Polizeigewalt: Der Schlächter von Hamburg

von Minh Schredle

(zuerst erschienen in Kontext: Wochenzeitung Ausgabe 680 am 10. April 2024)

Er freut sich darauf, im Einsatz linke Zecken zu verprügeln und gilt polizeiintern als Menschenfeind: Kontext liegen Chatprotokolle vor, in denen der Beamte Rainer Jäger (Name geändert) mit Gewalttaten prahlt. Konsequenzen hatte das bislang nicht, aber das könnte sich bald ändern.

Am 28. Juli 2017 bekommt Polizeiobermeister Rainer Jäger, der in Wahrheit anders heißt, eine Nachricht: Wie war es denn in Hamburg?, will jemand wissen. Jäger, damals 28 Jahre alt, war von Baden-Württemberg aus im Einsatz, um den G20-Gipfel 2017 abzusichern. Doch nach Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstrant:innen schreibt er: „Schlimm. Diese ganze Gewalt und Zerstörung.“ Kurz darauf folgt die Aufklärung: „Das war ein Scherz. Es war Mega gut.“ Er habe „ordentlich ausgeteilt“ und „hoffe nur das ich keine Post aus hh bekomme“. Die Post kam – doch Jäger hat sich zu Unrecht Sorgen gemacht.

Im Hochsommer 2017 brannten Barrikaden im Hamburger Schanzenviertel, der Protest rund um den G20-Gipfel eskalierte. Doch am 8. Juli, dem Tag nach den schweren Krawallen, entspannt sich die Stimmung in der Stadt wieder leicht. Seit 18 Uhr ist das Demonstrationsverbot, das zwischenzeitlich für die Hamburger Innenstadt galt, aufgehoben. Etwa 20 junge Menschen starten am Pferdemarkt in St. Pauli die friedliche Aktion „Lieber tanz ich als G20“, mit der sie – so geben es Beteiligte später zu Protokoll – für gute Laune sorgen wollten. Ein Video, das die Polizei selbst angefertigt hat, zeigt dann allerdings, wie mehrere Beamte losrennen, nicht nur die Musikanlage in ihre Einzelteile zerlegen, sondern ohne Vorwarnung auf die jungen Leute einschlagen.

Betroffen ist auch Lola D., damals 26 Jahre alt, hauptberuflich Erzieherin und nebenher als Flamenco-Tänzerin aktiv. Ein Schlagstock bricht ihr das Wadenbein; bis sie wieder tanzen kann, vergehen fast 1,5 Jahre. Dass die Gewaltanwendung gegen sie rechtswidrig war, ist längst vor Gericht geklärt. So erhielt sie nach einer Klage knapp 5.000 Euro Schadensersatz. Allerdings bleibt das abstrakt: Schuldig gesprochen ist hier die Polizei als Institution. Der konkrete Täter musste sich jedoch nie auf einer Anklagebank verantworten.

Dabei konnte der Kreis der Verdächtigen stark eingegrenzt werden. Von den circa 29.000 Polizist:innen, die während des Hamburger G20-Gipfels im Einsatz waren, kommen nach internen Ermittlungen nur noch drei in Frage. Auf den Videoaufnahmen tragen die Beamten zwar Uniform und Helm, somit sind kaum körperliche Merkmale zu sehen. Allerdings ist beim Täter eindeutig die Kennzeichnung „BFE 1160“ zu erkennen. Damit ist klar, dass jemand von der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) des Polizeipräsidiums Einsatz aus Baden-Württemberg, Direktion Bruchsal, zugeschlagen haben muss.

Die Razzia erfolgte erst nach sechs Jahren

So blieben schnell nur noch drei potenzielle Täter übrig. Der weitere Ermittlungseifer hielt sich dann aber in Grenzen. Weil es die zuständige Staatsanwaltschaft in Hamburg für aussichtslos hielt, den Täter eindeutig zu ermitteln, wurde das Verfahren mehrfach eingestellt – und nach Beschwerde durch den Anwalt der Geschädigten, Dieter Magsam, wieder eröffnet. Zudem lehnte das Amtsgericht Hamburg Hausdurchsuchungen bei den Verdächtigen zunächst „aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“ ab. Das Hamburger Landgericht korrigierte diese Einschätzung zwar später. Allerdings wurden die Razzien erst im Februar 2023 vollstreckt, also knapp sechs Jahre nach der Tat.

Und doch konnten dabei relevante Informationen zutage gefördert werden. So schreibt die Hamburger Polizei in einem Ermittlungsvermerk, dass verschiedene technische Geräte beschlagnahmt und forensisch ausgewertet worden seien. Insbesondere in Chatprotokollen gebe es Daten, „die den Verdacht erhärten, dass es sich bei dem Beschuldigten [Jäger] um den Täter handelt. Zusätzlich wurden als Zufallsfunde diverse Gesprächsinhalte festgestellt, die auf eine hohe Gewaltbereitschaft und menschenverachtendes Verhalten des Beschuldigten [Jäger] schließen lassen“.

Etwa wäre da ein Bild, das Jäger am 9. Juli 2017, also einen Tag nach dem Vorfall am Pferdemarkt, verschickt hat: Es zeigt die Hamburger Hafenkulisse, ein Schriftzug definiert den Zweck von BFE-Einheiten mit „Jagen und keine Gnade“. Einige Monate später eröffnet ein Chatpartner von Jäger die Unterhaltung wenig diskret mit: „So jetzt mal zu dir Du Hamburger Schlächter.“ Der Verdächtigte ist sich sicher: „Mich kriegen sie nicht!“ Zwar habe „die Tussi“ offenbar Anzeige gestellt. Dass nun Kolleg:innen aus der Hansestadt anreisen, um beim Bruchsaler Präsidium zu ermitteln, sieht Jäger dennoch gelassen: Er hält das für „mega unnötig“, denn auf dem Video „siehst null Komma null“. Als Jäger schreibt, dass „scheinbar ne Frau“ die Vernehmung durchführen soll, rät sein Chatpartner: „Kannst ja bissle schmeicheln“.

Mama fragt, ob er unbefriedigt ist

Die Nachrichtenverläufe offenbaren auch abseits der Vorfälle um den G20-Gipfel eine krude Gedankenwelt, in der Gewalt eine Genussquelle darstellt. Als ihn ein Freund fragt, ob er aus privatem Interesse im Stadion von Hertha BSC Berlin gelandet ist, entgegnet der Prügelpolizist: „Nein ich bin zum schlagen hier“. Einmal schreibt Jäger einem Kontakt, der als „Mama“ eingespeichert ist: „Heute konnte ich seit langem endlich wieder einen Menschen schlagen“, das sei „richtig befriedigend“ gewesen, aber „Jetzt heim Couch und Bier“. „Ach du Armer“, entgegnet die mutmaßliche Mutter: „Bist du unbefriedigt. Hat er dich auch geschlagen?“ Die Frage wird verneint. „Aber hab mir abartig das Knie gestoßen.. an der Tribüne beim Hinsetzen.. junge junge.“

Aus den polizeiinternen Ermittlungsunterlagen geht hervor, dass Jäger viele Nachrichtenverläufe aus dem Jahr 2017 gelöscht hat. Teils konnten sie rekonstruiert werden. Allerdings ist nicht mehr überall ersichtlich, von welchem Gesprächspartner was geschrieben wurde. Doch auch so offenbaren die Chats, wie Unterhaltungen unter Polizei-Kameraden ablaufen können. Im Dialog unter Staatsdienern bekunden zwei Beamtete ihr Bedürfnis, mal wieder „Kanaken und neger [zu] schlagen“, sie schicken sich Youtube-Links zu Videos von rabiaten Einsätzen, aber klagen dann „gute gewalt ist keine drauf…“. Vielleicht gibt ja das eigene Material mehr her: „Hast du generell noch Zeug von unseren prügelorgien?“

Bei einem Zwischenstandbericht, wie es gerade auf einer Demo am 1. Mai 2019 zugeht, schreibt einer: „Hoffentlich kann ich einem Noch einen Eka auf den Kopf schlagen“, wobei der „Eka“ im Polizeijargon für einen Schlagstock steht. Einmal wird das Einsatzziel im kollegialen Austausch konkret beschrieben mit: „Du sollst in nrw zecken verprügeln.“ Später schreibt ein Beamter über den Einsatz, dass er mit seiner „persönlichen Bilanz“ „äußerst zufrieden“ sei, da er nun neues Pfefferspray brauche. Und: „Einer der evtl gegen meinen Trupp gelaufen ist hat am Schluss über den Lautsprecherwagen jemand Gesucht der ihn mit heimnimmt .. er konnte nicht mehr laufen…..“ In der gleichen Unterhaltung heißt es dann noch: „ich kann nicht mehr über meine Vorfälle schreiben, du weist Handyauswertung“ – wobei es sich der Verfasser nicht nehmen lässt, noch zu betonen, dass sich ein Freiburger Hals-Nasen-Ohren-Arzt morgen über ein paar Neukunden freuen könne.

An anderer Stelle bezeichnet Jäger seinen Gesprächspartner als „Rassist“, was der als Kompliment auffasst und sich bedankt. Jäger bekräftigt daraufhin: „Ich zweifel an der Intelligenz jedes Polizeibeamten der kein rassist ist.“ In einem anderen Chat-Verlauf, der gelöscht worden ist und bei dem nach der Wiederherstellung unklar bleibt, wer von den beiden was gesagt hat, klagt entweder Jäger oder ein Kollege: „Um 02 aufgestanden um einen deutsche Flughafen vor einer eselfickenden Fachkraft zu beschützen.“ Es entspinnt sich eine Unterhaltung, dass angesichts der Zustände im Land eine Enklave irgendwo schon gut wäre, vielleicht unter dem Namen „Nationalsozialistische Republik neu Deutschland“, ein „Land in dem wir gut und gerne leben“, „irgendwo im Dschungel. Da können wir dann auch das Haus von Mutti Merkel suchen und ihr mal was erzählen.“ – „Oder ganz andere Sachen mit ihr machen.“

Anwalt ist schockiert über Gewalttourismus

Bei dem Beamten Jäger werde „eine aus hiesiger Sicht hoch problematische Dienstauffassung erkennbar“, schreibt die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg. Allerdings nicht in einer Anklageschrift, sondern in einem Einstellungsbescheid, der die Ermittlungen für beendet erklärt. So habe es bei der Durchsicht von Jägers Datenbeständen zwar Hinweise gegeben, „dass dieser im Verlaufe der Hamburger Einsätze Gewalt angewendet und Gefallen hieran gefunden hat“. Doch hätten es die Funde nicht ermöglicht, dem Beschuldigten den konkreten Schlag gegen das Bein der Tänzerin „mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen Sicherheit nachzuweisen“.

So reiht sich der Fall ein in die lange Reihe von Ermittlungen gegen die Exekutive, die gescheitert sind. Allein nach dem G20-Gipfel in Hamburg kam es zu 157 Anzeigen gegen Polizist:innen. Trotz etlichen Stunden an Videomaterial, das brutales Vorgehen der Einsatzkräfte dokumentiert, und vielen nachweislich schwer verletzten Demonstrant:innen, gab es bislang nur ein Urteil: Weil der Polizist Klaus M. einen anderen Polizisten im Einsatz leicht am kleinen Finger verletzt hat, wurde gegen ihn eine Verwarnung unter Strafvorbehalt ausgesprochen. Falls er sich binnen eines Jahres noch etwas zuschulden kommen lassen sollte, werden 3.200 Euro Strafe fällig.

Die allermeisten Verfahren wurden indessen endgültig eingestellt, oftmals weil eine Identifizierung der Täter nicht gelang. Bei dem gebrochenen Bein der Tänzerin wäre der Nachweis ein Leichtes gewesen, wenn BFE-Einheiten aus Baden-Württemberg schon damals eine eindeutige Kennzeichnung an der Uniform hätten tragen müssen. Nach über einem Jahrzehnt Debatte hat der Landtag das im Juni 2023 verpflichtend vorgeschrieben – gegen erbitterten Widerstand aus den Polizeigewerkschaften DPolG und GdP. Diese hatten wiederholt von einem „Misstrauensvotum“ und einem „Generalverdacht“ gesprochen, und im Interview mit dem SWR durfte Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der DPolG Baden-Württemberg, unwidersprochen behaupten, „dass wir keinen einzigen Fall haben in Baden-Württemberg, bei dem wir einen Beamten, dem man ein Fehlverhalten, ein vermeintliches Fehlverhalten vorgeworfen hat, nicht identifizieren konnten“.

Dabei sollte es gerade in Baden-Württemberg noch Erinnerungen an den 30. September 2010 geben: Im Stuttgarter Schlossgarten wurden bei einem rechtswidrigen Polizeieinsatz hunderte friedlich Demonstrierende verletzt, ein Rentner mit einem Wasserwerfer bis zur Erblindung beschossen. In der Abschlussbilanz des Justizministeriums von 2013 wird ausgeführt, dass allein in diesem Fall 156 Verfahren gegen unbekannte Polizeibeamte eingestellt worden sind, „weil kein strafbares Verhalten feststellbar war oder kein Beschuldigter identifiziert werden konnte“.

Dass sich Kolleg:innen bei der Polizei nur selten ans Messer liefern, ist indessen altbekannt. Rechtsanwalt Dieter Magsam, der die Geschädigte Lola D. über viele Jahre vertreten hat, ist nicht nur entsetzt über den Gewalttourismus, an dem sich manche behelmte Polizisten offenbar erfreuen. Er geht auch davon aus, dass irgendwann mal irgendwer beim Präsidium Einsatz mitbekommen haben müsste, wie der Beamte Jäger tickt. Der Anwalt wäre der Ansicht, dass solche Polizist:innen dringend aus dem Dienst entfernt werden sollten.

Dass es dazu kommt, ist nicht ausgeschlossen, denn beim baden-württembergischen Präsidium Einsatz werden gegenwärtig disziplinarrechtliche Maßnahmen geprüft. Ein Sprecher erläutert gegenüber der Redaktion, dass die Polizei vor eigenen Schritten zunächst den Ausgang der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen abwarten wollte. Vergangene Woche habe die Hamburger Staatsanwaltschaft nun die Akten überliefert. Wie lange deren Auswertung dauern werde, sei noch nicht absehbar, teilt der Sprecher mit. Insbesondere die Chat-Verläufe werde man sich sehr genau ansehen.