Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus in der DDR

Zur notwendigen Selbstkritik des Antifaschismus

Vortrag und Diskussion mit Harry Waibel

Donnerstag, 18. Februar 2016, 19.30 Uhr, Stuttgart
Laboratorium, Wagenburgstraße 147, 70186 Stuttgart

Der Vortrag ist mittlerweile HIER zu hören und wurde am 27. Februar 2016 im Freien Radio für Stuttgart gesendet

Einst waren sie Staatsgeheimnis, bis heute werden sie verleugnet und verdrängt: Mittlerweile sind über 8000 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten in der DDR belegt. Seit 1990 gab es über 250 Tote und tausende Verletzte durch rechte Gewalttaten und die Täter kommen, gemessen an der Einwohnerzahl, im Verhältnis 3:1 aus dem Osten. Die antifaschistischen Kräfte vermochten bisher nicht, auf diese Entwicklung nennenswerten Einfluss zu nehmen. Höchste Zeit für Selbstkritik antifaschistischer Theorie und Praxis.

Bis zum Untergang der DDR wurden Antisemitismus, Neonazismus und Rassismus offiziell als ein Staatsgeheimnis behandelt, und das kommt hinzu, über das Ende der DDR hinaus bis in die Gegenwart verleugnet und verdrängt. Erst seit dem sich seit einem Jahr in Dresden und mittlerweile auch in einigen anderen Städten im Osten, eine rechte Massenbewegung gegen Muslime auf Straßen und Plätzen öffentlich zeigt, wird danach gefragt, woher diese Bewegung kommt. Seit über 20 Jahren forsche ich als Historiker zum Verlauf, zu den Ursachen und den Folgen des Antisemitismus und Neonazismus in der DDR und die Ergebnisse stammen zum größten Teil aus über 2.000 unveröff – entlichten und streng geheim gehaltenen Materialien, die in den Archiven des MfS und im Bundesarchiv-SAPMO (SED und FDJ) aufbewahrt werden. Danach sind insgesamt über 8.600 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten belegt. Etwa 7.000 neonazistische Angriffe bilden numerisch das Hauptgewicht in diesem Spektrum des Grauens, während der Anteil der rassistischen Angriffe bei etwa 725 Vorfällen liegt. Hierbei sind die Angriffe auf afrikanische, muslimische und kubanische Arbeiter von Bedeutung, sie stellen das Gros der Opfer dar. Der Anteil antisemitischer Angriffe liegt bei etwa 900 und davon sind etwa 145 Schändungen jü-discher Friedhöfe und Gräber zu konstatieren. Mindestens 10 Personen sind bei diesen politisch motivierten Ereignissen getötet worden und die Zahl der Verletzten geht in die Tausende. Diese Straftaten haben in etwa 400 Städten und Gemeinden stattgefunden.
Ab den 1960er Jahren haben in über 110 Städten und Gemeinden etwa 200 Pogrome bzw. pogromartige Angriffe von Neonazis stattgefunden. Ab den 1970er Jahren gab es über 30 rassistische Angriffe auf Wohnheime von ausländischen Arbeitern, wobei der Anfang ein Wohnheim in Erfurt 1975 war und diese Reihe endete in der DDR im August 1990 als in Trebbin (Bezirk Potsdam) ein Wohnheim für Mosambikaner von etwa 30 Neonazis angegriffen wurde. Insgesamt sind etwa 100 lose bzw. geschlossene antisemitische bzw. neonazistische Gruppen für die DDR belegt, die sämtliche von den Sicherheitsbehörden zersetzt und aufgelöst worden sind.
Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten haben nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) mehrere hunderttausend rechte Propaganda- und Gewaltstraftaten stattgefunden und nach meinen Recherchen gab es in diesem Zeitraum über 250 Tote und tausende Verletzte und der Anteil der Täter stammt überproportional (3:1), d. h. gemessen an der Zahl der Einwohner, aus den neuen Ländern im Osten. Diese Struktur lässt sich ebenfalls in Berlin feststellen, wenn man die Berliner Bezirke im Osten und im Westen vergleicht. Fälschlicherweise wurde behauptet, diese Entwicklung wäre ausschließlich den ökonomischen, sozialen und po-litischen Verwerfungen seit dem Vereinigungsprozess geschuldet. Doch jetzt ist klar, in beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik und auch in der DDR, hat es Neonazismus, Rassismus und Antisemitismus gegeben und sie bilden die historischen Vor-aussetzungen, ohne die es nicht zu den brandgefährlichen gesellschaftspolitischen Verhältnissen der Gegenwart hätte kommen können.
Auf der Grundlage dieser historischen Tatsachen ergibt sich für die Theorie und auch für die Praxis des Antifaschismus die Notwendigkeit einer fundamentalen Selbstkritik, waren doch diese Kräfte bisher nicht in der Lage, auf den Prozess der Rechtsentwicklung in Deutschland nennenswert Einfluß zu nehmen.

Harry Waibel ist Historiker und Diplom-Pädagoge, er schreibt auf harrywaibel.de Veröffentlichungen u.a.: Diener vieler Herren. Ehemalige NS-Funktionäre in der SBZ/DDR, 2011 und Der gescheiterte Anti-Faschismus der SED. Rassismus in der DDR, 2014

Veranstalter: Contain’t & Emanzipation und Frieden in Kooperation mit dem LAK Shalom Baden-Württemberg.