordeten Juden des Warschauer Ghettos im Dezember 1970. Weitere, nicht ganz so bekannte Beispiele, zunächst aus Grossbritannien: Die Entschädigung von 5.228 Kenianern, die von den britischen Machthabern während der Mau-Mau-Aufstands in den 1950er-Jahren brutal gefoltert und misshandelt worden waren. Oder der auf das Britische Museum ausgeübte Druck, die aus aller Welt zusammengetragenen Artefakte zurückzugeben. Deutsche Museen tun dies auch. Oder die Debatten an der Universitaet Oxford über die Cecil Rhodes-Statue. Ich könnte noch zig Beispiele aus Grossbritannien, aber auch äquivalente aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien u.a. liberal demokratischen Ländern aufzählen, wo es in den letzten 20 Jahren zu emphatischen Ausdrücken der kollektiven Reue für frühere Missetaten gegenüber anderen, in diesem Fall oft Bevölkerungen ehemaliger Kolonien, kam.
In den Vereinigten Staaten gab es 1993 die lang ueberfällige Entschuldigung von Präsident Bill Clinton für die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner in Lagern an der Westküste nach dem Überfall auf Pearl Harbor. Es folgte die von Präsident Barack Obama in Gesetzesform gegossene Entschuldigung von 2009 bei den amerikanischen Ureinwohnern. Der Ruf des Amerika-Entdeckers Christopher Columbus ist inzwischen ziemlich ramponiert, da seine Landung immer mehr als Beginn einer Tragödie denn als Aufbruch zu einem grossartigen neuen Staatswesen und einer neuen Gesellschaft gesehen wird. Namen für Sportmannschaften, die auf amerikanische Ureinwohner Bezug nehmen, sind nach und nach verschwunden – mit Ausnahme der in der National Football League aktiven „Washington Redskins“, eine ungemein erniedrigende Bezeichnung. Dass ein Team mit einem solchen Namen ausgerechnet in unserer Hauptstadt angesiedelt ist, ist beschämend und unentschuldbar. In den Südstaaten gibt es überall Initiativen, die sich dafür einsetzen, Denkmäler von politischen und militärischen Führern der Konföderation, die den ehemals versklavten Schwarzen und deren Nachkommen immenses Leid zugefügt haben, zu zerstören oder zumindest aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Und da ist nicht zuletzt die landesweit geführte appropriations-Diskussion (die kulturelle Aneignungsdiskussion), eine absolut entscheidende Debatte um die kulturelle Entmündigung bis heute marginalisierter Gruppen und Möglichkeiten und angemessene Formen der Wiedergutmachung. (Kurz erklärt: Man darf sich Gegenstände und kulturelle Gewohnheiten und Habitus ehedem unterdrückter Gruppen ohne deren vollem und explizitem Zugeständnis nicht aneignen. Es geht vor allem um den Respekt, den man unterdrückten Gruppen schuldet. Und deren Authentizität, die man hochhalten muss.
Solche Debatten werden auch in Australien und Neuseeland geführt, wobei ich hier auf gravierende Unterschiede zwischen diesen zwei ehemaligen britischen Kolonien aus zeitlichen Gründen nicht eingehen kann. In Kanada herrscht grosse Aufregung, dass Papst Franziskus, der ansonsten so bereitwillig um Vergebung bittet, sich bis heute nicht bei den Ureinwohnern des Landes entschuldigt hat, deren Kinder in katholischen Schulen jahrzehntelang brutal misshandelt wurden und nicht selten lebensgefährliche Verletzungen davontrugen. Eine katholische Schule in Ontario besaß einen selbst gebauten elektrischen Stuhl, um die ihr anvertrauten Kinder zu quälen.
Sieben Jahre vor dem Tod von Johannes Paul II. 2005 zählte der italienische Journalist Luigi Accatoli 94 päpstliche Bitten um Verzeihung. Das war sogar vor dem großen „Tag der Entschuldigung“, als die katholische Kirche für ihre Versündigungen gegen Juden, Häretiker, Sinti und Roma und Eingeborene um Vergebung bat. Benedikt XVI. setzte diese Politik fort, wobei er sich mehr der Verfehlungen einzelner Katholiken annahm, mit einer sehr bedeutenden Ausnahme: seine Entschuldigung bei den Opfern sexuellen Missbrauchs in Irland.
In diesen Zusammenhang stelle ich meine Arbeit über das Mitgefühl gegenüber Tieren. Unser Umgang mit Tieren hat sich seit den 1960er-Jahren auf beeindruckende Weise geändert. Die 68-er Henry Spira und Peter Singer haben unseren Diskurs über Tiere und unser fundamentales Verhalten ihnen gegenüber total verändert. Sogar das auf diesem Felde so regressive Frankreich hat zur Zeit mit den immer größer werdenden L214 Protesten endlich Anschluss gefunden. Ich möchte Sie nicht mit Statistiken über die steigende Zahl von Vegetariern und Veganern in den westlichen Ländern langweilen, oder über rückläufige Zahlen beim Einschläfern von Hunden und Katzen. Tierschutz bezieht sich nicht mehr nur auf Haustiere wie Katzen und Hunde oder jene Gattungen, die zwar für Menschen gefährlich sind, wie Tiger, Bären oder Wölfe, die wir aber dennoch alle mögen, sondern auch auf jene Arten, die nicht unbedingt unseren ästhetischen Beifall finden, wie Krokodile oder Haie. Tierrechte nehmen im amerikanischen Recht einen immer größeren Platz ein und sind aus dem juristischen Studium nicht mehr wegzudenken. Ein Experte erklärte mir: „Tierrechte sind heute da, wo Umweltrechte vor 20 Jahren standen: noch in den Anfängen, aber im Wachstum begriffen.“ Steven M. Wise hat mit seinem Nonhuman Rights Project für eine Neuauflage der Habeas-Corpus-Akte gesorgt, ein Grundelement des englischen und amerikanischen Rechts: Dabei ging es nicht um einen unrechtmäßig festgehaltenen Menschen, sondern um – einen Schimpansen, inzwischen deren zwei: Kiko und Tommy. „Human“ steht für ein biologisches Konzept, wie in Homo Sapiens. „Person“ verkörpert ein moralisches und rechtliches Konzept. Es gilt also Tiere zu „Persons“ zu machen und nicht weiter als „Dinge“ zu handhaben wie dies zur Zeit noch in der Rechtsprechung der Fall ist.
Das wachsende Mitgefühl für Tiere steht in einer faszinierenden, nicht unbedingt kausalen Wechselbeziehung zu einem anderen Vorgang: der Feminisierung von Medizin und Tiermedizin. Bis in die frühen 1970er-Jahre waren mehr als drei Viertel aller amerikanischen Tiermediziner Männer. Gegen Ende der Dekade holten die Frauen auf, die inzwischen ihrerseits einen Anteil von 80 Prozent erreichen.
Dass Frauen die Beschützer der Schwachen sind, ist nicht neu. Die Gründer der britischen Tierschutzvereinigung von 1824, die 1840 „königlich“ wurde, als Queen Victoria die Patenschaft übernahm, waren Frauen. Das gilt auch für ähnliche Organisationen in New York oder Massachusetts. Die ehedem genannten Frauen der ersten feministischen bewegung waren stets alle in dem Kampf für Tierrechte involviert.
Ich bin mir nicht sicher, ob die seit den 1970er-Jahren feststellbare wachsende aber noch immer viel zu geringen Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit liberaler Demokratien und unser gewachsenes ökologisches Bewußtsein auf das amorphe und mysteriöse, zugleich aber sehr wohl wahrnehmbare Phänomen „1968“ zurückgehen. Die Korrelation ist allerdings so auffällig, dass man sehr wohl einen ursächlichen Zusammenhang behaupten könnte – obwohl es mir stets zutiefst widerstrebt, diese Wirkungsmächtigkeit irgendeiner sozialen Bewegung beizumessen.
Frauen sind die zivilisierende Kraft dieser Welt, und wir Männer handeln häufig entgegengesetzt. Nehmen wir jenen Terroristen, der Ende April mitten in Toronto sein Auto als toöliche Waffe gegen Frauen einsetzte und zehn auch tötete. Leider war er erfolgreich in seinem Vorhaben als Verfechter der sogenannten INCEL Bewegung – involuntary celibacy – Frauen für sein vermeintlich unfreiwilliges Zölibat zu bestrafen. Und Männerwut auf Frauen und die vermeintliche Feminisierung der Öffentlichkeit ist jedem halbwegs mit dem Internet vertrauten Beobachter längst bekannt.
Auf hunderten oder tausenden Internetseiten treffen wir eine offenen Frauenfeindlichkeit an, die bäengstigend ist. Diese Frauenfeindlichkeit ist eine männliche Reaktion auf die wachsenden Strömungen der Emanzipation und des Mitgefühls seit 1968, bei der sich konventionelle Männer übergangen und eigentlich gefährdet fühlen.
„Die Zukunft ist weiblich.“ Dieser inzwischen weltbekannte Slogan stand ursprünglich auf einem T-Shirt, das für Labyris Books entworfen worden war, den ersten Frauenbuchladen in New York City, den 1972 die beiden Achtundsechzigerinnen Jane Lurie und Marizel Rios eröffneten.
Ob die Zukunft wirklich weiblich sein wird, weiss ich nicht. Aber vieles spricht dafür, dass die Politik des Mitgefühls irreversibel ist. Sicher wird es Rückschlaege geben, wie das bei allen positiven Veränderungen der Fall ist. Nachlassen oder womöglich ganz verschwinden wird sie allerdings nicht. Was diese Politik auszeichnet ist die Tatsache, dass ihre Verfechter und Nutzniesser niemals zuvor die Macht hatten, sich Gehör zu verschaffen, oder – im Fall der Tiere – eben über keine Stimme im konventionellen Sinn verfügen. Sie waren stets auf externe Wohltäter mit Mitgefühl und Möglichkeiten angewiesen, die sich ihrer annahmen, sie zu ihrer Angelegenheit machten, was ihnen nichts einbrachte ausser der zufriedenstellenden Gewissheit, Notleidenden geholfen zu haben. Weder auf monetäre Belohnung noch auf sozialen Aufstieg durfte man hoffen. Der Einsatz für hilsbedürftige Lebewesen, die keine Stimme und null Macht haben, wirft keinen Gewinn ab.
Wenn „1968“ zumindest ein kleines bisschen zu dieser selbstlosen Generosität und zu Ausbreitung und Vertiefung von Mitgefühl beigetragen hat, sollten wir es, denke ich, als Erfolg betrachten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.
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