Kleine Politische Ökonomie der Hamas

Viel Geld, aber wenig Wirtschaft

von Justus Cider

(zuerst erschienen in Disposable Times am 15. November 2023)

Im jahr 2005 hat sich Israel aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Im Januar 2006 kam es zu Wahlen, in denen die Hamas die meisten Stimmen bekam. Die Organisation hat in den Folgejahren ihre politische Konkurrenz im Rahmen eines Bürgerkriegs ausgeschaltet. So herrscht die Hamas seit nunmehr fast 20 Jahren alleine im Gazastreifen.

Dabei steht allerdings weder die Verbesserung der Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung (wie es liberale Wirtschaftstheorien stets unterstellen) noch die Durchsetzung einer dauerhaft tragfähigen Kapitalakkumulation (von der marxistische Wirtschaftstheorien ausgehen) im Zentrum des Handelns.

Finanzierungsstrukturen

Stattdessen ist die Politik der zurecht als Terrororganisation eingestuften Gruppierung wesentlich auf das zentrale in der Charta der Hamas benannte Ziel ausgerichtet:

Es geht um die “nächste Runde im Kampf mit den Juden” (Art. 32) und damit gleichsam um den “Kampf mit dem Zionismus” (Art. 14). Dementsprechend sind die Menschen vor Ort im Wesentlichen auf Entwicklungshilfeleistungen aus dem Ausland angewiesen. 

Die Hamas selber finanziert sich derweil durch diverse Spendengelder. Einerseits sammelt die Organisation Spenden in der Kryptowährung Bitcoin, andererseits fließen Gelder aus dem Ölförderländern Iran und Katar an die Organisation. Sie gehört damit zu den vermögendsten Terrororganisationen der Welt.

So führte das US-amerikanische Forbes-Magazin im Jahr 2018 Hamas in einer Liste der reichsten Terrororganisationen der Welt auf Platz drei. Das Vermögen der Gruppierung wird auf knapp 661 Millionen Euro geschätzt. Felix Durach: Finanzmodelle wie die Mafia: So kommt die Hamas an Geld für den Israel-Krieg

Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass Teile der Gelder nicht direkt vor Ort investiert, sondern in ertragreichen globalen Finanzmodellen investiert werden:

Aber nicht jeden Dollar und jeden Euro davon steckt die Hamas in Tunnel, Raketen oder Propagandavideos. Einen Teil der iranischen, katarischen oder privaten Zuwendungen investiert die Terrorgruppe in Wirtschaftszweige, die Profite generieren. Das US-Finanzministerium spricht von einem „globalen Investmentportfolio“, das mehr als 500 Mio. US-Dollar schwer ist. Christian Herrmann: Die Hamas-Führer leben im Luxus – woher stammt das Geld?

Die entsprechenden Begriffe sind nicht neu und wurden unlängst noch einmal bestätigt:

Wie Dokumente belegen, die WELT exklusiv aus westlichen Sicherheitskreisen erhielt, besaß die Hamas Anfang 2018 ein geheimes internationales Investment-Portfolio, das die Organisation selbst mit einem Buchungswert von 338 Millionen Dollar veranschlagte, welches laut Schätzungen aber real über eine halbe Milliarde Dollar wert sein dürfte.
Wie die „WamS“ unter Berufung auf ihr nach eigenen Angaben vorliegende Dokumente sowie Informationen eines früheren Beamten des israelischen Geheimdienstes berichtet, sollen die Top-Leute der Hamas außerhalb des Gazastreifens ein Firmen- und Finanzimperium aufgebaut haben, dessen Wert rund 700 Millionen US-Dollar betragen soll.
Demnach umfasst das geheime Portfolio der Terrororganisation zwischen 30 und 40 Firmen, die vor allem im Bausektor und Immobiliengeschäft tätig sind. Diese von der Hamas kontrollierten Unternehmen säßen in der Türkei, Katar, Algerien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und im Sudan, heißt es in dem Bericht. „Das ist das goldene Sicherheitsnetz für die Führungsriege der Hamas und ihre Familien“, sagt der Finanzermittler. „Kein Cent davon ist in den Gazastreifen geflossen.“
Wie die Zeitung unter Berufung auf weitere Dokumente schreibt, soll die Hamas-Führung Zugriff auf Dutzende Konten bei türkischen Banken wie etwa der Türkiye Finans, Albaraka, Kuveyt Türk, Vakif Katilim und der staatseigenen Bank Ziraat Katilim, welche in Euro und US-Dollar geführt werden, haben. Tagesspiegel: „Kein Cent davon ist nach Gaza geflossen“

Dieser Zusammenhang macht zweierlei deutlich. Einerseits zeigt es, dass sich die palästinensische Volkswirtschaft nicht ohne Ressourcen erhalten kann, die ihr von außen zugeführt werden. Dabei spielt der Hamas die Finanzialisierung der Ökonomie in die Hände. Sie schafft die ökonomischen Instrumente, mit denen sich der Verein reproduzieren kann.

Zum anderen wird bereits an der äußeren Finanzierungssituation deutlich, dass hier eine Trennung zwischen der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Regierung vorgenommen wird. Letztere hat zwar ihre ausführenden Kräfte direkt vor Ort. Ihre Spitze sitzt jedoch lässt sich auf die kärglichen Lebensbedingungen vor Ort gar nicht erst ein. Ismail Hanijah, Khaled Maschal, Saleh al Arouri und andere residieren in Luxushotels im Ausland. Diese Konstellation erinnert eher an multinationale Großkonzerne als an klassische Nationalstaaten.

Den Menschen vor Ort ist diese Diskrepanz durchaus bewusst. Und selbst in der Hamas führt diese absurde Situation immer wieder zu Ummut. So berichtete unlängst die Frankfurter Rundschau:

Ein Kommandant, der sich Abu Mohammed nennt, wies in der Daily Mail darauf hin, dass Haniyeh und andere Anführer im Ausland ein prächtiges Leben führten – während er sich mit Datteln und Olivenöl ernähren müsste und viele seiner Landsleute großes Leid ertragen müsste.Jens Kiffmeier: Perfider Hamas-Plan: Verluste sollen arabische Welt zum Krieg gegen Israel aufstacheln

Die Wirtschaft in Gaza: eine Plünderungsökonomie

Die Hamas ist für die Verwaltung dieses Gebiets verantwortlich. Dies schließt die Bereitstellung von öffentlichen Dienstleistungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sicherheit mit ein. Obwohl Gaza eines der Gebiete mit der weltweit höchsten Pro-Kopf-Entwicklungshilfe ist, gelingt ihr das nicht einmal annähernd. Tatsächlich betonen Hamas-Führer immer wieder, dass sie ihre Aufgabe nicht in der Verwaltung der Region sehen. Das haben die Führungsspitzen der Organisation nach dem Massaker von 7. Oktober noch einmal bekräftigt:

Die hohen Verluste sind offenbar Kalkül. Das Ziel der Hamas sei es nicht, den Gazastreifen zu regieren und diesen etwa mit Wasser, Strom oder Treibstoff zu versorgen. „Es ging nicht darum, die Situation in Gaza zu verbessern. Diese Schlacht dient dazu, die Situation komplett umzuwerfen“, zitierte das US-Blatt den Hamas-Vertreter Taher al-Nunu. Ohne die hohen Opferzahlen hätte man den Status quo nicht erschüttern können, hieß es. Man hoffe nun, dass der „Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt auf unserer Seite steht“, verkündete der Hamas-Vertreter.Jens Kiffmeier: Perfider Hamas-Plan: Verluste sollen arabische Welt zum Krieg gegen Israel aufstacheln

Die palästinensische Selbstverwaltung begann mit dem Rückzug Israels 2005 und den Wahlen 2006, aus denen die Hamas als stärkste Kraft hervorging. Bereits der Umgang mit der von den Israelis zurückgelassenen Infrastruktur macht deutlich, wie wenig sich die terroristischen Kräfte in Gaza um das Wohlergehen der Menschen oder den Aufbau einer wirtschaftlichen Infrastruktur scheren.

Eine US-Stiftung hatte Gelder bereitgestellt, um etliche Gewächshäuser aus den jüdischen Siedlungen in Gaza zu erhalten und nach der Räumung den lokalen Strukturen zu übergeben:

Die ECF übergab die 12,5 Millionen Dollar den Vertretern der Landwirte von Gusch Katif. Das Geld soll in den kommenden Tagen unter den Bauern verteilt werden, nachdem festegestellt wurde, dass sie die Gewächshäuser in gutem Zustand übergeben.
Die Palästinenser können die Gewächshäuser übernehmen, nachdem die jüdischen Siedler aus dem Gebiet evakuiert wurden. Gemüse und Blumen aus dem Sieldungsblock Gusch Katif haben in der Vergangenheit einen wichtigen Bestandteil des israelischen Exports ausgemacht. Die dortige Landwirtschaft gab etwa 3.500 Palästinensern einen Arbeitsplatz. Israelnetz: US-Juden sammeln 14 Millionen Dollar für Gewächshäuser

Militante Kräfte, die offensichtlich der gemäßigten Fatah nahestanden, haben diese Gewächshäuser jedoch kurz nach dem Rückzug der Israelis geplündert. Die größte dieser Plünderungen hat es auch in die Presse geschafft:

Dutzende bewaffnete Palästinenser haben etliche Gewächshäuser aus geräumten jüdischen Siedlungen im Gazastreifen geplündert. Dabei kam es zu Schusswechseln zwischen Militanten und palästinensischen Polizisten, von denen mehrere verwundet wurden. …
Bei der Stürmung der Gewächshäuser, die zur Versorgung Hunderter Palästinenser gedacht waren, entstanden irreparable Schäden. Die bewaffneten Palästinenser durchbrachen mit Bulldozern die eisernen Gewächshausgerüste und drangen in die Anlagen ein. Die Gewächshäuser waren alle bewirtschaftet. Sie enthielten auch Rohrleitungen und Computer, die die Bewässerung regulierten. Israelnetz: Palästinenser wüten in Gewächshäusern

Obwohl die Plünderungen offensichtlich nicht von der zu dieser Zeit bereits regierenden Hamas, sondern von der konkurrierenden, jedoch gemäßigteren Fatah ausgingen, spiegeln sie den Standpunkt der palästinensischen Autoritäten bezüglich der wirtschaftlichen Kapazitäten des Landes wider. Eine potentielle Entwicklung der Region ist nicht im Interesse der herrschenden Rackets. Denn diese würde den Menschen eigenständige Lebensperspektiven geben und die Position der terroristischen Eliten schwächen.

Ganz in diesem Sinne beschreiben die Bewohner:innen der Region die politischen und ökonomischen Strukturen, die von der Regierung etabliert wurden, als klassische Plünderungsökonomie:

Die Grenze zwischen Besteuerung und erpresserischem Raub ist fließend. Umfragen zufolge halten 73 Prozent der Bevölkerung die Hamas für korrupt. Als die Hamas im Jahr 2019 mehrere neue Steuern einführte, gab es unter dem Motto »Wir wollen leben« Proteste von etwa tausend Menschen, die von der Hamas brutal niedergeschlagen wurden. Alex Feuerherdt: Geflüstert in Gaza: Stimmen aus dem Küstenstreifen, wie man sie kaum kennt

“Diese Leute sind wie die Mafia” berichtet eine Palästinenserin von der Situation vor Ort. Die wenigen kleinen Gewerbetreibenden klagen zudem über die hohen Steuern, die ihnen eine Reproduktion ihres Gewerbes selbst auf dem Niveau kleiner Warenproduzent:innen nicht ermöglichen würden:

Als Fischer ist Mohammed in die Fußstapfen seines Vaters getreten, der mehr als dreißig Jahre lang als Fischer zur See gefahren ist. Eine andere Möglichkeit zum Bestreiten seines Lebensunterhalts hat Mohammed nicht gesehen – die Arbeitslosigkeit ist hoch, und irgendwo muss das Geld ja herkommen, mit dem er für die Kosten seines Hauses aufkommen und seiner Familie ein menschenwürdiges Leben finanzieren kann.

Mit seiner Arbeit kommt Mohammed aber kaum über die Runden – und wie viele andere Fischer im Gazastreifen auch, macht er die Hamas für seine schlechte Lage verantwortlich, weil diese die Fischer mit hohen Steuern belastet. Die Hamas gibt der israelischen Blockade die Schuld und argumentiert, dass sie die Steuereinnahmen brauche, um die öffentlichen Dienste zu finanzieren, die sie als herrschende Macht im Gazastreifen organisiere.

Ein Argument, das Mohammed und seine Kollegen nicht gelten lassen. Wenn schon die Last durch die angebliche Blockade so schwer wiege, warum lasse die Hamas sie dann nicht wenigstens mit dem Wenigen auskommen, das sie mit dem Fischfang verdienen können?

Mohammed ist mit seinen Klagen über die Hamas nicht allein. Viele denken wie er, aber öffentlich Kritik zu äußern, ist gefährlich. Davon kann Rahim Bakr ein Lied singen. Auch er stammt aus dem Al-Shati-Flüchtlingslager, auch er ist Fischer. Dass er sich lautstark über die niederdrückenden Belastungen durch die Hamas beschwerte, brachte ihm sogleich einige Zeit in einer Zelle und Verhöre durch den Sicherheitsdienst der Hamas ein. Erst vor kurzem wurde er wieder freigelassen, aber er weiß, dass er wegen seines »verdächtigen« Verhaltens unter Beobachtung steht.

Momentan, so erzählt Mohammed, kann er nicht hinaus aufs Meer fahren. Sein kleines Boot, die Hasakah, ist kaputt gegangen, doch trotz all seiner Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, es selbst zu reparieren. Er braucht dringend Unterstützung, die es ihm ermöglichen würde, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Woher diese kommen soll, weiß Mohammed nicht. Nur eines weiß er: Von der Hamas wird sie nicht kommen. Mohammed Altlooli: Die Klagen der Fischer von Gaza

Dass die Politik der Regierung in erster Linie nicht auf die Verbesserung der lokalen Lebensbedingungen, sondern auf den Krieg gegen das (ökonomisch und militärisch ungleich mächtigere) Nachbarland gerichtet ist, macht die Situation für die Menschen nicht einfacher. Denn da die Hamas statt Hilfsgütern für die Menschen oftmals lieber Waffen und anderes kriegstaugliches Material importiert, hat dieser Nachbarstaat eine Blockade über das kleine Land verhängt. Doch statt durch ihre Politik diese Situation zu verändern, verschärfte die Hamas die Repression nach Innen:

Während die Hamas die Schuld an der israelischen Teilblockade des Gazastreifens trägt, tut sie nicht, um eine Änderung der Lage herbeizuführen, sondern zwingt ihren Bürgern immer weiter Belastungen auf. Zugleich nimmt der Frust der Bevölkerung mit der Herrschaft der Hamas im Allgemeinen und auf deren Politik der Erhebung immer neuer Steuern auf Dutzende von Importgütern zu. So wurde unlängst etwa eine Vorauszahlung auf Stromlieferungen eingeführt, die sich viele nicht leisten können, die in Folge auf Elektrizität verzichten müssen. Mohammed Altlooli: Die Hamas führt Stromzählerkarten in Gaza ein

Es scheint offensichtlich, dass es im Wesentlichen die Hamas und die übrigen terroristischen Rackets in Gaza sind, die einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im Wege stehen. Deshalb müssen sie weg. In diesem Sinne gilt: Free Gaza from Hamas!