Förderprogramm „Junges Wohnen“: Azubis bleiben auf der Strecke

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 681 am 17. April 2024)

Der Bund hat Baden-Württemberg gut 30 Millionen Euro überwiesen, um Wohnraum für Azubis zu schaffen. Aber das Geld ist nicht dort angekommen, wo es hin sollte. Warum, erklärt die zuständige Ministerin Nicole Razavi (CDU) mit einem Grinsen.

Die „Preise von Wohnimmobilien fallen in Rekordtempo“, berichtete die „Tagesschau“ vergangenen Dezember. Ein Experte führt aus, dass eine Spekulationsblase geplatzt sei und nun der stärkste Preisrückgang seit über 20 Jahren zu beobachten sei. Wer zur Miete wohnt, profitiert von dieser Entwicklung allerdings nicht – im Gegenteil: In Großstädten haben die Mietpreise zum Jahresanfang ein neues Rekordniveau erreicht.

Insbesondere junge Menschen sind betroffen. Vom Eigenheim träumen viele gar nicht erst, nicht einmal eine Mietwohnung ist für sie finanzierbar. Selbst mit einem WG-Zimmer wird es immer kniffliger: So lagen die bundesweiten Durchschnittskosten für eine gemeinsam bewohnte Wohnung noch 2018 bei 372 Euro pro Person. Neue Zahlen für das Jahr 2023 kommen hingegen schon auf 479 Euro, wobei die Situation in begehrten Städten noch weitaus dramatischer ist. Unter den Top 10 der teuersten Wohnorte auf „WG gesucht“ ist Baden-Württemberg mit Stuttgart, Konstanz und Freiburg gleich drei Mal vertreten – dicht gefolgt von Tübingen, Heidelberg, Ludwigsburg, Mannheim, Erlangen, Reutlingen, Heilbronn und Karlsruhe.

Für Auszubildende ist die Situation besonders hart, erklärt Leonie Knoll, Jugendsekretärin beim DGB Baden-Württemberg. Denn die gesetzliche Mindestvergütung liege aktuell bei nur 649 Euro brutto, „selbst wer zusätzlich Ausbildungsbeihilfe bekommt, kann sich damit kaum eigenen Wohnraum leisten“. Zusammen mit der SPD hat die DGB Jugend daher vergangenen Mittwoch eine Protestaktion vor dem Stuttgarter Landtag gestartet. Explizit um die Wohnsituation für Auszubildende zu verbessern, hatte der Bund dem Land Baden-Württemberg im vergangenen Jahr gut 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Nach einem ministeriellen Kunstgriff ist das Geld aber offenbar nicht dort angekommen, wo es eigentlich hin sollte. Laut Maren Diebel-Ebers, die als stellvertretende Vorsitzende des DGB Baden-Württemberg ebenfalls auf der Protestkundgebung redete, „grenzt dieses Vorgehen an einen Skandal“.

Zwar betonte die baden-württembergische Wohnministerin Nicole Razavi (CDU) vergangenen Juni im Interview mit Kontext, es sei für das Bundesland „eine veritable Standort- und Zukunftsfrage, dass Arbeitskräfte hier bezahlbaren Wohnraum finden“ und auch den Fachkräftemangel hat sie als Problem erkannt. Beim Gegensteuern hapert es allerdings.

Razavi ist stolz auf das eigene Tempo

Razavi ist die Erste ihrer Art: Wegen der großen Herausforderungen am Immobilienmarkt wurde nach der Landtagswahl 2021 erstmals ein eigenes Ministerium gegründet, das sich schwerpunktmäßig um Baupolitik kümmern soll. Und nach Einschätzung der Chefin ist es eine große Erfolgsgeschichte, die seitdem geschrieben wird. Ihr Ministerium mache „einfach, und ich behaupte mal selbstbewusst: ziemlich gut seine Arbeit“, erklärte Razavi vergangene Woche.

In Zahlen stellt sich diese Geschwindigkeit wie folgt dar: Seit Razavis Amtsantritt 2021 ist der Wohnungsneubau deutlich zurückgegangen, im ersten Jahr unter ihrer Ägide nur um 0,7 Prozent, im zweiten schon um 4,2 Prozent. Seither hat die Ministerin wiederholt das Bild von einem „Motor im Wohnungsbau“ bemüht, der wahlweise droht auszugehen, stottert oder zum Stillstand gekommen ist. Was ihr dazu einfällt? Nicht viel mehr als Binsen. So belehrt sie den Abgeordneten Schweickert: „Manche Dinge – weltweite Einflüsse – haben wir gar nicht in der Hand. Aber bei den Dingen, die wir in der Hand haben, ist wichtig, dass jede Ebene, jede politische Ebene, aber auch die Wirtschaft, die Bauwirtschaft, die Verbände, dass jeder seinen eigenen Teil dazu beiträgt, dass die Situation sich verbessert.“

In den vergangenen Jahren hat sich die Situation allerdings kontinuierlich verschlechtert. Ein Ding, das die Landesregierung in der Hand hat, ist die finanzielle Förderung des sozialen Wohnungsbaus, worunter in Baden-Württemberg auch die Beihilfe zum Eigenheim fällt. Um vergünstigten Wohnungsbau zu fördern, hat Baden-Württemberg die Mittel im vergangenen Jahr von 427 Millionen Euro auf 463 Millionen aufgestockt, die seit März 2023 beantragt werden konnten – und kurz darauf, im Mai, vergriffen waren. Wegen der hohen Nachfrage wurde das Förderprogramm, das laut Razavi erst im Vorjahr „passgenau weiterentwickelt“ worden sei, daher um zusätzliche 135 Millionen Euro aufgestockt, die auch nicht lange hielten. 

Auf Steuerung hat die Politik dabei weitgehend verzichtet: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, lautete das Prinzip. Eine konkrete Bedarfsanalyse, wo welcher Wohnraum besonders dringlich gebraucht wird, hat bei der Geldvergabe keine Rolle gespielt. Nach Informationen von Kontext wurden zum Beispiel Einfamilienhäuser mit sechsstelligen Beträgen gefördert, wovon laut Razavi „geringe bis mittlere Einkommen“ profitiert hätten. Sie warnt davor, in diesem Fall eine populistische Neiddebatte zu eröffnen.

Alle Gelder kommen aus einem großen gemeinsamen Fördertopf für den „sozialen Wohnungsbau“, in den gut 60 Millionen Euro eingeflossen sind, die der Bund eigentlich bereitgestellt hat, um je zur Hälfte Studierende und Auszubildende zu unterstützen. Angekündigt wurde das Programm „Junges Wohnen“ bereits im Dezember 2022, seitdem hatten die Bundesländer Zeit, mit Förderrichtlinien die Rahmenbedingungen festzulegen, unter denen die entsprechenden Mittel beantragt werden können. 15 von 16 Bundesländern haben das auch hinbekommen, nur Baden-Württemberg nicht. Hier steht das Ministerium noch ganz am Anfang, denn erst Ende Januar 2024 wurde ein „Interessenbekundungsverfahren“ auf den Weg gebracht: Über einen Aufruf soll erst einmal herausgefunden werden, wie denn der Bedarf bei Azubi-Wohnungen aussieht. Dabei geht es zunächst nur um den Neubau. Nach Angaben des Ministeriums sei aber ein zweiter Aufruf, der sich mit der Modernisierung bestehender Azubi-Wohnungen befasst, bereits in der internen Abstimmung.

Ministerium weiß nicht, wie viel Geld bei Azubis ankam

Bis Baden-Württemberg aufholt und ebenfalls eine Förderrichtlinie erlässt, dürften also noch einige Monate vergehen. Um das viele Geld aus dem vergangenen Jahr auch ohne Richtlinie nicht zurückzahlen zu müssen, ist das Ministerium indessen kreativ geworden – und hat die Mittel kurzerhand umgewidmet: Sie sind zum Teil der allgemeinen Wohnraumförderung geworden, mit der auch Sozialprojekte wie das Eigenheim gefördert werden.

Derweil rühmt sich Ministerin Razavi erneut wegen ihrer vermeintlichen Geschwindigkeit. „Wir waren als Land schneller als der Bund“, meint sie, während sie mit blasiertem Grinsen ihr Kinn herausstreckt, und führt aus, dass in Baden-Württemberg schon seit 2021 Möglichkeiten für Arbeitgeber existieren, für Mitarbeitendenwohnungen Fördergelder zu beantragen, was ja dann auch Azubis zugutekommen könne. Die Fördergelder sind in Razavis Welt also „genau da angekommen, wo sie hingehören, und das liegt einfach daran, dass wir als Land Baden-Württemberg anders als der Bund einen Ticken schneller waren und schon genau für diese Zielgruppe die Unterstützungsmöglichkeit haben“. Deswegen sei es „einfach grottenfalsch“, von einer Zweckentfremdung zu sprechen.

Diese Worte richten sich an den SPD-Abgeordneten Jonas Hoffmann, in der Landtagsfraktion zuständig fürs Wohnen. Hoffmann hatte die Ministerin wegen der Umwidmung scharf kritisiert und bleibt auch nach Razavis Ausführungen im Fachausschuss skeptisch. Er will wissen, mit wie viel Geld genau Azubi-Wohnungen im vergangenen Jahr gefördert worden sind und wie viele Wohneinheiten dadurch entstanden sind.

Markus Müller führt dazu im Namen des Ministeriums aus: „Diese Angaben liegen uns nicht vor.“ Das liege nicht zuletzt auch daran, dass die Fördermöglichkeiten für Mitarbeitenden-Wohnungen „ja noch relativ frisch sind. Und ich deswegen auch vermute, zu dem jetzigen Zeitpunkt, dass da noch nichts fertiggestellt sein wird. Also dass da jemand wohnt … unwahrscheinlich“. Er wolle zudem „noch einmal darauf hinweisen: Es ist eine Angebotsförderung. Das heißt: Wenn es keine Anträge dafür gibt, dann gibt es dafür natürlich auch keine Bewilligung. Das ist das eine. Und das andere ist: Es sind Mitarbeitenden-Wohnungen. Das heißt, der Arbeitgeber, die Arbeitgeberin kann Auszubildenden diese Wohnungen zur Verfügung stellen, aber selbstverständlich auch normalen Mitarbeitenden. Deswegen ist es für uns auch nicht verwunderlich, dass uns diese Angabe, wie viele Azubis sind da untergebracht, dass wir dazu keine Auskunft haben.“ Der Abgeordnete Hoffmann hakt nach: „Aber das ist dann doch was ganz anderes als das Programm ‚Junges Wohnen‘?“ – „In der Tat“, sekundiert Müller. Ihre Förderung erfülle aber „funktional einen sehr ähnlichen Aspekt“.

Rechtlich ist der ministerielle Kunstgriff, aus Fördermitteln für Auszubildende welche für die Allgemeinheit zu machen, anscheinend nicht zu beanstanden. Unverschämt finden es Betroffene trotzdem. Zwei Dutzend junge Menschen, die sich bei der DGB Jugend und den Jusos engagieren, haben die Sitzung im Fachausschuss auf Einladung der SPD mitverfolgt und sind einigermaßen irritiert über Razavis Auftritt. Eine, die dabei war, nennt sie jetzt nur noch „die Ministerin“, weil sie deren Namen nach der gleichermaßen „selbstgefällig wie dreisten Darbietung“ nicht mehr in den Mund nehmen will.

Bis in die späten Abendstunden diskutieren die Jugendlichen im Stuttgarter Gewerkschaftshaus weiter. Mit dabei ist der Abgeordnete Hoffmann, der Detailfragen beantwortet und die Komplikationen bei der Wohnraumförderung aufdröselt. Etwa lernen die Anwesenden, dass ein großer Teil der Gelder, mit denen Baden-Württemberg Wohnbau fördert, gar nicht als Zuschuss zu verstehen ist, sondern dass es sich um zinsverbilligte Kredite handelt, die in den Landeshaushalt zurückfließen sollen. Die Atmosphäre ist entspannt, ein paar Beteiligte haben auf Sitzsäcken Platz genommen, es gibt Snacks und Pizza. Und doch entsteht dabei der Eindruck, dass hier um Welten kultivierter diskutiert wird als im Fachausschuss unter dem Vorsitz der Ministerin.