CSD in Freiburg: Antifa als Publikumsmagnet?

Trotz eines Boykotts durch drei Schwulen- und Lesbenverbände wurde der CSD am vergangenen Wochenende zum größten, den es je in Freiburg gab

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 639 am 28. Juni 2023)

Das vermummte Schwarzwaldmädel war zu viel: Nachdem sich der Freiburger CSD zur Antifa bekannte, boykottierten ihn drei Schwulen- und Lesbenverbände. Dennoch wurde der CSD am vergangenen Samstag der größte, den Freiburg je erlebt hat.

Screenshot @csdfreiburg

Die Reaktion kam spät, war aber heftig: Knapp zwei Monate nachdem das Logo für den diesjährigen Christopher-Street-Day (CSD) in Freiburg publik geworden war, zeigten sich der Lesben- und Schwulenverband Baden-Württemberg (LSVD BW) und die Interessengemeinschaft CSD Stuttgart „entsetzt“. Am 21. Juni begründeten beide Organisationen in einer gemeinsamen Pressemitteilung ihren Boykott der Demonstration. Denn beworben wurde die Veranstaltung unter anderem mit einem Schwarzwaldmädel, das neben einem regenbogenbunten Bollenhut auch eine Sturmmaske trägt. Daneben zu sehen: ein leicht abgewandeltes Logo der Antifaschistischen Aktion. „Wir können als familienorientierter Verband an keiner Veranstaltung teilnehmen, die offen für Linksradikalismus wirbt oder im direkten Zusammenhang mit gewaltbereiten Gruppierungen steht“, erklärte Kersin Rudat aus dem Vorstand des LSVD BW. Beide Zusammenschlüsse kritisierten, „dass solch eine Provokation auch krasse Gegenreaktionen erzeugen und rechtsextreme Gruppierungen erst recht locken könnte“. Und Detlef Raasch vom CSD Stuttgart betonte: „Wir lehnen jede Art von Radikalismus strikt ab.“ Bemerkenswert sind diese Aussagen vor dem Hintergrund der Historie des Christopher-Street-Days.

Immerhin geht der Name auf einen militanten Aufstand gegen das demokratisch legitimierte Gewaltmonopol in den USA zurück. In einer Zeit, in der in New York tatsächlich ein Gesetz galt, das Personen vorschrieb, mindestens drei Kleidungsstücke tragen zu müssen, die zu dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht passen, waren Schikane und Willkür durch die Polizei gegenüber Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten alltäglich. Bei einer Razzia am 28. Juni 1969 in der Szene-Bar Stonewall Inn setzte sich eine Gruppe Schwuler dann zur Wehr, es kam zur Straßenschlacht. Der genaue Ablauf ist umstritten. Die „New York Times“ bemühte sich, zu rekonstruieren, wer den ersten Stein geworfen hat – und kam zum Fazit, dass nicht einmal klar ist, ob überhaupt Steine geflogen sind. Als einigermaßen gesichert gilt, dass die Polizei Besucher:innen mit Schlagstöcken misshandelte und der Ordnungsmacht Gegenstände entgegengeschleudert wurden, vielleicht Flaschen, vielleicht Schuhe, vielleicht anderes.

Es war der Auftakt zu einer Serie von Konflikten, die alles andere als friedlich abliefen – aber heute als Wendepunkt in der US-amerikanischen Diskriminierungsgeschichte von Homosexuellen gelten. Angesichts der erheblich verbesserten Lebensbedingungen für große Teile der Gesellschaft, die durch den Stonewall-Aufstand angestoßen wurden, scheint die Gewaltbereitschaft militanter Radikaler allenfalls noch von homophoben Randgruppen skandalisiert zu werden. 2016 weihte der damalige Präsident Barack Obama das Stonewall National Monument ein, das erste Denkmal in den USA für die Rechte von Schwulen und Lesben.

Die Gefahr eines Backlashs bleibt

Nun ist Freiburg nicht New York und 1969 auch nicht 2023. Mit dem Slogan „Stonewall was a riot“ seien es heute „meist junge aktivistische und linksradikale Queers“, die versuchen, „an das Aufständische und nicht Integrierbare anzuknüpfen, oft auch gegen die als bräsig, arriviert und vollständig entradikalisiert empfundenen ‚Homo‘-Institutionen“, schreibt der Politikwissenschaftler Tadzio Müller 50 Jahre nach dem Aufstand in der Christopher Street in einem Beitrag für die „Jungle World“. Dass diese Debatte überhaupt geführt wird, sei laut Müller allerdings „auch ein Resultat der bürgerrechtlichen Erfolge, die seit Stonewall weltweit errungen wurden“. So gehe die Gewalt gegen Queers hierzulande wie in anderen westlichen Demokratien „immer weniger direkt von staatlichen Institutionen aus“. In Berlin sammle die Polizei mittlerweile bewusst Hinweise auf queerfeindliche Gewalttaten, und auch die Ehe für alle sei „nicht ganz irrelevant für das Verhältnis zwischen Staat und Queers“.

Als viel größere Bedrohung für vielfältige Lebensentwürfe stuft der Politikwissenschaftler die „neue Welle der Gewalt“ ein, die zur militanten Politik derjenigen gehöre, „die sich in irgendeiner Form um ihre Privilegien gebracht fühlen“. Statistisch handle es sich „meist um Männer, die denken, Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe, Herkunft oder Religion könnten ihnen ihre Arbeit und soziale Stellung wegnehmen, beziehungsweise #MeToo könnte sie im Ausleben ihrer Sexualität einschränken oder die Klimaschutzbewegung ihnen das Fahren ihrer Lieblingsautos verbieten“. Die globale rechte Offensive sei dabei vereint durch den „autoritären Wunsch nach der Verteidigung oder Wiederherstellung klarer sozialer Hierarchien: zwischen männlich und weiblich, zwischen hell- und dunkelhäutig, zwischen reich und arm“.

Dass die Gefahr eines Backlashs auch in Europa besteht, zeigt sich unter anderem an der Gesetzgebung in Ungarn: Seit April dieses Jahres ist es dort möglich, gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern anonym an die Behörden zu melden, „zum Schutz der ungarischen Lebensweise“, wie es Ministerpräsident Viktor Orbáns Kabinettschef Gergely Gulyás formuliert. Aus Schikane und Diskriminierung kann Staatsterror werden: Im Nationalsozialismus gipfelte die Homosexuellenverfolgung in der gezielten Vernichtung, Tausende wurden ermordet.

CSD Stuttgart boykottiert jetzt solidarisch

Insofern erscheint es fragwürdig, wenn Schwulen- und Lesbenverbände in Zeiten eines erstarkenden Autoritarismus die ziemlich vielfältige antifaschistische Bewegung auf Gewaltbereitschaft und Radikalismus reduzieren. Genau das wollen der LSVD BW und der CSD Stuttgart, ihrer ursprünglichen Formulierungen ungeachtet, aber auch gar nicht getan haben. Die gemeinsame Pressemitteilung vom 21. Juni ist nach heftiger interner und externer Kritik überarbeitet worden. Inzwischen sind beide nicht mehr „entsetzt“, sondern finden die Wahl des Logos „bedenklich“. Statt einem „direkten Zusammenhang mit gewaltbereiten Gruppierungen“ ist nun die Rede davon, dass man an keiner Veranstaltung teilnehmen könne, die „durch ihr Motiv einen Zusammenhang mit Linksradikalismus oder gewaltbereiten Gruppierungen herstellt“. Der CSD Stuttgart – der vor der Bundestagswahl 2021 AfD-Kandidaten zu Podiumsdiskussionen eingeladen hat – nimmt weiterhin nicht in Freiburg teil, aber tut das nun solidarisch. Detlef Raasch aus dem Vorstand erklärt: „Wir begrüßen ausdrücklich, dass der CSD in Freiburg uns alle daran erinnert, dass Faschismus immer noch alltäglich ist – auch wenn wir als Stuttgart PRIDE eine andere Form der Außenkommunikation gewählt haben. Trotz unserer Absage zur Teilnahme in diesem Jahr stehen wir als Organisation für und von Menschen aus der LGBTQIA*-Community natürlich solidarisch an der Seite des CSD Freiburg und allen anderen, die sich für unsere Rechte einsetzen. Denn: Wir kämpfen alle für das gleiche Ziel, nur auf unterschiedlichen Wegen.“

Doch manche Ziele sind gleicher. Während Diskriminierungsfreiheit als gemeinsamer Nenner von den allermeisten unterschrieben werden dürfte, gab es innerhalb der Community seit jeher Auseinandersetzungen. Angefangen als gemeinsamer Protest verschiedener marginalisierter Gruppen in den USA spaltete sich von der Gay Liberation Front, die sich unmittelbar nach dem Stonewall-Aufstand in der Christopher Street formiert hatte, nur wenige Monate später die Gay Activists Alliance ab: ein Zusammenschluss, der sich als politisch neutral verstand, im bestehenden System arbeiten wollte und in dem zum Beispiel Transpersonen nicht willkommen waren. Auf diesem Weg versprachen sich die Beteiligten bessere Chancen für ein Antidiskriminierungsgesetz.

Banal gesagt: Gerade weil die Sexualität einer Person keine Rückschlüsse auf ihr politisches Denken zulässt, ist es ziemlicher Unsinn, von grundsätzlich gemeinsamen Zielen zu reden. „Einem großen Teil der Homosexuellenbewegung geht es seit jeher weniger um die Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit und die daran gebundenen Begehrensstrukturen als um Sichtbarkeit, Anerkennung und Integration“, schrieb der Autor Julian Volz 2021 in der Zeitschrift „Konkret“. Zu dieser Zeit protestierte Markus Söder mit Regenbogenmaske gegen die UEFA, und die europäische Grenzschutzagentur Frontex färbte sich anlässlich des Pride Month Juni das Logo bunt, um „die Kernwerte der EU – Gleichheit und Nichtdiskriminierung“ zu fördern. Kernwerte, die aktuell mit kindgerechten Haftbedingungen und einer beim Ertrinken behilflichen Küstenwache gegen Ausländer:innen verteidigt werden.

Rekordzahlen trotz Boykott-Erklärungen

„Anlässlich der vielen Unzulänglichkeiten der bestehenden Verhältnisse“, schreibt Politikwissenschaftler Tadzio Müller, sei es keine überzeugende Strategie, sich nur um die Verteidigung sozialer Errungenschaften zu bemühen. Er ruft dazu auf, den Einsatz um die Anliegen von Queers mit denen anderer Auseinandersetzungen zusammenzuführen: „Den Kampf gegen die Rechten mit dem für den Feminismus, für die Klimagerechtigkeit und für offene Grenzen.“

Da erscheint es ungewollt komisch, dass der Freiburger FDP-Stadtrat Sascha Fiek mit Blick auf die Demonstration am Wochenende und die Antifa-Kontroverse kritisierte, das „bunte Fest der Vielfalt“ werde „politisch gekapert“. Seine Partei blieb der durchaus politisch gemeinten Veranstaltung ebenso fern wie der Landesverband der Lesben und Schwulen in der Union (LSU), für den „die queere Community und ihre Themen in die Mitte der Gesellschaft“ gehören (während die CDU-Landtagsfraktion aktuell gegen geschlechtergerechte Sprache zu Feld zieht). Wer sich mit Linksextremisten gemein mache, rücke „die Anliegen von Homo-, Bi- und Transsexuellen ins Abseits“, schrieb der LSU – und hielt es offenbar für eine gute Idee, für die Bebilderung ein Wahlplakat von 1976 aus der Mottenkiste zu kramen. Darauf zu sehen ist eine Blondine mit Boxhandschuhen, die fordert: „Komm‘ aus deiner linken Ecke!“ Es stammt aus einer Zeit, in der der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß Sätze sagte wie: „Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder.“

Trotz diverser Boykott-Erklärungen wurde der CSD in Freiburg am Wochenende regelrecht überrannt. Die Veranstalter:innen zählten anfangs 17.000 teilnehmende Personen, zum Höhepunkt sogar 23.000, und nach Angaben der Polizei kamen noch einmal 30.000 bis 40.000 Zuschauer:innen hinzu. Damit sei die Veranstaltung nach Behördenangaben „auf jeden Fall wieder auf Vor-Corona-Niveau“, und wahrscheinlich sei der diesjährige CSD der größte, den es in Freiburg bislang gegeben habe. Trotz oder wegen der Kontroverse im Vorfeld. Das Orgateam hatte die Logowahl bis zuletzt gegen alle Kritik verteidigt und betonte dabei klipp und klar: „Antifaschismus gehört für uns als Queers zu unserer grundsoliden Überzeugung.“